Ausgabe: 3/2023
Entwicklungszusammenarbeit im rechtlichen Bereich
Brunnen bauen, Schulen renovieren, Lebensmittelversorgung sicherstellen – das sind die häufigsten Assoziationen zum inzwischen überkommenen Begriff „Entwicklungshilfe“. Tatsächlich ist die heute als „Entwicklungszusammenarbeit“ bezeichnete Tätigkeit viel facettenreicher und geht über die technische Zusammenarbeit hinaus. Ein quantitativ eher kleiner, aber sehr wichtiger Bereich ist die Rechtsstaatsförderung. Deutschland betreibt diese Art von Entwicklungszusammenarbeit seit Jahrzehnten, zwischen 2007 und 2021 belief sich die Fördersumme auf immerhin 1,44 Milliarden Euro von insgesamt 206 Milliarden an Entwicklungsgeldern.
Die deutsche Rechtsstaatsförderung
Die Rechtsstaatsförderung hat in den vergangenen drei Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen und erfolgt inzwischen nicht nur in Verbindung mit anderen Entwicklungsprojekten, sondern oft parallel oder ganz unabhängig von ihnen, mit eigenen Zielen und Mitteln.
Deutsche Entwicklung: Vom Empfänger zum Geber
Während die klassische deutsche Entwicklungshilfe zu Beginn der 1960er-Jahre ihren Anfang nahm, hat sich die Rechtsstaatsförderung als ein relevanter und zunehmend selbstständiger Bereich erst in den 1990er-Jahren etabliert. Zuvor, insbesondere in den Nachkriegsjahren, war die Bundesrepublik in gewisser Hinsicht selbst Empfängerin von Entwicklungshilfe im Bereich der Rechtsstaatlichkeit: Bereits an der Erarbeitung des Grundgesetzes waren die westlichen Alliierten beteiligt, auch der Aufbau der rechtsstaatlichen Strukturen in der Verwaltung erfolgte unter ihrem Einfluss. Gerade die Überwindung des NS-Unrechtsstaats in Deutschland hat das Land zu einem glaubwürdigen Akteur im Bereich der Rechtsstaatsarbeit gemacht: Am Beispiel der Bundesrepublik wurde sichtbar, dass die Entwicklung eines funktionierenden, rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten und im Alltag funktionierenden Systems möglich ist. Bestätigt wurde dies erneut in den 1990er-Jahren mit der erfolgreichen rechtlichen Integration der DDR.
Definition und Ziele der Rechtsstaatsförderung
Es existiert keine allgemeingültige Definition des Begriffs „Rechtsstaatlichkeit“, weshalb es auch keine generelle Begriffsbestimmung der „Rechtsstaatsförderung“ gibt. Die Bundesregierung hat für den Bereich der deutschen Rechtsstaatsförderung deshalb in ihrer 2019 (erstmals) verabschiedeten „Ressortgemeinsame(n) Strategie zur Rechtsstaatsförderung“ selbst eine Definition festgelegt, um ihre Arbeit daran ausrichten zu können. Dabei handelt es sich um eine Synthese aus dem von den Vereinten Nationen definierten Begriff von „Rule of Law“ und dem durch deutsche Rechts- und Verfassungstradition geprägten „spezifische(n) Verständnis von Rechtsstaatlichkeit“. Diesem Verständnis liegt die „Begrenzung und Bindung staatlicher Herrschaftsgewalt im Interesse der Sicherung individueller Freiheit und materieller Gerechtigkeit, insbesondere durch die Anerkennung der Grundrechte, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des effektiven Individualrechtsschutzes durch unabhängige Gerichte“ zugrunde.
Die Ziele der Rechtsstaatsförderung sind vielfältig und die Bundesregierung betrachtet die Rechtsstaatsförderung als ein „zentrales Instrument (…) im Bereich Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung“. Als politische Zielbestimmungen gelten neben der „Herstellung und Förderung von Rechtsstaatlichkeit im engeren Sinne“ unter anderem die Förderung der „Korruptionsbekämpfung“, der „Menschenrechte“ und des „humanitäre(n) Völkerrecht(s)“ sowie die „Demokratieförderung“. Die operativen Ziele sind beispielsweise „Aufbau und Verbesserung von Strukturen und Verfahren staatlicher Institutionen“, „Unterstützung von Rechtsreformen“ und „Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz“.
Neben der Förderung der rechtsstaatlichen Ideale und Werte geht es bei der Rechtsstaatsarbeit aber natürlich auch um andere Interessen. Durch die Förderung rechtsstaatlicher Strukturen soll ein Rahmen für eine besser funktionierende Wirtschaft geschaffen werden. Investitionen deutscher Unternehmen sollen damit sicherer und einfacher werden. Die wirtschaftliche Entwicklung kann wiederum einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten. Durch funktionierende Justiz und Verwaltung soll ferner die Sicherheit in vielen Lebensbereichen verbessert werden. Damit kann die Rechtsstaatsförderung der Reduktion von Flucht- und Migrationsursachen und der Klima- und Umweltpolitik dienen.
Formen der Rechtsstaatsförderung
In der Praxis hat die Rechtsstaatsarbeit viele verschiedene Formen. Die deutsche Rechtsstaatsförderung kann grob in drei Bereiche unterteilt werden, die sich sowohl hinsichtlich der (bereits genannten) Ziele als auch in den Methoden und Mitteln unterscheiden.
Auf der Makroebene versucht Deutschland, durch Diplomatie andere Länder zur Einführung, Beachtung und Umsetzung rechtsstaatlicher Standards vor Ort zu bewegen. In der Regel erfolgt dies durch Überzeugungsarbeit, Gewährung wirtschaftlicher oder anderer Vorteile oder durch politische Unterstützung. Die Bemühungen münden idealerweise im Abschluss internationaler Verträge. Federführend ist in diesem Bereich das Auswärtige Amt (AA). Die genauen Verpflichtungen und ihre Reichweite werden zwischen den Vertragspartnern ausgehandelt und sind für beide Seiten verbindlich. Auf derselben Ebene ist die Mitarbeit Deutschlands bei internationalen Organisationen und völkerrechtlichen Verträgen angesiedelt, die meist in der Finanzierung bestimmter Projekte der Institutionen wie beispielsweise der UN besteht. Mit dieser Art von Rechtsstaatsförderung erfüllt Deutschland seine internationalen vertraglichen Verpflichtungen.
Auf der Mikroebene finden zum einen die früher als „technische Zusammenarbeit“ bezeichneten Maßnahmen statt, die sich inzwischen viel facettenreicher darstellen als zu Beginn der Rechtsstaatsförderung. Der sowohl finanziell als auch quantitativ größte Anteil der Projekte im Bereich der technischen rechtlichen Entwicklungszusammenarbeit wird von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) durchgeführt. Die GIZ hat vor allem die Schaffung und Stärkung der technischen Voraussetzungen für die Rechtsstaatlichkeit in den Partnerländern im Blick. Hierzu zählen beispielsweise Ausstattung der Justizinstitutionen, Fortbildung von Mitarbeitern oder Beratung bei Gesetzesvorhaben und deren Implementierung. In den vergangenen Jahren haben die Projekte der GIZ zunehmend den technischen Bereich verlassen, was aufgrund der verschiedenen Aufgaben des BMZ, des AA und des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) nicht unumstritten ist.
Quantitativ deutlich geringer als das BMZ, aber mit einem wichtigen Beitrag ist das BMJ aktiv. Neben den bilateralen Kooperationen mit Justizministerien anderer Staaten (unter anderem: Rechtsstaatsdialog der Bundesregierung mit China oder Vietnam) ist das BMJ durch die 1992 eigens dafür gegründete Deutsche Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit (IRZ) tätig.
Zum anderen gibt es den Bereich der nichttechnischen Zusammenarbeit. Hierhin gehören beispielsweise die politischen Stiftungen, die als unabhängige Akteure Projekte zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit in ihren Einsatzländern durchführen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der rechtspolitischen (etwa Austausch zwischen deutschen und ausländischen politischen Mandatsträgern) und zivilgesellschaftlichen Ebene. Anders als die GIZ oder die IRZ sind die politischen Stiftungen keine Durchführungsorganisationen. Sie gestalten ihre Arbeit unabhängig und selbstständig im Rahmen der mit den Zuwendungsgebern (BMZ und AA) vereinbarten Ziele.
In den nichttechnischen Bereich fallen auch wissenschaftliche Kooperationen und Austausche, etwa durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), sowie einige kleinere Institutionen oder Forschungseinrichtungen, die insbesondere regional oder länderspezifisch tätig sind und punktuell arbeiten. Von den nichtstaatlichen Organisationen kann als eine von vielen die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) erwähnt werden, die mit Rechtsanwaltskammern im Ausland kooperiert. Beispiel für eine privatrechtlich organisierte Forschungseinrichtung ist das Institut für Ostrecht (IOR) in Regensburg mit seinen Kooperationspartnern in Osteuropa.
Wirksamkeit der Rechtsstaatsarbeit im Westlichen Balkan
Mit der zunehmenden europäischen Integration in den vergangenen Jahrzehnten hat sich die nationalstaatlich betriebene Rechtsstaatsförderung durch EU-Staaten deutlich reduziert. In Europa wurden seit der Jahrtausendwende die meisten Vorhaben der Mitgliedstaaten nach und nach in die Entwicklungsarbeit der EU eingebettet oder mit dieser koordiniert. So ist auch der größte Geber der Westbalkan-Region (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien) die EU, welche die Finanzhilfen hauptsächlich über das Instrument für Heranführungshilfe gewährt. Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit beliefen sich die Mittelzuweisungen der EU für den Westlichen Balkan im Zeitraum von 2014 bis 2020 auf 700 Millionen Euro, was rund 16 Prozent der gesamten bilateralen Hilfe der EU ausmacht. Deutschland hat auf dem Westbalkan zum Beispiel im Jahr 2021 immerhin 7,86 Millionen Euro für den Bereich Recht und Justiz sowie 2,1 Millionen Euro für den Bereich Menschenrechte eingesetzt.
Die Rechtsstaatsförderung ist ein komplexes Feld,in dem die Erfolge teilweise nur schwer messbar sind. Das liegt unter anderem daran, dass die Auswirkungen von Reformen oder Projekten auf breiterer (gesellschaftlicher) Ebene – der sogenannte Impact – erst mit einer manchmal erheblichen Verzögerung eintreten. Ferner ist es oft schwierig, eine Kausalität zwischen einer bestimmten Maßnahme und dem Erfolg festzustellen. Während das Ergebnis auf der Output-Ebene (messbare Aktivität oder Leistung) beispielsweise bei der Einrichtung einer juristischen Datenbank, Veröffentlichung einer Publikation oder Durchführung einer Fortbildung sofort sichtbar ist, können die konkreten Wirkungen nur schwer ermittelt werden. Die Messung des Outcome (Auswirkung auf die Zielgruppe) mag dabei noch gelingen, doch der Impact lässt sich oft nur abschätzen.
Dennoch ist es möglich, über längere Zeiträume die Effektivität der Rechtsstaatsarbeit zu beurteilen. Im Januar 2022 veröffentlichte der Europäische Rechnungshof einen Sonderbericht zur Wirksamkeit der EU-Unterstützung im Bereich der Rechtsstaatlichkeit im Westbalkan. Analysiert wurden insgesamt 20 Projekte aus dem Zeitraum von 2014 bis 2020 mit dem Fokus auf Rechts- und Justizwesen, Korruptionsbekämpfung und Menschenrechte. Zusammengefasst kam der Rechnungshof zu dem Schluss, dass die von der EU geförderten und durchgeführten Maßnahmen zwar Reformen im technischen und operativen Bereich bewirkt haben. Allerdings hatten die Maßnahmen insgesamt nur geringe Wirkung mit Blick auf grundlegende Verbesserungen der Rechtsstaatlichkeit. Insbesondere sei zu wenig unternommen worden, um schwache Verwaltungskapazitäten auszubauen oder den politischen Willen zu stärken. Problematisch sei, dass die Finanzierung und Umsetzung von Projekten „nicht immer“ von der Erfüllung von Auflagen abhängig gemacht würden (sogenannte Konditionalität). Darüber hinaus sei die Unterstützung der EU für die Zivilgesellschaft nicht genug an deren Bedürfnissen ausgerichtet und erschöpfe sich vorwiegend in kurzfristigen Projekten. Die Befunde des Europäischen Rechnungshofs sind für den vorliegenden Beitrag dadurch besonders relevant, dass einige Projekte durch deutsche Durchführungsorganisationen implementiert wurden. Indirekt ist seine Bewertung also auch eine Bewertung der deutschen Rechtsstaatsförderung im Westbalkan.
Zwei Beispiele der Rechtsstaatsförderung im Westlichen Balkan
Für diesen Beitrag wurden zwei Praxisbeispiele aus Serbien und Albanien ausgewählt, weil sie für die (technische) Rechtsstaatsförderung typisch sind: Es geht um Beratungstätigkeit bei der Einführung neuer Rechtsinstitute und bei der Formulierung entsprechender Rechtsgrundlagen, um Kapazitätsbildung sowie die Unterstützung bei der Umsetzung der Reformen. Thematisch geht es vor allem um Reformen im Bereich der Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie um Korruptionsbekämpfung – zwei Felder, die im Zentrum vieler Rechtsstaatsvorhaben stehen. Es wurden bewusst zwei Beispiele ausgewählt, die nicht einfach nur eine Erfolgsgeschichte darstellen (von denen es viele gibt), sondern solche, die auch die Möglichkeit für eine kritische Betrachtung bieten, aus der Lehren gezogen werden können. Beide Projekte wurden von deutschen Entwicklungsorganisationen durchgeführt.
Beispiel Serbien: Einführung des öffentlichen Notariats
In Serbien wurden im Rahmen des im Jahr 2007 erstmals eingeführten „Instruments für Heranführungshilfe“ an die EU (Instrument for Pre-accession Assistance) die Vorbereitung und Durchführung von Justizreformen gefördert. Verschiedene Maßnahmen dienten der Umsetzung des Aktionsplans gemäß Verhandlungskapitel 23 zum Erreichen des Besitzstands der EU (Acquis Communautaire) und damit dem Ziel, den Aufbau einer unabhängigen, rechenschaftspflichtigen und effizienten Justiz zu unterstützen. Im Rahmen des Projekts „Beratung bei der Rechtsreform“ mit einem Finanzierungsvolumen von 7,1 Millionen Euro waren zwei deutsche Entwicklungsorganisationen von Januar 2011 bis Mai 2017 hieran beteiligt.
Eine bedeutende Rolle im Hinblick auf die Steigerung der Effizienz der Gerichte spielte in Serbien wie in den meisten Staaten Südosteuropas die Reform des Notariats. Notare leisten durch ihre beratende Tätigkeit einen wichtigen Beitrag zur Vermeidung künftiger Rechtsstreitigkeiten und damit zur Entlastung der Gerichte. In Serbien wurde ein großes Bedürfnis nach derartiger vorsorgender Rechtspflege und qualifizierter Beratung festgestellt, insbesondere beim Grundeigentum. Im Mittelpunkt des Projekts stand daher die Beratung der serbischen Partner bei der Einführung eines öffentlichen Notariats. Beteiligt waren neben den beiden deutschen Entwicklungsorganisationen auch Fachexperten des Deutschen Notarvereins und der Bundesnotarkammer.Einige Vorarbeiten waren bereits im Rahmen einer bilateralen Kooperation ab 2001 getätigt worden.
Im Laufe des Projekts traten einige praktische Schwierigkeiten auf, die die Umsetzung verzögerten. Zu klären waren beispielsweise der Zugang der bestehenden juristischen Berufe zum Notariat und die Entwicklung von Zulassungsvoraussetzungen. Auch musste ein Bewusstsein für die Rolle und Aufgaben des Notariats in der Fachwelt und der Bevölkerung geschaffen werden. Die Diskussion um die Festlegung der Gebühren wurde zu einem Politikum. Da zudem eine Reihe von Rechtsgeschäften in die ausschließliche Zuständigkeit der Notare fallen sollte, befürchtete die Anwaltschaft einen Verlust an Umsatz und Ansehen. Es formierte sich erheblicher Widerstand gegen das Ende 2014 verabschiedete Gesetz. Die Anwaltschaft, die schon wegen der für sie nachteiligen Änderungen im Steuerrecht streikte, forderte nun zusätzlich die Streichung der entsprechenden Vorschriften im Notariatsgesetz. Sie organisierte eine mehrmonatige Blockade der Rechtspflege, weshalb mehr als 200.000 Gerichtstermine vertagt werden mussten. Schon Anfang 2015 wurde die ausschließliche Zuständigkeit der Notare für Grundstücksgeschäfte und bestimmte Verträge wegen der Proteste wieder aus dem Gesetz gestrichen. Damit wurden die durch die Einführung des Notariats beabsichtigten Vorteile zum Teil nivelliert.
Die Gründe für die lange Projektdauer sind unterschiedlich und liegen teilweise außerhalb des Einflussbereichs der externen Akteure. Dazu gehören unter anderem sich verändernde Prioritäten der serbischen Regierungen zwischen 2001 und 2014: Während in der Anfangsphase große Bereitschaft zur Reform vorhanden war, ließ die Motivation im Laufe der Jahre nach und die Schwerpunktsetzung hatte sich nicht zuletzt wegen des Kosovokonflikts (Unabhängigkeitserklärung am 17. Februar 2008) verschoben. Ab 2011 und insbesondere nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2012 wurde das Reformvorhaben wieder intensiver verfolgt.
Es ist aber auch erkennbar, dass die Erwartungen der beratenden Seite nicht immer realistisch waren und dass „im Rahmen der Rechtstransformation manche Dinge wesentlich anders ‚laufen‘ können, als man es aufgrund der objektiven Umstände eigentlich erwarten würde“. Viele der Stolpersteine lassen sich auf Fehlbeurteilung oder Nichtberücksichtigung bestimmter Umstände zurückführen. Beispielsweise war bekannt, dass die Reform mit Nachteilen für die Anwaltschaft verbunden war. Deshalb hätte auch ohne vertiefte Landeskenntnisse antizipiert werden können, dass sie auf den Widerstand der Anwaltschaft stoßen würde. Und schließlich hätte eine gründliche Analyse der institutionellen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen (insbesondere verschiedener Erscheinungsformen von Korruption) zu der Erkenntnis führen müssen, dass etwa die Festlegung der Zulassungskriterien für das Notariat und der Gebühren große Herausforderungen darstellen und auf Ablehnung treffen würden.
Es lässt sich dennoch festhalten, dass Serbien dank dieser Reformen nun ein funktionsfähiges Notariat hat. Das ist trotz der Aufweichung der ursprünglichen Regelungen ein Erfolg. Aus den Erfahrungen auf dem Weg zu dieser Reform kann die deutsche Rechtsstaatsförderung für andere Projekte lernen, dass eine grundlegende Bedarfserhebung und vertiefte Analyse nicht nur hinsichtlich der rechtlichen, sondern auch der gesellschaftlichen Ausgangslage notwendig ist.
Beispiel Albanien: Justizreformen
Von September 2014 bis März 2018 und von April 2018 bis Ende Dezember 2021 wurden in Albanien die EU-geförderten Projekte EURALIUS IV und V zur Unterstützung und Begleitung der dortigen Justizreform durchgeführt. Die Umsetzung wurde auch hier einer deutschen Entwicklungsorganisation übertragen. Ein Kernelement des Projekts war die Erarbeitung des Gesetzes zur Überprüfung der Richterschaft und der Staatsanwaltschaft (Vetting-Gesetz). Ziele waren unter anderem die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, die Steigerung ihrer Effizienz, ein verbesserter Zugang zur Justiz sowie Korruptionsbekämpfung.
Die EU-Kommission hat Albanien in ihren Berichten Fortschritte bei der Implementierung der Justizreform im Bereich des Vetting-Verfahrens attestiert: Bis zum September 2022 konnten 554 erstinstanzliche Überprüfungsverfahren abgeschlossen werden, wobei es in 64 Prozent der Fälle zu Entlassungen oder Rücktritten von Richtern und Staatsanwälten kam. Das Vetting-Verfahren führte zu zahlreichen Entlassungen nicht nur an Gerichten unterer Instanzen, sondern auch zu Amtsenthebungen von Richtern des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichts. Einige Richter hatten zudem ihr Amt vor der Überprüfung bereits aus eigener Initiative niedergelegt. So blieben bald nach Beginn des Vetting-Verfahrens nur eine der neun Richterstellen beim Verfassungsgericht und vier von 17 Stellen am Obersten Gericht besetzt. Dies führte dazu, dass an beiden Gerichten mehr als zwei Jahre lang keine Entscheidungen getroffen werden konnten. Allein beim Obersten Gericht gab es 2019 einen Rückstau von mehr als 30.000 Fällen, der bis heute anhält. An den Gerichten der unteren Instanzen war und ist die Lage ebenfalls dramatisch. An einigen Gerichten ist die Hälfte der Stellen unbesetzt, weil weniger Richter und Staatsanwälte ausgebildet und eingestellt werden können als im Zuge des Vetting-Verfahrens ausgeschieden sind.
Eine der wohl folgenschwersten Konsequenzen stellt die erhebliche Verzögerung von Strafverfahren für die Betroffenen dar: In Albanien darf die Untersuchungshaft (also vorläufige Haft bis zur Urteilsverkündung) auf bis zu drei Jahre ausgedehnt werden. Hinzu kommen die Verhängung der Untersuchungshaft selbst bei leichteren Vergehen und Haftbedingungen, die teilweise deutlich unter den europäischen Mindeststandards liegen. Auch in der Zivil- und Verwaltungsjustiz ist die lange Verfahrensdauer ein erhebliches Problem. Vor dem wichtigsten Berufungsgericht Albaniens in Tirana dauert ein Verfahren drei bis vier Jahre, vor dem Obersten Gericht mindestens sieben Jahre. Dadurch ist der Zugang der Bürger zur Justiz erheblich beeinträchtigt. Sie können die Verletzung ihrer Rechte nicht in einem angemessenen zeitlichen Rahmen geltend machen. Das führt zu einem großen Vertrauensverlust: Nur 1 Prozent der Befragten hat volles Vertrauen in die Justiz („totally trust“), 19 Prozent antworten mit „tend to trust“, während 74 Prozent der Justiz weniger oder gar nicht vertrauen. Bei Verfahrensdauer, Verfahrenskosten, Vollzug der Entscheidungen und Transparenz bescheinigen zwischen 0 und 1 Prozent der Befragten der Justiz ein „hervorragend“ oder „sehr gut“ und je nach Kategorie 10 bis 15 Prozent ein „gut“. Zwischen 64 und 72 Prozent bewerten diese Leistungen als „schlecht“ oder „sehr schlecht“.
Diese Nebenwirkungen der Reform beruhen auf mehreren Fehleinschätzungen bei der Planung des Projekts. Zum einen wurden sowohl die voraussichtliche Dauer (statt wie geplant Anfang 2022 soll das Verfahren erst Ende 2024 abgeschlossen werden) als auch der Anteil der zu entlassenden Amtsträger (ursprünglich circa 30 statt mehr als 64 Prozent) unterschätzt. Zum anderen wurden keine wirksamen Vorkehrungen getroffen, um die Funktionsfähigkeit der Justiz aufrechtzuerhalten. Es gibt bis heute nicht genügend qualifiziertes Personal, um viele der frei gewordenen Stellen an Gerichten und in der Staatsanwaltschaft zu besetzen. Die reformierten Hohen Räte für die Richter sowie die Staatsanwälte, die (neue) Richter und Staatsanwälte ernennen, haben erst Anfang 2019 ihre Arbeit aufgenommen, also fast zwei Jahre nach Beginn des Vetting-Verfahrens. Es wurden keine hinreichenden prozessrechtlichen Grundlagen geschaffen, um einen Verfahrensstau zu vermeiden oder zumindest abzumildern. Es fehlte an einem funktionsfähigen Konzept zur Erhöhung der Zahl der geeigneten Juristen und ihrer Bindung. Und schließlich wurde das nichtrichterliche Personal wie Sekretäre oder wissenschaftliche Berater nicht hinreichend in die Planung einbezogen. Weder ihre Aus- und Fortbildung noch eine Umverteilung der Aufgaben fanden statt.
Ein Erfolg des Vetting-Verfahrens liegt gewiss in der Entlassung korrupter Amtsträger aus der Justiz. Ob die zeitweise eingetretene komplette und in Teilen noch anhaltende Dysfunktionalität der Justiz ein angemessener Preis dafür ist, bedarf zumindest einer ausführlichen Diskussion. Die Folge ist nämlich eine vorübergehende oder gar dauerhafte Rechtlosstellung („justice delayed is justice denied“) Tausender Rechtssuchender seit 2017. Eine der Lehren aus diesem Projekt ist jedenfalls, dass neben einer Bedarfs- und Lageanalyse (siehe Fallbeispiel Serbien) auch eine gründliche und kritische Risiko- und Rechtsfolgenabschätzung vorgenommen und Eventualpläne („Plan B“) vorgesehen werden müssen.
Fazit
Die regelbasierte Ordnung und der demokratische Rechtsstaat als System werden heute mehr als je zuvor seit dem Kalten Krieg herausgefordert. Selbst in einigen EU-Mitgliedstaaten gibt es Rückschritte in Sachen Rechtsstaatlichkeit und die Entwicklung in der unmittelbaren Nachbarschaft und bei den EU-Beitrittskandidaten stagniert auf einem unzureichenden Niveau. Umso wichtiger ist die Förderung der Rechtsstaatlichkeit gerade jetzt, und umso effektiver muss sie sein.
Damit die Rechtsstaatsarbeit erfolgreich und effizient ist, muss sie strategisch und konzeptionell gut vorbereitet sein. Mit dem Ansatz, die Rechtsstaatsförderung in den EU-Beitrittsländern auf der EU-Ebene zu koordinieren, werden Doppelungen vermieden und Synergien ermöglicht. Auch die Verabschiedung der entsprechenden Strategie in Deutschland 2019, die freilich noch mit Inhalten gefüllt werden muss, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Auf der Planungs- und Durchführungsebene gibt es indessen weiterhin Defizite. Die zentralen Herausforderungen sind neben der Effektivität der einzelnen Maßnahmen ihre Effizienz und Nachhaltigkeit, wobei diese drei Kategorien eng miteinander verbunden sind.
In der Entwicklungszusammenarbeit hat sich die sogenannte „Logical-Framework“-Methode etabliert, die – stark vereinfacht – vier Komponenten enthält, von denen einige bereits genannt wurden: Input (eingesetzte Ressourcen), Output (Produkt oder Leistung als direktes Ergebnis der Aktivität), Outcome (tatsächlicher Mehrwert für die Zielgruppe) und Impact (über die Zielgruppe hinausgehender nachhaltiger Nutzen). Trotz vielfacher Kritik an der Methode ermöglicht sie, richtig angewandt, eine gute Planung und Durchführung wirksamer Maßnahmen. Aus den erläuterten Beispielen lassen sich Hinweise für die Projektplanung ableiten. Die wichtigsten können als Ex-ante- und als begleitende Evaluierung und Anpassung überschrieben werden.
Ex-ante-Evaluierung: Bereits bei der Formulierung der Ziele eines Projekts muss eine kritische und sorgfältige Bedarfserhebung und Untersuchung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen durchgeführt werden (Beispiel: Werden die Bürger die höheren Notargebühren bezahlen können? Werden die Zulassungsverfahren zum Notariat durch Vetternwirtschaft sabotiert?). Dies erfordert die Einbeziehung von Experten auf diesen Gebieten, insbesondere von lokalen Experten. Juristisches Fachwissen allein reicht hier nicht aus. Die Zielformulierung muss sich auch in dem Fall nach den daraus gewonnenen Erkenntnissen richten, dass diese nicht den Vorstellungen oder Wünschen des Projekturhebers entsprechen (Beispiel: Gegen den Widerstand der Anwaltschaft werden sich bestimmte Vorstellungen der Berater nicht umsetzen lassen). Auf die Formulierung des Ziels muss eine Machbarkeitsanalyse folgen. Das Ziel muss gegebenenfalls an die Wirklichkeit angepasst werden (Beispiel: Das Notariat wird nicht als Kopie des deutschen Modells, sondern in einer angepassten Version eingeführt). Ergebnisse der Machbarkeitsanalyse müssen in die Einschätzung einfließen, ob und inwieweit das vorgestellte Ziel unter dem Einsatz der verfügbaren Mittel überhaupt erreicht werden kann (Beispiel: Die Laufzeit und damit Finanzierung eines Projekts ist mit drei Jahren viel zu kurz). Schließlich muss eine Risiko- und Rechtsfolgenabschätzung durchgeführt und bei der Zielbestimmung und nachfolgenden Planung berücksichtigt werden (Beispiel: Wenn ein Teil der Richter entlassen wird, wird es einen Verfahrensstau geben; wenn nicht genügend Richter ausgebildet werden, können die freigewordenen Stellen nicht besetzt und die Justiz kann funktionsunfähig werden).
Begleitende Evaluierung: Auf die Zielformulierung folgen die Planung der Durchführung und die Umsetzung. Für jeden Baustein des Projekts müssen idealerweise „im Kleinen“ die Schritte wiederholt werden, die bei der Zielformulierung gegangen wurden. Es muss darauf geachtet werden, dass Eigenverantwortung der Partner vor Ort (ownership) und politische Unterstützung vorhanden sind (Beispiel fehlender ownership: Bei Abzug ausländischer Experten oder Gelder wird eine Institution funktionsunfähig oder ganz abgeschafft). Bei Widerständen oder selbst bei Passivität der Partner ist eine Projektdurchführung mit Risiken behaftet, auch veränderte Rahmenbedingungen können zu Problemen bei der Umsetzung führen. Die Durchführung muss daher laufend evaluiert werden. Die Ergebnisse der Evaluierung müssen zur Anpassung der Durchführung, des Plans und wenn nötig auch der Ziele führen (Beispiel: Deutlich mehr Richter als geplant müssen entlassen werden, was zu Funktionsunfähigkeit eines Gerichts führt und Anlass zur Anpassung des Plans oder des Ziels gibt). Das setzt allerdings voraus, dass auch der Auftraggeber (Zuwendungsgeber) bereit und in der Lage ist, notwendige Änderungen zu akzeptieren, Laufzeiten zu verlängern und Ziele anzupassen. Auch der Abbruch eines Projekts muss als Ultima Ratio ohne negative Konsequenzen für die Durchführungsorganisation möglich sein („Fehlerkultur“).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Rechtsstaatförderung effektiv ist, wenn sie auf einer soliden Planung beruht und auf eine Dauer angelegt ist, die die Zielerreichung überhaupt ermöglicht. Unter anderem politische Stiftungen haben eine ständige Präsenz vor Ort und verfügen über langfristig etablierte Kontakte in Zivilgesellschaft und Politik. Dadurch können sie aus einer guten Kenntnis des politischen und gesellschaftlichen Kontextes, in dem Rechtsstaatszusammenarbeit stattfindet, schöpfen und die Anforderungen und Erfolgsaussichten gut einschätzen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung beispielsweise legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Förderung der Rechtsstaatlichkeit und hat ein globales Rechtsstaatsprogramm mit Standorten in Südosteuropa und fünf weiteren Regionen der Welt etabliert.
Dr. Pavel Usvatov ist Leiter des Rechtsstaatsprogramms Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bukarest.
Julia Leitz ist Rechtsreferendarin beim Rechtsstaatsprogramm Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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