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Totaler Frieden in Kolumbien?

Präsident Petros Agenda zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Seit Amtsantritt im August 2022 hat der kolumbianische Präsident Gustavo Petro die Vision des paz total, eines totalen oder vollständigen Friedens, zum Dreh- und Angelpunkt seines Regierungsprojekts und der damit verbundenen Reformagenda gemacht. Die Verhandlungen mit noch bestehenden Guerillaorganisationen und kriminellen Gruppen eröffnen Chancen, stehen aber zugleich vor großen Herausforderungen.

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Historischer Kontext – Der lange Weg zum Frieden

Die Bilanz des jahrzehntelangen internen Konflikts in Kolumbien ist verheerend: Das staatliche Register umfasst mehr als acht Millionen Konfliktopfer, rund 16 Prozent der aktuellen kolumbianischen Bevölkerung. Zwischen 1985 und 2018 wurden im Rahmen des Konflikts zwischen Guerillaorganisationen, Paramilitärs, staatlichen Sicherheitskräften und Drogenbanden laut Untersuchungen der Wahrheitskommission mehr als 450.000 Menschen getötet. Mehr als 7,5 Millionen Menschen wurden Opfer von Vertreibung. Die Wahrheitskommission zählte zudem fast 70.000 vermisste Personen und Tausende Fälle von Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen.

Die Konfliktgeschichte ist geprägt von militärischen Auseinandersetzungen zwischen Staat und nichtstaatlichen Gewaltakteuren sowie von vielfältigen Verhandlungsversuchen. Im Vorfeld der verfassungsgebenden Versammlung von 1991 legten die Guerillagruppe M-19, der auch der heutige Präsident Petro angehörte, die indigene Guerilla Quintin Lame und der Großteil des Ejército Popular de Liberación die Waffen nieder und integrierten sich in den politischen Prozess. Nach jahrelangen Verhandlungen schlossen die kolumbianische Regierung und die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), die größte verbliebene Guerillaorganisation, 2016 ein Friedensabkommen ab, das die erfolgreiche Reintegration von 13.000 Kämpfern ins Zivilleben erlaubte.

Nachdem Gewalt und Opferzahlen zunächst signifikant zurückgingen, gewann der Konflikt in den vergangenen Jahren erneut an Dynamik, da es dem kolumbianischen Staat nicht gelungen ist, das von den FARC hinterlassene Machtvakuum mit eigener Präsenz zu füllen und das staatliche Gewaltmonopol landesweit durchzusetzen. Die letzte noch aktive historische Guerillaorganisation Ejército de Liberación Nacional (ELN), FARC-Dissidenten, der Clan del Golfo und weitere illegale bewaffnete Gruppen kontrollieren ganze Regionen und ringen erbittert um die Einnahmen aus Koka-Anbau, Drogenschmuggel und illegalem Bergbau. Experten sprechen von 35 bis 50 illegalen bewaffneten Gruppen, die im Land aktiv sind. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz registrierte in seinem Bericht über humanitäre Herausforderungen 2023 in Kolumbien sieben nichtstaatliche bewaffnete Konflikte, drei davon beziehen sich auf die Auseinandersetzungen des kolumbianischen Staats mit der ELN, FARC-Dissidenten und dem Clan del Golfo. Die restlichen vier sind Konflikte nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen untereinander.

Die Vorgängerregierung von Präsident Iván Duque (2018 bis 2022) verfolgte unter dem Titel paz con legalidad (Frieden mit Legalität) eine Strategie, die in erster Linie auf geheimdienstliche Aufklärung und Militär- und Polizeioperationen setzte, um die illegalen Gruppen zu bekämpfen und deren führende Köpfe gezielt zu töten. Trotz einiger erfolgreicher Operationen gelang es der Regierung Duque nicht, die Sicherheitslage im Land maßgeblich zu verbessern, da die Strategie zu einer weiteren Fragmentierung der Konfliktlandschaft und zahlreichen Nachfolge- und Revierkämpfen führte, unter denen besonders die ländliche Bevölkerung litt. Petros paz total steht in diametralem Gegensatz zur Politik seines Amtsvorgängers. Statt auf den Einsatz der staatlichen Sicherheitskräfte zu setzen, stehen nun Dialog und Verhandlungsangebote an alle bewaffneten Gruppen im Zentrum der Regierungspolitik. Petro und die Vertreter seines linken Regierungsbündnisses gehen dabei von der Annahme aus, dass die Konfliktursachen vor allem in weiter bestehender Armut, Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit liegen.

Bei Kolumbiens internationalen Partnern stieß dieser Politikwechsel zunächst auf positive Resonanz. Die deutsche Bundesregierung signalisierte volle Unterstützung für die Politik des paz total, bestätigte – unter anderem beim Besuch der deutschen Außenministerin im Juni 2023 in Cali – ihr Engagement für den kolumbianischen Friedensprozess und erklärte sich bereit, als Begleitstaat den Verhandlungsprozess mit der ELN zu unterstützen. Dies schließt die Entsendung von diplomatischen Vertretern zu den Verhandlungsrunden und die Finanzierung der Logistik des Verhandlungsprozesses ein. Bereits vor 25 Jahren war Deutschland unter der Schirmherrschaft der deutschen Bischofskonferenz Schauplatz von Verhandlungen mit der ELN, die später scheiterten. 2015 hatte die Bundesregierung einen Sonderbeauftragten ernannt, um die Beiträge Deutschlands zum kolumbianischen Friedensprozess mit den FARC zu koordinieren. Dieses Mandat ist inzwischen ausgelaufen und wurde nicht erneuert. Während das Friedensabkommen mit den FARC trotz aller Rückschläge und der schleppenden Umsetzung schon allein wegen der erfolgreichen Demobilisierung und Wiedereingliederung von 13.000 Guerillakämpfern als erfolgreich bezeichnet werden kann, sind die Perspektiven des paz total ein Jahr nach dem Regierungswechsel noch unklar. Erfolgreiche Friedensverhandlungen mit der ELN wären aufgrund deren Stärke und historischer Bedeutung ein Meilenstein.

Ende März tötete die ELN in der Grenzregion zu Venezuela bei einem Angriff zehn Soldaten.

 

Verhandlungen mit der ELN – Herausforderungen und Perspektiven

Rechtliche Grundlage der Verhandlungsprozesse ist das Ende 2022 im Kongress verabschiedete Gesetz 2272 zum paz total, das zwei Kategorien bildet. Die erste bezieht sich auf Gruppen, denen aufgrund ihres Charakters ein politischer Status zuerkannt wird. Mit ihnen können, ähnlich wie bei den Friedensverhandlungen mit den FARC, politische Verhandlungen – etwa über die politische Teilhabe sowie Reformen des Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystems – geführt werden. Die zweite Kategorie bezieht sich dagegen auf rein kriminelle Organisationen ohne politischen Charakter, denen nur die Unterwerfung unter die Justiz bleibt. Vertreter dieser zweiten Kategorie können allerdings mit signifikanten Strafnachlässen rechnen, wenn sie umfänglich bei der Aufklärung von Verbrechen kooperieren und mit Informationen zur Auflösung der Organisation und Offenlegung der Drogenschmuggelrouten beitragen. Ein Gesetz, das die entsprechenden Rahmenbedingungen näher definiert, befindet sich derzeit noch im parlamentarischen Prozess.

Die ELN wird von der Regierung Petro als politischer Verhandlungspartner anerkannt. Die 1964 gegründete Guerilla verfügt nach aktuellen Schätzungen über rund 6.000 Mitglieder und ist in 16 Prozent aller Stadt- und Landkreise präsent. Mindestens sieben Regierungen haben seit 1985 Friedensverhandlungen mit der ELN geführt, ohne diese erfolgreich abzuschließen. Die jüngsten Verhandlungen wurden im Januar 2019 von der Regierung Duque abgebrochen, nachdem die ELN mit einer Autobombe ein Attentat in der Polizeiakademie in Bogotá verübt hatte, dem 23 Menschen zum Opfer fielen.

Die Verhandlungen mit der ELN sind mit großen Herausforderungen verbunden. Zum einen ist diese Guerillagruppe im Gegensatz zu den FARC stark dezentral organisiert, zum anderen befinden sich alle nationalen Führungsmitglieder in Kuba oder Venezuela, sodass nicht klar ist, ob Vereinbarungen in den kolumbianischen Regionen verbindlich umgesetzt werden können. Zudem hat die ELN angekündigt, erst dann die Waffen abzugeben, wenn alle Vereinbarungen mit der Regierung – darunter tiefgreifende Staats- und Gesellschaftsreformen – umgesetzt seien. Kritiker sprechen der ELN echte Verhandlungsbereitschaft ab und beschreiben die Organisation in weiten Teilen als Drogenmafia, die ihren politischen Charakter längst verloren habe und die Gespräche mit der Regierung nur nutze, um ihren territorialen Einfluss auszuweiten.

Eine von Präsident Petro Ende 2022 per Twitter voreilig verkündete bilaterale sechsmonatige Waffenruhe mit den fünf wichtigsten bewaffneten Gruppen wurde seitens der ELN umgehend dementiert. Angriffe auf die staatlichen Sicherheitskräfte und Zwangsrekrutierungen wurden fortgesetzt. Ende März tötete die ELN in der Grenzregion zu Venezuela bei einem Angriff zehn Soldaten. Die Regierung entschied, den Verhandlungsprozess dennoch fortzusetzen. Nach ersten Verhandlungsrunden in Venezuela und Mexiko wurde bei der dritten Verhandlungsrunde in Kuba schließlich ein Durchbruch erzielt. Präsident Petro und ELN-Chef Antonio García unterzeichneten am 9. Juni in Havanna die Vereinbarung einer sechsmonatigen landesweiten bilateralen Waffenruhe ab dem 3. August 2023. Diese soll als Grundlage für weitere Verhandlungen unter Beteiligung der Zivilbevölkerung dienen und die humanitäre Lage der Bevölkerung in den besonders betroffenen Konfliktregionen verbessern. Die katholische Kirche und die UN sind an der Verifizierung der Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen beteiligt. Die kommenden Monate müssen zeigen, ob die Waffenruhe von allen ELN-Einheiten in den Regionen eingehalten wird. Zweifel scheinen berechtigt. So ordnete die ELN-Führung die Beendigung aller Offensivaktionen gegen Polizei und Militär ab dem 6. Juli an. Fast gleichzeitig starteten ELN-Einheiten im Kontext des Jahrestags der Gründung der Guerilla am 4. Juli 1964 eine landesweite Terrorwelle mit mehr als 30 Anschlägen auf Angehörige der Polizei und auf die Infrastruktur. Drei Polizisten wurden getötet, mehrere verletzt. Inzwischen wurden Protokolle vereinbart, um den sechsmonatigen Waffenstillstand in den ländlichen Regionen zu verifizieren und gegebenenfalls zu verlängern. Zudem wurde ein Dialogprozess eingeleitet, um die Zivilgesellschaft in die weiteren Verhandlungen einzubeziehen. Auch wenn wichtige Fragen wie Schutzgelderpressung, Entführung und Zwangsrekrutierung durch die ELN noch offenbleiben, hat die Regierung Petro mit der Waffenruhe einen ersten Etappensieg errungen, um dem Projekt des paz total stärkere Legitimität zu verschaffen.

Selbst in der Regierung Petro werden die Erfolgsaussichten eines Dialogprozesses mit dem Clan del Golfo kritisch beurteilt.

 

FARC-Dissidenten und andere bewaffnete Gruppen

Die Dialoge mit den Dissidenten der FARC-Guerilla gestalten sich ebenfalls schwierig. Diese werden in zwei Gruppen unterschieden: Die erste umfasst unter dem Namen Estado Central (EMC) eine Reihe von FARC-Einheiten, die sich dem Friedensvertrag von 2016 verweigerten und in verschiedenen Regionen Kolumbiens weiter aktiv sind. Die zweite Gruppierung, Segunda Marquetalia, wurde von FARC-Kommandanten gegründet, die sich ursprünglich dem Friedensprozess angeschlossen hatten, 2019 aber in den Untergrund abtauchten und erneut zu den Waffen griffen. Beide Organisationen konkurrieren mit der ELN und anderen illegalen Gruppen sowie untereinander um die Kontrolle von Territorium, illegalem Bergbau sowie Drogenanbau und -handel. Nach Schätzungen des Thinktanks Fundación Ideas para la Paz (FIP) verfügen beide Gruppierungen zusammen über 5.000 Mitglieder. Während dem EMC von der Regierung ein politischer Status für die Verhandlungen zuerkannt wird, ist dies für die Segunda Marquetalia noch nicht abschließend geklärt.

Im Mai 2023 wurde bekannt, dass der EMC vier minderjährige Angehörige einer indigenen Gemeinschaft, die nach ihrer Zwangsrekrutierung geflohen waren, aufgespürt und exekutiert hatte. Präsident Petro erklärte daraufhin die Waffenruhe mit dem EMC in vier Regionen für beendet und wies das Militär an, die Operationen gegen diese Gruppe wiederaufzunehmen, ohne den Dialogprozess jedoch zu unterbrechen. Der EMC reagierte umgehend und erklärte mit Blick auf die wichtigen Regional- und Lokalwahlen Ende Oktober 2023, dass Vertreter „traditioneller Parteien“ in den Regionen, die unter seiner „politisch-militärischen Kontrolle“ stünden, nicht willkommen seien. Inzwischen wurde erneut eine Waffenruhe und die Aufnahme offizieller Verhandlungen vereinbart, die im Oktober beginnen sollen. Auch mit der Segunda Marquetalia – hier besteht eine bilaterale Waffenruhe fort – werden unter Führung des Hohen Kommissars für den Frieden, Danilo Rueda, informelle Gespräche geführt, die bislang aber noch nicht zu einem offiziellen Verhandlungsprozess geführt haben.

Im Gegensatz zu den beiden Fraktionen der FARC-Dissidenten ist klar, dass der Clan del Golfo nicht als politische Guerilla anerkannt wird. Diese kriminelle Organisation zählt nach Schätzungen von Experten mehr als 4.000 Mitglieder, verfolgt keine politische Agenda und ist besonders im illegalen Bergbau, im Kokainhandel und in der Schutzgelderpressung aktiv. Eine seit Jahresbeginn bestehende Waffenruhe zwischen dem Clan del Golfo und dem kolumbianischen Militär erklärte Präsident Petro Ende März für beendet, nachdem die Organisation ihre Angriffe auf staatliche Sicherheitskräfte und die Zivilbevölkerung fortgesetzt hatte. Sprecher des Clan del Golfo erklärten in Stellungnahmen zwar wiederholt Verhandlungsbereitschaft, doch selbst in der Regierung Petro werden die Erfolgsaussichten eines Dialogprozesses mit dieser Gruppierung inzwischen kritisch beurteilt. Über den Stand der Gespräche mit weiteren illegalen bewaffneten Gruppen wie den Autodefensas Conquistadores de la Sierra Nevada oder kriminellen Gruppierungen in Medellín, Buenaventura und Quibdó, die eher regionalen oder lokalen Charakter haben, ist wenig bekannt.

 

Frieden ohne Sicherheit?

Ein Jahr nach dem Regierungswechsel ist die Bilanz des paz total gemischt. Eine Analyse der FIP zur allgemeinen Sicherheitslage verdeutlicht das Ausmaß von Gewalt und Unsicherheit im Land: Im ersten Quartal 2023 wurden zwar weniger Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte verletzt (84) oder getötet (21) als im Vergleichszeitraum 2022 (206/27), doch die Tendenz zeigt angesichts der beendeten Waffenruhen wieder nach oben. Die Morde an gesellschaftlichen Führungspersönlichkeiten liegen in den ersten vier Monaten 2023 im Vergleich zum Vorjahr zwar um 30 Prozent niedriger. 51 Morde in diesem Zeitraum bedeuten dennoch den dritthöchsten Wert seit 2016, dem Jahr des Abschlusses des Friedensabkommens mit den FARC. Von illegalen Gruppen verhängte Ausgangssperren nahmen um 32 Prozent zu, während die gewaltsame Vertreibung im Vergleichszeitraum um 9 Prozent leicht zurückging. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen (24) haben im ersten Trimester 2023 zugenommen und ein Dreijahreshoch erreicht. Entführungen sind im ersten Quartal 2023 um 103 Prozent angewachsen, Schutzgelderpressung um 27 Prozent.

Sicherheitsexperten interpretieren diese Zahlen als Beleg dafür, dass die Konfrontationen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und illegalen bewaffneten Gruppen im Zuge der Verhandlungsangebote der Regierung zwar abgenommen haben, dass die kriminellen Organisationen den nachlassenden Verfolgungsdruck und die entsprechenden Freiräume aber dazu nutzen, ihre Kontrolle über Territorium und Bevölkerung zu konsolidieren. Eine Umfrage im April 2023 unter den Interessenvertretern der lokalen Gemeinden, líderes sociales genannt, stellte fest, dass sich das Sicherheitsempfinden dieser besonders gefährdeten Personengruppe deutlich verschlechtert hat. 85 Prozent der Befragten gaben an, sich in der eigenen Umgebung unsicher zu fühlen. 50 Prozent sagten aus, dass die Sicherheitslage im Vergleich zum Vorjahr unverändert sei. 30 Prozent sahen eine Verschlechterung und nur 14 Prozent eine Verbesserung der Sicherheitslage. Lediglich 7 Prozent der Befragten hatten Kenntnis über die laufenden Verhandlungen der Regierung mit den bewaffneten Gruppen. Repräsentative Meinungsumfragen zeigen inzwischen eine zunehmende Skepsis gegenüber der Politik des paz total. Einer aktuellen Umfrage des renommierten Umfrageinstituts Invamer zufolge sind 63 Prozent der Befragten der Ansicht, dass das Regierungsprojekt auf einem schlechten Weg ist, 29 Prozent wähnen es auf einem guten Weg. 24 Prozent geben an, sich aufgrund der Politik des paz total sicherer zu fühlen; 67 Prozent der Befragten fühlen sich dagegen unsicherer.

Die Regierung gerät zunehmend unter Zeitdruck, greifbare Ergebnisse zu liefern.

Diese Zahlen machen zum einen deutlich, dass der radikale Politikwechsel und die großzügigen Dialogangebote an illegale bewaffnete Gruppen unter der Regierung Petro bislang keine signifikante Verbesserung der Sicherheitslage gebracht haben – einige Indikatoren weisen gar eine negative Entwicklung auf. Zum anderen zeigt die negative Wahrnehmung der Sicherheitslage und des Projekts paz total sowohl bei den besonders bedrohten líderes sociales als auch in der Gesamtbevölkerung, dass die Regierung Petro zunehmend unter Zeitdruck gerät, greifbare Ergebnisse zu liefern.

Da Ende Oktober 2023 die wichtigen Regional- und Lokalwahlen anstehen, gehen Beobachter von einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage aus. Erfahrungsgemäß nimmt die politische Gewalt im Vorfeld von Wahlen zu, da kriminelle Akteure versuchen, ihre territoriale und soziale Kontrolle in lokale politische Macht umzumünzen und staatliche Entscheidungsstrukturen in ihrem Einflussbereich zu kooptieren. Drohungen und Anschläge gegen politische Akteure und Kandidaten, die sich den illegalen Gruppen widersetzen oder nicht kooperieren, sind an der Tagesordnung. Die lokale Wahlbeobachtungsinitiative Misión Observación Electoral weist in ihrem dritten Vorwahlbericht darauf hin, dass Gewaltaktionen gegen politische und gesellschaftliche Führungspersonen von Ende Oktober 2022 bis Ende April 2023 gegenüber dem Vergleichszeitraum vor den vorangegangenen Lokalwahlen 2019 um 88 Prozent zugenommen haben. Seit Gründung der Organisation 2006 habe man ein solch hohes Niveau an Gewalt im Vorfeld von Wahlen noch nicht festgestellt, so der Bericht.

 

Improvisation als Strategie

Die Zeitschrift The Economist stellte Präsident Petro im April 2023 ein kritisches Zwischenzeugnis aus. Das Projekt des „totalen Friedens“ ähnele mehr einem Slogan als einem erreichbaren Ziel, so die Kritik. Die von Petro zum Jahresende verkündete bilaterale Waffenruhe mit den wichtigsten illegalen bewaffneten Gruppen sei voreilig und nicht abgestimmt gewesen. Den von der Regierung gemeldeten Verhandlungsfortschritten steht eine zunehmend prekäre Sicherheitslage gegenüber. Kritiker werfen der Regierung daher Naivität und Gutgläubigkeit vor. Die Waffenruhen mit diversen Gewaltakteuren seien de facto nicht bilateral, sondern ein unilaterales Entgegenkommen des kolumbianischen Staates, das die Gruppen genutzt hätten, um ihre territoriale und soziale Kontrolle auszuweiten. Dies habe zwar zu einer Reduzierung der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppen geführt. Gleichzeitig hätten aber die Konfrontationen dieser Gruppen untereinander zugenommen – mit teils dramatischen Folgen für die Bevölkerung in den betroffenen Regionen. Experten weisen zudem darauf hin, dass bilaterale Waffenruhen zwischen Staat und einzelnen Gruppen nicht notwendigerweise die Sicherheitslage verbessern. Eine illegale Organisation, die eine Feuerpause mit dem Militär vereinbart, bleibt weiterhin Angriffen durch andere Gruppen ausgesetzt, sodass die Bedrohung der Zivilbevölkerung durch Revierkämpfe fortbesteht. Multilaterale Feuerpausen in einer komplexen Konfliktregion setzen jedoch voraus, dass die einzelnen Gewaltakteure systematisch erfasst und lokalisiert werden können, um eine stabile Waffenruhe zu garantieren.

Experten warnen vor dem Erstarken von Selbstverteidigungsgruppen.

Eduardo Pizarro Leongómez, Bruder des ehemaligen Kommandanten der M-19-Guerilla und 1990 ermordeten Präsidentschaftskandidaten Carlos Pizarro, gilt als einer der renommiertesten Kenner der langen Konfliktgeschichte Kolumbiens. In einem Interview warf er der Regierung vor, keinen strukturierten Plan für das Projekt des paz total zu haben, sondern ein Modell der Improvisation zu verfolgen, das zum Scheitern verurteilt sei, wenn nicht zeitnah nachgebessert werde. Pizarro kritisierte unter anderem die Zurückhaltung und Demotivation in militärischen Führungskreisen. Der Austausch von mehr als 50 Generälen in Militär und Polizei nach dem Regierungswechsel habe zu einem massiven Erfahrungsverlust und zu Verunsicherung bei den staatlichen Sicherheitskräften geführt. Die parallelen Verhandlungsprozesse würden das Militär in den Konfliktregionen zudem vor ein Dilemma stellen, da man bei Kontakten mit bewaffneten Gruppen nicht wisse, ob diese nun Teil einer vereinbarten Feuerpause seien oder nicht. Eine Konfrontation mit einer Gruppe, die am Verhandlungstisch sitzt, könnte die militärische Karriere der Befehlshabenden gefährden. Vor diesem Hintergrund verlasse das Militär kaum noch die Stützpunkte, was den bewaffneten Gruppen neue Freiräume schaffe. Im Frühjahr 2023 kam es zu einer Rücktrittswelle hoher Offiziere der Streitkräfte, offenbar wegen fehlender Perspektiven sowie Frustration über die sicherheitspolitische Entwicklung und den sinkenden gesellschaftlichen Stellenwert von Militärangehörigen. Wiederholt hatte Präsident Petro, ehemaliger M-19-Guerillero, sein tiefes Misstrauen und seine Missachtung gegenüber dem militärischen Führungspersonal zum Ausdruck gebracht. Zum Verteidigungsminister machte er Iván Velásquez, einen renommierten Antikorruptionskämpfer, dem allerdings sicherheits- und verteidigungspolitische Erfahrung fehlte. Sicherheitsexperten fordern eine stärkere Rolle der staatlichen Sicherheitskräfte im paz total, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, das staatliche Gewaltmonopol in den Regionen durchzusetzen und Verhandlungen mit illegalen Gruppen aus einer Position der Stärke heraus zu führen.

Das Flaggschiffprojekt der Regierung Petro ist mehr politische Vision als erreichbares Regierungsziel.

Eine Expertengruppe, bestehend aus ehemaligen Ministern, Chefunterhändlern und Akademikern, veröffentlichte im Mai ein „Manifest für den totalen Frieden“, in dem sie zwölf Vorschläge formuliert, um die Wirksamkeit des Regierungsprojekts paz total zu verbessern. In dem Papier warnt sie vor den Risiken neuer paramilitärischer Gruppen, die für sich in Anspruch nehmen, als Selbstverteidigungskräfte die Rechte von indigenen, afrokolumbianischen oder kleinbäuerlichen Gemeinschaften zu schützen. Diese guardias indígenas, cimarronas oder campesinas haben in Kolumbien angesichts der fehlenden staatlichen Präsenz in Teilen des Territoriums eine lange Tradition. Allerdings gibt es auch klare Hinweise dafür, dass Teile dieser Organisationen von kriminellen Kräften unterwandert werden. So kam es Anfang März in der Region Caquetá bei Protesten der örtlichen Bevölkerung wegen durch ein Erdölunternehmen verursachter Umweltschäden zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen lokalen guardias indígenas und campesinas sowie Polizeikräften, wobei ein Polizist und ein Protestteilnehmer getötet wurden. 79 Polizisten wurden von den lokalen Gruppen einen Tag lang festgehalten und bedroht. Während die Regierung den Vorfall als „humanitäre Einkreisung“ herunterspielte, sprachen Kritiker von einer „Entführung“ und warfen der Regierung vor, die Polizisten im Stich gelassen zu haben. Sicherheitskreise vermuteten die FARC-Dissidenten des EMC hinter den Attacken auf das Firmengelände und der Entführung. Dieser Verdacht schien sich zu bestätigen, als wenige Wochen später in derselben Region der EMC-Kommandant Iván Mordisco eine öffentliche Versammlung abhielt, in der er den Beginn des Verhandlungsprozesses mit der Regierung verkündete. Unter den rund 7.000 Teilnehmern befanden sich zahlreiche Vertreter der guardia campesina, die an der Entführung der Polizisten beteiligt war. Die erwähnte Expertengruppe warnt vor dem Erstarken dieser Selbstverteidigungsgruppen und betont, dass der Schutz der Rechte aller Kolumbianer exklusive Aufgabe der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz sei.

Analysten, die zur kolumbianischen Konfliktgeschichte und den Strukturen des organisierten Verbrechens forschen, weisen zudem darauf hin, dass die enormen wirtschaftlichen Anreize des illegalen Bergbaus und des Kokainhandels wichtige Konfliktreiber seien. Das im parlamentarischen Prozess befindliche Gesetz zur „Unterwerfung unter die Justiz“ dürfe nicht dazu führen, dass die führenden Köpfe der illegalen Gruppen sich nach dem Absitzen von stark reduzierten Strafen mit ihren illegal erworbenen Vermögen legal zur Ruhe setzen, nur um von einer neuen Verbrechergeneration ersetzt zu werden. Die aktuelle Strategie der Suche nach Verhandlungslösungen müsse durch Instrumente ergänzt werden, durch die die Geschäftsmodelle dieser illegalen Ökonomien wirksam bekämpft würden.

 

Perspektiven – Zwischen Utopie und Wirklichkeit

Das Flaggschiffprojekt der Regierung Petro – die Schaffung eines „totalen Friedens“ – ist mehr eine politische Vision als ein konkretes, in vier Jahren erreichbares Regierungsziel. Der Paradigmenwechsel von einer Politik, die einseitig auf polizeiliche und militärische Maßnahmen setzte, hin zu einer Strategie, die Dialog und Verhandlungslösungen priorisiert, wurde von der internationalen Gemeinschaft sowie der deutschen und europäischen Politik begrüßt. Ein Jahr nach Amtsantritt der Regierung Petro treten aber auch die Grenzen und Herausforderungen der Politik des paz total immer deutlicher hervor. Mit der Vereinbarung einer sechsmonatigen Waffenruhe mit der ELN wurde zwar ein wichtiges Etappenziel erreicht, allerdings steht die konkrete Umsetzung in den Regionen noch aus. Auch wenn die sichtbarsten Konfliktindikatoren – Mordanschläge auf die líderes sociales sowie Todesopfer im Rahmen von Kampfhandlungen – zurückgehen, bleibt die lokale Bevölkerung der Willkür illegaler Gruppen ausgeliefert, die territoriale und gesellschaftliche Kontrolle ausüben. Schutzgelderpressung, Ausgangssperren, Bedrohung und Zwangsrekrutierungen sind wichtige Phänomene, die beobachtet und in die Bewertung des paz total einfließen müssen. Ein Gradmesser ist zudem die Entwicklung der Sicherheitslage im Kontext der Lokal- und Regionalwahlen Ende Oktober 2023.

Die deutsche und europäische Außen- und Entwicklungspolitik sollte den Friedensprozess in Kolumbien weiter kritisch und konstruktiv begleiten. Der Schwerpunkt sollte dabei weiter auf der Umsetzung des Friedensabkommens mit den FARC liegen, das durch das politische Narrativ des paz total zusehends in den Hintergrund gerät. Die unter diesem Abkommen zu fördernden 170 Sonderentwicklungszonen (Programas de Desarrollo con Enfoque Territorial), die immerhin 36 Prozent des nationalen Territoriums und 24 Prozent der ländlichen Bevölkerung Kolumbiens betreffen, dürfen genauso wenig vernachlässigt werden wie die Programme zum Ausstieg aus dem Koka-Anbau oder zur Landverteilung. So hatte Präsident Petro bei Regierungsantritt angekündigt, drei Millionen Hektar Land anzukaufen, um es an landlose Kleinbauern zu verteilen. Tatsächlich kaufte die Regierung in den ersten zehn Monaten ihrer Amtszeit lediglich 12.000 Hektar.

Auch wenn der paz total mehr als Vision denn als konkrete Zielvorgabe zu verstehen ist, klaffen Anspruch und Wirklichkeit derzeit weit auseinander. Jenseits von politischen Narrativen sollten die Entscheidungsträger deutscher Außen- und Entwicklungspolitik künftige Unterstützungsleistungen daher verstärkt an der Realität und messbaren Resultaten ausrichten. Als globaler Partner der NATO und Mitglied der OECD ist Kolumbien – mit Blick auf Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft, Fläche und Ressourcenreichtum eines der wichtigsten Länder Lateinamerikas – ein bedeutender Werte- und Zukunftspartner, dessen Sicherheit, Stabilität und Entwicklung im Interesse deutscher Außenpolitik liegen.

 


 

Stefan Reith ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kolumbien.


 

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