Ausgabe: 4/2021
Ai: Herr Leclerc, Herr Stöter, was kommt Ihnen als Erstes in den Sinn, wenn Sie an die deutsch-französischen Beziehungen denken?
Hugo Leclerc: Ganz spontan denke ich an meinen Großvater, dessen Bruder im Zweiten Weltkrieg nach Auschwitz deportiert wurde. Mein Großvater verbrachte sein ganzes Leben damit, die Erinnerung an diese schlimme Zeit wachzuhalten und hat in Caen eine Erinnerungsgruppe für Angehörige von Deportierten koordiniert. Und er hat sich stark für die Versöhnung und den Aufbau von Verbindungen zwischen Frankreich und Deutschland eingesetzt. Ich bin sicher, er wäre stolz, dass auch ich mich für die deutsch-französischen Beziehungen engagiere.
Jannis Stöter: Mein persönlicher Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen ist nicht so stark durch die Familiengeschichte geprägt worden. Meine Eltern sind in der DDR aufgewachsen, da gab es nicht die Möglichkeit, Frankreich intensiver kennenzulernen, etwa durch einen Austausch oder eine Urlaubsreise. Das Kapitel der Familiengeschichte, in dem man sich mit dem Nachbarn im Westen intensiver befasst, das habe ich selbst schreiben dürfen.
Mein Bild von den deutsch-französischen Beziehungen ist geprägt durch persönliche Erlebnisse. In der zehnten Klasse habe ich an einem Schüleraustausch nach La Rochelle teilgenommen, das war das erste Mal, dass ich in Frankreich war. Damals hatte ich noch wenig Sensibilität für die historische Dimension der deutsch-französischen Beziehungen. Diese ist mir erst vor Ort bewusst geworden.
Ai: Sie beide haben einen deutsch-französischen Studiengang in Köln studiert, dort haben Sie sich kennengelernt. Gemeinsam haben Sie dann einen Thinktank – die DenkFabrik – gegründet, der sich mit den deutsch-französischen Beziehungen befasst. Was war der Grund für den Entschluss?
Stöter: Wir beide beziehungsweise die Gruppe, die den Thinktank gegründet hat, wollten das, womit wir uns im Studium in der Theorie befassen, auch praktisch mitgestalten. Mit der DenkFabrik wollen wir uns in die deutsch-französische Dynamik einbringen. Wir wollen Ideen Gehör verschaffen und junge Menschen aus Deutschland und Frankreich zusammenbringen und für die deutsch-französischen Beziehungen begeistern.
Ai: Wie sieht das konkret aus?
Leclerc: Wir organisieren Veranstaltungen und Projekte, bei denen junge Menschen aus beiden Ländern zusammenkommen. Es geht dabei nicht nur um Politik, sondern um unterschiedliche Themen, etwa Soziales oder Kultur. Wir arbeiten auch an einem Projekt, das junge Menschen mit Firmenchefs, Forschern oder Autoren aus Frankreich und Deutschland zusammenbringen will. Wir wollen also Begegnungen und Diskussionen möglich machen. Außerdem verfassen Studentinnen und Studenten im Zusammenhang mit der DenkFabrik Artikel und Analysen zu aktuellen Themen.
Ai: Ihrem Eindruck nach: Wie blicken Jugendliche heute auf die Beziehungen der beiden Länder? Ist Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Besonderheit und von Konflikten geprägte Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen bewusst – oder spielt das eher eine geringe Rolle?
Leclerc: Doch, die Geschichte ist noch präsent und spielt auch für unsere Generation noch eine Rolle. In Frankreich behandeln wie das Thema etwa im Geschichtsunterricht. Aber natürlich spielt es heute eine andere Rolle als unmittelbar nach dem Krieg. Was die deutsch-französische Beziehung heute auszeichnet, geht über die Erinnerung, aber auch einfache Begriffe wie Freundschaft hinaus.
Stöter: Wenn ich nochmal darüber nachdenke, wo mein erstes Bild von Frankreich entstanden ist, so war das im Französischunterricht, und zwar in erster Linie in Anlehnung an das romantische Frankreich, an schöne Orte wie Paris. Das löste den Wunsch aus, nach Frankreich zu gehen. Ich habe ja schon gesagt, dass ich dort dann erstmals wirklich auf die blutigen Seiten der deutsch-französischen Geschichte aufmerksam wurde. So wurde mir vor allem durch Kontakte mit der älteren Generation bewusst, dass noch heute Wunden durch den Krieg existieren. Bei den Jüngeren steht jedoch das Bewusstsein von einer gemeinsamen europäischen Identität im Vordergrund, die Möglichkeit, in einem vereinten Europa zusammenzuarbeiten. Die große Nachfrage beispielsweise nach Austauschprogrammen zeigt, dass die Beziehung der beiden Länder heute auf einer ziemlich soliden Grundlage steht.
Ai: Nun waren Austauschprogramme und andere Kontakte zwischen jungen Menschen aus Deutschland und Frankreich aufgrund der Pandemie stark eingeschränkt. Und auch andere Selbstverständlichkeiten innerhalb Europas, etwa offene Grenzen, waren plötzlich gar nicht mehr so selbstverständlich. Wie blicken Sie auf den europäischen Umgang mit der Coronakrise? Und was bedeutet diese Zeit für junge Menschen?
Stöter: Wir haben gesehen, dass die Coronapandemie einerseits zunächst zu mehr Protektionismus führte, andererseits aber auch zu mehr Solidarität. So wurden angesichts überfüllter Intensivstationen Patienten aus Frankreich nach Deutschland geflogen und dort behandelt. Insbesondere auf Initiative von Frankreich und Deutschland wurde ein umfassender europäischer Wiederaufbaufonds aufgelegt.
Und unterhalb der politischen Ebene sind durchaus auch positive Ideen und Entwicklungen aus der Krise hervorgegangen. Es gibt eine neue Bereitschaft, Beziehungen und Netzwerke aufzubauen, zum Beispiel über Zoom und soziale Netzwerke. Diese Möglichkeiten haben wir vorher in diesem Maße nicht genutzt. So haben wir als Thinktank beispielsweise Gespräche mit Städten und Politikerinnen und Politikern auf beiden Seiten des Rheins geführt – und diese quasi aus dem Wohnzimmer heraus organisiert.
Ai: Die Pandemie hat Ihnen also – bei allen Schattenseiten – in gewisser Weise auch neue Möglichkeiten eröffnet.
Stöter: Genau. Wer weiß, wie lange es sonst gedauert hätte, bis wir als junger Thinktank mit diesen Menschen in Kontakt gekommen wären? Aber klar ist natürlich: Zoom eröffnet neue Wege, ersetzt aber in keiner Weise das Zwischenmenschliche. Ich sehe in der eingeschränkten Mobilität eine stille Gefahr für die europäische Integration.
Ai: Was meinen Sie damit?
Stöter: Viele Projekte, die junge Menschen von Europa begeistern, haben als Grundvoraussetzung eine nahezu uneingeschränkte Mobilität, sei es der Schüleraustausch, das europäische Jugendparlament, ein Praktikum, das Auslandssemester oder einfach die Interrail-Reise. Das war für viele Menschen während der Pandemie unmöglich. Das wirklich Gemeine daran ist, dass die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu sammeln und mit Europa zu verknüpfen, in vielen Fällen nicht so einfach wiederkommt, weil die Zeit ja voranschreitet. Noch schwerer wiegt, dass das Grundvertrauen in die Mobilität in gewisser Weise erschüttert wurde, das Vertrauen, dass ich ein Erasmus-Programm auch antreten kann, wenn ich das möchte. Dieses Bild der Grenzen und nicht eingelösten Versprechen darf sich nicht in den Köpfen der jungen Menschen festsetzen.
Ai: Deutschland und Frankreich werden manchmal als „Motor Europas“ bezeichnet. Läuft dieser Motor derzeit rund oder stockt er?
Leclerc: Was Frankreich und Deutschland gemeinsam voranbringen, ist aus meiner Sicht ein Beispiel für die Kraft des Kompromisses. Das hat sich auch bei der Bewältigung der Coronapandemie gezeigt, beim Wiederaufbaufonds. Man ist nicht immer einer Meinung, findet aber im Dialog Kompromisse. Genau das macht die Stärke der Beziehung aus. Der Begriff des „Motors Europas“ wird aber manchmal so aufgefasst, als bedeute er, dass Frankreich und Deutschland in Europa die Richtung vorgeben und andere Länder vergessen. Ich würde sagen, das deutsch-französische Paar ist eher Treibstoff als Motor. Wenn es funktioniert, funktioniert der europäische Motor.
Ai: Wo sehen Sie im deutsch-französischen Verhältnis die größten Schwachstellen und Spannungspotenziale? Oder anders gefragt: Was läuft nicht gut zwischen den beiden Partnern?
Leclerc: Es besteht die Gefahr, dass Frankreich und Deutschland bei wichtigen Entscheidungen aneinander vorbeireden. Es wird gesagt, dass Präsident Macron in den ersten Jahren seiner Amtszeit viele Anrufe nach Berlin getätigt hat, die aber unbeantwortet blieben. Bei der Verabschiedung des Konjunkturprogramms waren sich die beiden jedoch einig und machten einen großen Schritt nach vorn. Wie in jeder Beziehung müssen sie sich vor Missverständnissen hüten, die sie trennen können. Meine persönliche Befürchtung ist, dass die nächsten Monate besonders viel Potenzial für solche Missverständnisse bergen.
Ai: Inwiefern?
Leclerc: Ein Beispiel dafür ist die französische EU-Ratspräsidentschaft, die im Januar 2022 beginnt. Seit einigen Tagen hört man die Ungeduld und die Erwartung einiger französischer Politiker, die hoffen, dass Deutschland mit einer neuen Regierung und damit mit echtem Handlungswillen an den Tisch kommt. Falls nicht, bestünde die Gefahr, dass Frankreich einen alleinigen Vorstoß wagt, ohne auf Deutschland zu warten. Dies gilt umso mehr, da die französische EU-Ratspräsidentschaft wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen für Macron von großer Bedeutung ist. Ein weiterer Spannungspunkt ist die Defizitregel. Es ist möglich, dass Deutschland zu einer strengeren Position in Bezug auf die europäische Regel für die Überschreitung von Defizitgrenzen zurückkehrt, die Frankreich nicht mehr wünscht. Dies wäre eine große wirtschaftspolitische Meinungsverschiedenheit, die auch zu Frustration führen würde.
Stöter: Wie Hugo bereits sagte: Deutschland verhielt sich gegenüber den Integrationsvorschlägen Frankreichs unter der Großen Koalition eher zurückhaltend. Eine klare Positionierung zur Weiterentwicklung der EU und ein Bekenntnis zur Kompromissfindung bei Streitthemen, insbesondere auch der Defizitregel, werden daher zu umso wichtigeren Themen für die neue Bundesregierung. Mit Blick auf die bevorstehende französische Ratspräsidentschaft wäre eine schnell handlungsfähige Regierung wünschenswert – nicht um Herrn Macron in seinem Wahlkampf zu unterstützen, sondern um ein Signal zu senden, dass der deutsch-französische Treibstoff für Europa funktioniert und die beiden Länder einen gemeinsamen Gestaltungswillen haben. Gleichzeitig stehen im April jedoch Wahlen in Frankreich an. Das könnte den Prozess erneut ausbremsen – oder der neuen deutschen Bundesregierung Gelegenheit geben, ihre Position zu schärfen und selbst Initiative zu zeigen.
Ai: Vor einigen Monaten entzündete sich eine Debatte zwischen dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der damaligen deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer über die Vorstellung einer „strategischen Autonomie Europas“. Während Kramp-Karrenbauer die zentrale Rolle der USA für die Sicherheit Europas betonte und eine strategische Autonomie Europas in diesem Kontext als „Illusion“ bezeichnete, forderte Macron mehr europäische Eigenständigkeit und nannte Kramp-Karrenbauers Einschätzung eine „Fehlinterpretation der Geschichte“. Wie haben Sie diese Debatte verfolgt?
Leclerc: In Frankreich wurde die Diskussion durchaus kontrovers aufgenommen. Manche haben sie als Zeichen gesehen, dass die beiden Länder sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. Aus meiner Sicht war die Debatte zu persönlich, aber ich glaube, dass es eine Debatte ist, die wir führen müssen.
Stöter: Dieses Thema bewegt uns auch, weil es entscheidende Fragen für die Zukunft Europas aufwirft: Wie soll sich die Europäische Union im geopolitischen Konflikt zwischen den USA und China in Zukunft positionieren? Welche Rolle will sie in diesem Zusammenhang spielen? Diese Fragen müssen gestellt werden und gehen mit anderen Fragen einher, etwa jener nach einer europäischen Armee. Damit befassen wir uns auch in der DenkFabrik.
Ai: Und wo stehen Sie inhaltlich in der Debatte? Braucht Europa mehr Autonomie? Und was bedeutet das für die Beziehungen zu den USA und China?
Stöter: Aus meiner Sicht muss Europa strategisch autonomer werden. Es ist wichtig, in eine Gestalterrolle zu kommen. Dabei geht es nicht darum, in Konkurrenz zu den USA zu treten. Wenn es zum Beispiel um Menschenrechte geht, ist Europa den Vereinigten Staaten natürlich wesentlich näher als China.
Leclerc: Es gibt Themen, da brauchen wir eigenständigere europäische Positionen. Da müssen Strategien entwickelt werden und es braucht mehr Souveränität und europäische Stärke.
Ai: Nun kam es kürzlich zu einer tiefen diplomatischen Krise zwischen Paris und Washington, nachdem ein zwischen Frankreich und Australien vereinbartes U-Boot-Geschäft platzte und die Australier stattdessen auf die Anschaffung einer nuklearbetriebenen U-Boot-Flotte in Kooperation mit den USA und Großbritannien setzten. Frankreich zog in diesem Zusammenhang sogar seine Botschafter aus den USA und Australien zurück. Auch im Zuge des Afghanistan-Abzugs gab es Kritik an den Vereinigten Staaten, denen eine mangelhafte Abstimmung mit Verbündeten vorgeworfen wurde. Sprechen auch diese Entwicklungen für mehr europäische Autonomie und eine neue Positionierung gegenüber den USA?
Stöter: Für mich stand im Rahmen der angesprochenen Debatte gar nicht das eigentliche Geschäft, sondern vielmehr der vereinbarte trilaterale Sicherheitspakt zwischen den USA, Australien und Großbritannien im Vordergrund. Die davon ausgehende Symbolik wirkt wie eine Vereinigung der anglophonen Welt unter Ausgrenzung der EU, zumal sich die vereinbarte Partnerschaft auch noch auf weitere Zukunftsthemen in den Bereichen künstliche Intelligenz, Quantentechnologie und Cyberabwehr erstreckt. Das sind Themen, zu denen auch Europa seine Hausaufgaben machen und seinen eigenen Beitrag leisten muss. Der Pakt verdeutlicht diese Aufgabe noch einmal. Allerdings wäre es eine vertane Chance und auch ein falsches Symbol, diese Entwicklungen nicht partnerschaftlich mit anderen demokratischen Ländern voranzutreiben. Die NATO sollte hierfür ausreichend Gelegenheit bieten.
Leclerc: Ich weiß, dass Deutschland die Seite an Frankreich nicht sehr mag, die dazu neigt, um wenig viel Lärm zu machen. Hier geht es aber, wie ich finde, um viel mehr als nur um einen verlorenen Auftrag. Es geht um unsere Positionierung in der Mitte der Allianzen sowie um die geopolitische Wahrnehmung Frankreichs und der EU. Ein Abschluss des Auftrages durch Frankreich wäre auch ein positives Aushängeschild für die EU gewesen. Daher ist es umso bedauerlicher, dass der Auftrag nun an die USA gegangen ist. Gleiches hätte natürlich auch für einen derart großen deutschen Rüstungsauftrag gegolten.
Ai: Wie blicken Sie auf die Idee einer europäischen Armee?
Leclerc: Eine europäische Armee könnte zu mehr Autonomie führen. Fraglich bleibt allerdings, was man genau darunter versteht. Die Frage berührt ja auch Aspekte der nationalstaatlichen Souveränität. In Frankreich haben wir eine starke Bindung an unsere Armee.
Stöter: Die Frage nach einer europäischen Armee ist untrennbar mit der Frage nach Kompetenzen und Aufgaben verbunden. Geboten erscheint mir die Debatte insbesondere im Kontext der Verteidigung europäischer Infrastruktur, wie z.B. des europäischen Satellitennavigationssystems Galileo, und zukünftig auch noch entscheidender im Bereich der Cyberabwehr. Darüber hinaus, gerade auch in Bezug auf Ihre vorherige Frage zum Afghanistan-Abzug, sollte insbesondere die Koordination nationaler Kräfte bei der Planung gemeinsamer Einsätze forciert werden. Dafür braucht es aber keine europäische Armee als solche.
Ai: Die Diskussion über eine europäische Armee ist eine über weitere Integrationsschritte. Nun gibt es aber sowohl in Deutschland als auch in Frankreich politische Persönlichkeiten, Bewegungen und Parteien, die nicht nur weitere Integrationsschritte verhindern wollen, sondern das ganze Konstrukt der europäischen Integration infrage stellen. Wie verfangen solche Positionen in Ihrer Generation?
Stöter: Die europäischen Grundfreiheiten sind für viele junge Menschen aus unserem Umfeld selbstverständlich. Wir sind so aufgewachsen, wir haben nichts anderes kennengelernt und das ist für uns toll. Aber diese Wahrnehmung kann auch trügen. Diese Freiheiten sind zumeist für die Menschen selbstverständlich, die die Chance hatten, früh in ihren Genuss zu kommen. Andere, die die Gelegenheit so nicht hatten, mögen daher in der EU vielleicht eher eine intransparente Institution sehen, die ihnen keine Vorteile bringt. Das ist gefährlich, da dies zu einer Gleichgültigkeit gegenüber Europa führen kann.
Leclerc: Man sollte nicht vergessen, dass auch junge Menschen selbst stellenweise Teil der populistischen Dynamik sind. Es gibt diese Idee des Rückzugs ins Nationale. Wir müssen zeigen, dass dies weder wünschenswert noch realistisch ist. Das wollen wir auch mit der DenkFabrik. Dabei ist es wichtig, dass man auf eine substanzvolle Art für Europa wirbt, nicht bloß nach dem Motto: „Europa ist gut, deshalb muss man es weiterentwickeln“. Für uns ist es wichtig, dass junge Menschen konkrete Erfahrungen machen und auch eigene Überlegungen in Diskussionen einbringen können.
Stöter: Uns geht es darum, Menschen zusammenzubringen, aber auch darum, Geschichten von Menschen zu erzählen, die im deutsch-französischen beziehungsweise europäischen Kontext aktiv sind. Wir wollen zum Beispiel darüber informieren, was es bedeutet, einen deutsch-französischen Studiengang zu studieren, welche Chancen und Herausforderungen es da gibt. Es ist wichtig, Menschen Erfahrungen zu ermöglichen, die vielleicht weniger Berührungspunkte mit Europa hatten und da etwas skeptisch sind.
Ai: Was sind die häufigsten Kritikpunkte, die sie von jungen Menschen an der Europäischen Union hören? Und wo sehen Sie ganz konkret die Schwächen der EU?
Leclerc: Das ist ein Thema, dessen wir uns gerne in einem neuen Projekt annehmen würden. Ganz konkret kann ich aber sagen, dass Europa nicht nur ein Gefühl oder eine Idee bleiben darf. Es ist nicht schwer, für Europa zu sein. Aber was bedeutet das konkret? Es gibt zu wenige Antworten auf diese Frage. Es ist einfach zu sagen, dass man proeuropäisch ist, ohne eine konkrete Idee oder Ambition dahinter zu haben. Vielleicht verhindert die Tatsache, dass wir einen Berg an Dingen sehen, die noch getan werden müssen, dass wir etwas Konkretes sehen. Dennoch glaube ich, dass wir Schritt für Schritt und mit echtem Ehrgeiz ein anderes Europa gestalten können, das mehr Unterstützung finden wird, weil es konkret, effizient und nah an allen ist.
Stöter: Die Frage, die sich für mich ebenso wie für Hugo stellt, wenn ich über die EU nachdenke, ist die nach einer konkreten gemeinsamen Vision. Der politische Prozess sendet hierzu oft verschiedene Signale und wirkt manchmal wie eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Ich denke, dass die EU eine Klärung ihres Selbstverständnisses braucht, um sich weiterentwickeln und auch um für junge Menschen greifbarer werden zu können. Gleichzeitig müssen auch junge Menschen stärker in den europäischen Prozess miteinbezogen werden. Es geht schließlich um ihre europäische Zukunft, die sie auch mitgestalten können müssen.
Ai: Was ist denn aus Ihrer Sicht auf der politischen Ebene nötig, um junge Menschen stärker von Europa zu überzeugen?
Stöter: Ich glaube nicht, dass wir die allermeisten jungen Menschen von Europa und seiner Schönheit erst noch überzeugen müssen. Das ist zumindest meine Wahrnehmung. Wenn es darum geht, was man konkret tun muss, dann sind meiner Meinung nach vor allem zwei Themen bedeutsam. Zum einen ist da das Thema Nachhaltigkeit, das ja mit dem European Green Deal auch angegangen wird und bei dem es um die Frage geht, wie die Zukunft gestaltet werden soll. Dabei ist es zentral – und das ist das zweite große Thema –, dass junge Menschen beteiligt werden. Es ist wichtig, in Europa Formen der Mitgestaltung zu ermöglichen. Wenn ich etwas mitgestalten kann, dann habe ich dazu auch eine persönlichere Bindung.
Leclerc: Junge Menschen stehen oft noch zu sehr am Rand des Entscheidungsprozesses. Es gibt viele Initiativen, die sind aber zu oft von oben nach unten organisiert. Mitgestaltung ist auch für mich eine zentrale Frage. Und darum geht es auch bei uns in der DenkFabrik.
Stöter: Um gemeinsam zu gestalten, wenn ich das hinzufügen darf, braucht es Mobilität. Wenn man einfach in ein anderes Land gehen und dort Menschen treffen kann, kommt man auch auf neue Ideen. Es ist auch wichtig, Strukturen zu vereinfachen. Einen Verein zu gründen, das haben wir mit der DenkFabrik selbst erlebt, ist ganz schön Arbeit. Und es gibt nicht die Möglichkeit, das auf europäischer Ebene zu tun, wir mussten uns also zwischen Deutschland und Frankreich entscheiden. Aus praktischen Gründen ist es dann Deutschland geworden.
Leclerc: Also ich bin jetzt ein französischer Vorsitzender eines deutschen Vereins. Das ist cool (lacht).
Ai: Zum Abschluss unseres Gesprächs noch eine letzte Frage: Was verbinden Sie – in wenigen Worten – mit Konrad Adenauer?
Leclerc: Oberbürgermeister von Köln.
Stöter: Und natürlich, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg erste Schritte gegangen ist und die Beziehungen zum Westen und vor allem Frankreich wiederaufgebaut hat. Das verbinde ich mit ihm. Und das ist ein großes Vermächtnis.
Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.
Hugo Leclerc (21) wurde in Paris geboren und ist dort groß geworden. Für sein Studium des deutsch-französischen Rechts an der Universität zu Köln und der Sorbonne in Paris ist er zum ersten Mal nach Deutschland gezogen. Während seiner drei Jahre in Köln hat er La DenkFabrik ins Leben gerufen. Heute leitet er als Präsident ihre weitere Entwicklung.
Jannis Stöter (24) begann sein Jurastudium in Köln und wechselte später an die Humboldt-Universität nach Berlin. Im Dezember 2021 schloss er zudem ein Informatikstudium an der Duke University in den USA ab. Aufgewachsen ist er in der Nähe von Schwerin. Als Vorstands- und Gründungsmitglied der DenkFabrik ist er für deren strategische Entwicklung in Deutschland verantwortlich.
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