Ausgabe: 1/2016
Die aktuellen Ereignisse in Afrika werden dominiert von den Gewalttaten Boko Harams, einer Bewegung, die bislang nur wenig erforscht ist, weil kaum jemand den Rhythmus ihrer blutigen Aktionen nachvollziehen kann. Diese binden in hohem Maße mediale Aufmerksamkeit und lassen wenig Raum für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Entstehung und der Ideologie dieser Bewegung, die oftmals zu voreilig als Gruppe von „Gottbesessenen“ abgetan wird, die eine Strategie der verbrannten Erde praktiziert, kein Risiko scheut und grundlos und blindwütig tötet.
Wiederholte Gewalttaten, bei denen Teile der Bevölkerung ausgelöscht werden, weil sie im Verdacht stehen, mit den Sicherheitskräften zu kooperieren, sind eines der Markenzeichen von Boko Haram. Seit dem Aufstand von 2009, der ein Wendepunkt für die Sicherheitslage im Norden Nigerias war und mehr als 700 Tote in zwei Jahren forderte, richten sich die fast täglichen Angriffe von Boko Haram gegen die unterschiedlichsten Ziele: Kirchen, Schulen, christliche Dörfer, aber auch Moscheen.
Der nigerianische Staat reagiert mit einer Verstärkung und Ausdehnung der Militäreinsatze, die sich auf die nördlichen Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe konzentrieren und das Land in einen Teufelskreis aus willkürlicher Unterdrückung und rücksichtlosen Vergeltungsschlägen gestürzt haben. So wird schließlich die Bevölkerung Opfer eines erbarmungslosen Kampfes zwischen Teilen von Boko Haram und den Sicherheitskräften, die dem Ausmaß der Anschläge bisweilen hilflos gegenüberstehen.
Diese blutige Verfolgung drängt nicht nur Gruppen, die in Verbindung mit Boko Haram stehen, in eine Opferrolle, sondern schafft auch bei anderen Bevölkerungsteilen eine Bereitschaft, sich der Bewegung anzuschließen, da sowohl die Sicherheitskräfte als auch Boko Haram mit einer unbarmherzigen Gewalt vorgehen, die niemanden verschont.
Die Bevölkerung befindet sich in einer Zwickmühle. Von beiden Seiten wird sie der Komplizenschaft mit der jeweils anderen Seite bezichtigt. In diesem Spiel des Terrors hat die nigerianische Armee allerdings informationstechnisch schon lange den Kürzeren gezogen.
Das Informationsdefizit erklärt zum Teil die unverhältnismäßigen Reaktionen einer Armee, die nahezu hilflos und von der Bevölkerung abgeschnitten ist und hat weitreichende Konsequenzen: Boko Haram gewinnt immer mehr lokale Unterstützer. Mancherorts hält sogar die Bevölkerung insgesamt lieber zu den Kämpfern der Terrororganisation als sich auf die Seite der Sicherheitskräfte zu stellen.
Ganze Dörfer stehen vor der Wahl, entweder als Selbstverteidigungsmilizen im Rahmen der Civilian Task Forcesdie Armee im Kampf gegen die Terrorbewegung zu unterstützen, oder sich von Boko Haram bewaffnen und ausbilden zu lassen. Gefangen zwischen den Fronten fliehen sie scharenweise in das Gebiet um Maiduguri und zunehmend auch in die Nachbarländer Kamerun und Niger.
In diesem Artikel, der eher verständnisorientiert als deskriptiv ausgerichtet ist, werden die sozialen und historischen Bedingungen der Entstehung von Boko Haram sowie die Ideologie und die Ziele einer solchen Bewegung, ihre Finanzierung und die von der nigerianischen Regierung bei ihrer Bekämpfung verfolgte Strategie Schritt für Schritt analysiert.
Soziogenese der Bewegung: zu den Wurzeln von Boko Haram
Man muss die Entstehung von Boko Haram im ideologischen Kontext der Sehnsucht nach einem islamischen Staat (al-dawla al-islâmiyya) innerhalb der Gesellschaften mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung seit der Abschaffung des osmanischen Kalifats im Jahr 1922 betrachten.
Als Grundsatzrede über die Identität von Boko Haram kann die Ansprache des Führers der Bewegung, Muhammed Yusuf, in Yobe angesehen werden, in der er Fragen zur Verbannung des „boko“, der westlichen Ausbildung, beantwortete. Er definiert „boko“ wie folgt: „Es bedeutet, an Schulen zu studieren, die von christlichen Missionaren (al-munassirûn) gegründet wurden und umfasst die Curricula von der Primarstufe über die Sekundarstufe und die weiterführenden Schulen (collèges) bis zum öffentlichen Dienst und somit auch Tätigkeiten im Dienste des Staates.“
Es ist unverkennbar, dass jede Analyse der Soziogenese Boko Harams sich an der Hauptschwierigkeit stößt, ein Betrachtungsschema für ein speziell nigerianisches Phänomen aufzustellen, das ein unverkennbares Risiko der Ausbreitung auf andere Länder birgt. Am schwierigsten stellt sich die Ausarbeitung einer Typologie der Lebenswege und Profile der Anhänger dieser Ideologie dar sowie die Definition eines ihr eigenen Modus Operandi. Dafür wollen wir uns mit den internen Schriften der Bewegung beschäftigen.
Die „Taliban von Nigeria“, wie einige Analysten sie vereinfachend nennen, besitzen, anders als es das Verhalten und Gebaren ihres Anführers, Abubakar Shekau, in seinen verschiedenen Aufzeichnungen und Reden vermuten lässt, durchaus eine Ideologie. Es genügt, von der Sichtweise der Gründer auszugehen, um die Logik besser zu verstehen, welche die blutigen Aktionen der Bewegung leitet.
Hinter der Ablehnung des staatlichen Bildungsmodells und dem Verlassen der „offiziellen“ Schulen, um im Norden die Scharia zu lernen, hinter der Anprangerung einer angeblichen „Kontrolle“ dieses Systems durch die Kirche und die Christen steckt tatsächlich die Ablehnung der postkolonialen staatlichen Ordnung, die als eine politisch-ideologische Fortführung des britischen, westlichen Systems angesehen wird. Der Ausdruck „amaliyyat tansîr“, Prozess der „Christianisierung“ durch westliche Bildung, den der Gründer Muhammed Yusuf von Anfang an in seinen Predigten verwendete, ist bezeichnend für den Grad der Ablehnung des staatlichen Systems als Ganzes.
Der typische Boko Haram-Kämpfer ist ein Individuum, das aufgrund seiner Missbilligung der formellen Bildung als Trägerin unislamischer Werte das gesamte staatliche System ablehnt. Dieses Individuum hat mit der nigerianischen Gesellschaft gebrochen, die es als Gegenstück zur idealisierten „wahrhaft islamischen“ Gesellschaft ansieht. Dieser Bruch, der den nigerianischen Staat und die nigerianische Gesellschaft infrage stellt und die Kluft zwischen dem vorwiegend islamischen Norden und dem hauptsächlich von Christen und Anhängern traditioneller afrikanischer Religionen bevölkerten Süden zu vergrößern droht, ist doppelter Art:
Bruch mit Autoritäten:
Der Kämpfer oder der von den Reden und der Ideologie Boko Harams begeisterte junge Mensch demonstriert seine Ablehnung des nigerianischen Staatsmodells, das stark an das britische Erbe angelehnt und somit in seiner Vorstellung westlich ist. Die Strukturen des Staates und das säkulare Staatsmodell erscheinen ihm „gottlos“ und unvereinbar mit dem Islam.
Bruch mit Identitäten:
Der Kämpfer-Typus von Boko Haram hat mental die Identität seiner Mitbürger verworfen. Neben der Dialektik eines „muslimischen“ Nordens und eines „christlichen“ Südens wird dem neuen Jünger Boko Harams ein Gegenentwurf zu den vom föderalen Staat vor allem in der Schule vermittelten nationalen Identitäten nahegebracht. Da, wo die Institutionen des „gottlosen“ Staates ein Nationalgefühl kultivieren und eine Gemeinschaft durch die Zugehörigkeit zu einem Land zusammenhalten, füttert Boko Haram seine Mitglieder fortwährend mit Reden, die die Sehnsucht nach einem islamischen Staat nähren, der weder in der Geschichte des Islam noch auf dem heutigen Staatsgebiet Nigerias je nachweislich existiert hat, außer – in geringem Maße – während der Epoche des Reiches von Sokoto.
Die Vision eines Staates, oder vielmehr die Vorstellung eines islamischen „Landes“ nach dem Vorbild des von Usman Dan Fodio beherrschten Sokoto, wie sie die Kämpfer Boko Harams hegen, folgt nicht den von der Schule, der Armee und der Verwaltung von Abuja vermittelten Idealen. Für diese Randgruppe ist der nigerianische Staat in seiner aktuellen Form und Ausrichtung nur eine Illusion der anglophonen Elite, durch die Verwestlichung „entartet“ und aus einem Bildungssystem legitimiert, das selbst „haram“, also von der Religion verboten ist.
Neben der strukturellen Ablehnung des Staates und seine Bildungssystems ist die Einstellung von Boko Haram auch Ausdruck einer Frustration. Die Gegner des „boko“ werfen dem System vor, die westlich orientierte Bevölkerung zu bevorzugen und jene zu benachteiligen, die sich für eine „arabisch-islamische“ Ausbildung entschieden haben, wie auch Ahmad Zana, Vertreter des Bundesstaats Borno im nigerianischen Parlament, feststellte. Darüber hinaus erklärte ein junger Mann aus Miduguri: „Die Ungerechtigkeiten hinter dem Phänomen Boko Haram sind eklatant; im Gegensatz zu einer britischen Ausbildung bringt eine fundierte arabisch-islamische Ausbildung keinerlei Vorteile.“
Der Zusammenstoß unterschiedlicher Bildungssysteme ist eine der Hauptursachen für die Ausgrenzung und Verarmung, die in den meisten Gesellschaften der Sahelzone mit vorwiegend islamischer Bevölkerung zu Radikalisierung führt. Da es schwer ist, nach einer Schullaufbahn im parallelen System der Madrassaund der islamischen Lehranstalten einen Studienplatz an einer Hochschule zu erhalten, setzen viele ihre Bildung in der arabischen Welt fort, wo die Universitäten den Studenten aus Ländern südlich der Sahara nur wenige Möglichkeiten bieten und ihnen meist nur ein Studium der (arabischen) Linguistik, der Scharia oder der Theologie bleibt.
Ideologischer Hintergrund und Ziele von Boko Haram
Vor dem Jahr 2002 hatte Boko Haram keinen klaren Leitgedanken. Erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 konstituierte sie sich wirklich ideologisch. Ihr ideologischer Kampf instrumentalisiert die Frustration Millionen junger Menschen im Norden, die vom Bildungssystem und dem Staat, der es unterstützt, abgeschnitten sind. Die Logik reduziert sich auf die Sichtweise: „Ich lehne das System ab, das mich ablehnt.“ Das gilt für die sogenannten „Arbeitslosen von Maiduguri“, junge Menschen, die sehr früh von Boko Haram angeworben werden. Die Gruppe hat es leichter, Menschen zu ihrer Ideologie zu bekehren, wenn sie unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Ungerechtigkeiten eines „korrupten Staates“ aus der Frustration einer mittellosen, ausgegrenzten Jugend Kapital schlägt.
In Wirklichkeit stellt Boko Haram die Verteidigung der Bevölkerung des Nordens oder der Muslime gegen einen diskriminierenden Staat keineswegs in den Vordergrund, aber es gelingt der Bewegung, Menschen zu rekrutieren, die im föderalen Staat keinen Zugang zu staatlichen Dienstleistungen oder einer lohnenswerten beruflichen Laufbahn haben. Sie vertritt vor allem eine religiös gerechtfertigte Ideologie, die in ihrem Diskurs und den meisten Aktionen willkürliche Forderungen stellt, die von einer mehr als konfusen Botschaft getragen werden.
Die feindselige Einstellung gegenüber dem Westen, die den Kampf gegen den ewig als „westlich“ angesehenen Staat einschließt, wird vor allem aus Boko Harams Modus Operandi deutlich, der den ideologischen Grundlagen aus der Entstehungszeit unter Muhammed Yusuf treu bleibt. Dies zeigt sich in den Zerstörungen und Anschlägen auf die Infrastrukturen des umstrittenen Zentralstaates, aber auch auf christliche Kirchen. In der Denkweise von Boko Haram sind letztere Symbole einer Religion, die durch die Christianisierung der Verwestlichung den Weg ebnet. Das erklärt auch, warum die Christen ein Drittel der Opfer von Boko Haram ausmachen.
Das gleiche gilt für die Anschläge gegen die Bevölkerung, die häufig der Komplizenschaft mit den Informationsdiensten bezichtigt wird, aber auch für die Ermordung von Muslimen, denen die Bewegung die Nichteinhaltung der Scharia vorwirft.
Auch die Entführung von fast 300 Mädchen aus Chibok hat neben der stets von Terrororganisationen beabsichtigten Erregung weltweiten Aufsehens und der Zurschaustellung der Schwäche des Staates einen echten ideologischen Hintergrund, dessen Verständnis ein Eintauchen in die Schriften und die Denkweise von Boko Haram erfordert. Diese Mädchen, die eine „westliche“ Schule besuchten, stellen für die Bewegung das perfekte Beispiel für eine „kulturelle Entfremdung“ dar, während sie gleichzeitig als Symbol für eine „Verderbtheit der Sitten“ gelten, die mit dieser illegitimen Bildungsform einhergeht. Die Tatsache, dass sie festgehalten und zwangsverheiratet werden, verweist auf eine weitere mittelalterliche Vorstellung, bei der Kriegsgefangene zu Sklavinnen gemacht werden, deren Besitz der Religion nach erlaubt ist.
Spektakuläre Aktionen dieser Art sind schließlich auch ein Ausdruck von verworrenen Beziehungen zwischen der Bewegung, dem Staat und den Sicherheitskräften.
Die Finanzierung von Boko Haram
Die Frage nach der Finanzierung Boko Harams stellt sich bereits seit der Gründung der Bewegung. Muhammad Yusuf wurde von vielen Kennern afrikanischer islamistischer Strömungen als Nachkomme einer wohlhabenden Familie mit Grundbesitz identifiziert, was es ihm von Beginn an ermöglicht habe, die Finanzierung sicherzustellen. Andere jedoch behaupten das Gegenteil und dementieren, dass Yusuf ein solches Vermögen geerbt haben könne. Eine Quelle aus dem Umfeld des nigerianischen Islamismus bekundet, dass die Mitglieder von Boko Haram zu Beginn in vielen nördlichen Bundesstaaten ihre Immobilien, Geschäfte und sogar den Schmuck ihrer Frauen verkaufen mussten, um „die Aktionen des Dschihad zu unterstützen“.
Westliche Quellen beschäftigen sich eingehender mit der Finanzierung Boko Harams. Für sie ist es notwendig, einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Gewalttaten von Boko Haram und jüngsten Entwicklungen hinsichtlich der Ausstattung ihrer Mitglieder herzustellen.
Verschiedenen Militäranalysten zufolge konnte die Bewegung ihre Logistik insbesondere mit Hilfe der folgenden Finanzierungsquellen verbessern:
Entführungen und Geiselnahmen
Boko Haram übt starken Druck auf die nigerianische Regierung aus, während Milizen der unterschiedlichen Parteien die Bewegung auch benutzen, um Widersacher aus dem Weg zu räumen, insbesondere im Vorfeld der Wahlen im Jahr 2015.
Außerdem hat Boko Haram Ende 2014 im Austausch mit einer siebenköpfigen französischen Familie, die im Norden Kameruns entführt worden war, neben der Freilassung von 16 inhaftierten Mitgliedern der Organisation auch Gelder in Höhe von drei Millionen US-Dollar erhalten.
Diebstahl
Viele Religionsgelehrten der Bewegung predigen, dass Diebstahl im Rahmen des Dschihad erlaubt sei, weil er a ls „ghanâ’im“ gilt, als Kriegsbeute, die von den „Gottlosen“ genommen wurde. Es handelt sich um verschiedene Arten des Diebstahls, einschließlich Banküberfällen. Im November 2014 waren hunderte Banken, hauptsächlich in den nördlichen Bundesstaaten wie Borno, Opfer von bewaffneten Raubüberfällen geworden. Die Einnahmen aus Diebstählen zwischen 2012 und 2014 werden auf ca. sechs Millionen Dollar geschätzt.
Schutzgelderpressung
Wichtige Führungspersonen aus den nördlichen Bundesstaaten mussten Vereinbarungen zum Schutz vor Anschlägen mit der Bewegung abschließen und dafür Schutzgelder bezahlen. Dieses Phänomen hat sich seit 2004 verschärft. Hintergrund ist, dass Boko Haram von 2004 bis Mitte 2013 weite Gebiete des Nordens, insbesondere in der Nähe von Maiduguri, kontrollierte. So seien mit dem Einverständnis der Regierenden in den nördlichen Bundesstaaten Vereinbarungen geschlossen worden, um die Einrichtung von Basislagern der Terrorbewegung in diesen Landesteilen zu erleichtern.
Ausländische Terrororganisationen
Zahlreiche regionale und internationale islamische Organisationen haben Boko Haram bereits im Rahmen der allgemeinen Hilfen für islamische Vereinigungen in Afrika über die Netzwerke der NRO und karitativen Einrichtungen religiöser Prägung finanziert. Weitere bedeutende Finanzmittel kommen aus dem Norden Nigerias, geduldet von Regierungsmitgliedern und hochrangigen Persönlichkeiten, die Schutzgelder an die Terrororganisation zahlen.
Das Zurückverfolgen anderer Finanzströme führt zum algerischen Zweig der al-Qaida (AQMI), zeigt aber auch Verbindungen mit den Shabaab aus Somalia auf, die ideologisch mit den Scheichs des Salafismus und Wahhabismus sowie mit der Al-Haramayn-Stiftung verknüpft sind, einer Organisation, die auf der schwarzen Liste der Unterstützer des internationalen Terrorismus steht.
Nichtregierungs- und andere ausländische Organisationen
Organisationen dieses Typs sind in der Regel unbewaffnet, nicht direkt in die Terroranschläge involviert und genießen einen fast schon diplomatischen Status in zahlreichen Ländern, auch im Westen. Ihre Aktionen verstehen sich als Solidaritätsbekundungen innerhalb der Gemeinschaft mit dem Ziel, die „islamischen Brüder“ zu „unterstützen“. Viele dieser Organisationen verurteilen den Terrorismus scharf in ihren Reden und offiziellen Verlautbarungen oder genießen einen Beobachterstatus in den angesehensten internationalen Institutionen. Dies trifft auch auf zwei Organisationen zu, die von einer arabischsprachigen Informations-Website als Unterstützer des Terrorismus über Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate identifiziert werden:
- der in Großbritannien ansässige Solidaritätsfonds Sundûq i’timâni
- und die Jam'iyyat al-'Alam al-Islâmî(die vielleicht identisch mit der Islamische Weltliga Râbitat al-‘Alam al-islâmîsei), deren Sitz sich in Saudi-Arabien befindet und die offiziell Büros in Afrika und Europa hat. Der Vertreter des saudi-arabischen Büros verurteilt jedoch offen den Terrorismus und jede Form von Gewalt.
Boko Haram: Welche Strategien verfolgt die internationale Gemeinschaft?
Nach dem viel beachteten Tod von Muhammad Yusuf wandte sich ein Sprecher der Bewegung an die nigerianische Öffentlichkeit, um zu verdeutlichen, dass der Tod des Anführers in keiner Weise die Linie von Boko Haram verändern oder negative Auswirkungen auf ihre Handlungsfähigkeit haben würde. Über den Radiosender BBC gab sich ein gewisser Umar II als Übergangsführer aus, bevor er erklärte, dass die Bewegung sich künftig „der al-Qaida anschließen“ werde und dass „eine Reihe von Anschlägen sowohl im Norden als auch im Süden des Landes ab August 2009 geplant“ sei, wodurch Nigeria „ein unregierbares Land“ werden würde. Es ist bereits festzustellen, dass die Aktionen der Bewegung auf eine Destabilisierung des Staates oder sogar seine Zerstörung im Hinblick auf die Errichtung eines vielfach erträumten islamischen Staates abzielen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Reaktion der nigerianischen Armee gegen eine Bewegung, die den Staat zu schwächen versucht, notwendig.
Des Weiteren ist zu bemerken, dass Boko Haram in einem Umfeld der Gewalt entstanden ist. Wenn man die Bereitschaft Boko Harams zu Gewalttaten und massiven Anschlägen besser verstehen will, ist es in der Tat von Bedeutung, dass es seit der Gründung der Bewegung bewaffnete Auseinandersetzungen gab. Alles begann, als eine Gruppe von Anhängern sich in den Dörfern Kanamma und Gaidam an der nigerianischen Grenze verschanzte. Sie erschien der Polizei verdächtig, die deshalb mit Gewalt gegen sie vorging. Dort begann der Kreislauf der Angriffe und Gegenangriffe, die bis heute den festgefahrenen Konflikt zwischen Boko Haram und den nigerianischen Sicherheitskräften ausmachen. Der Erfolg der Bewegung weitete sich auch auf die nördlichen Bundesstaaten wie Kano, Katsina, Sokoto und Kobe aus. Das Zentrum Markazim Viertel Ruwan Zafi (Borno) wurde schnell zu einer der ideologischen Hochburgen der Bewegung.
Im Zuge der Massakers vom Juli 2009, die mit der von der nigerianischen Regierung angeordneten Operation Flush Out einhergingen und denen auch Zivilisten der Gegend zum Opfer fielen, begann die Bevölkerung allmählich, sich solidarisch mit den Mitgliedern von Boko Haram zu fühlen. Der Angriff der Polizei auf eine Moschee, in der die Anhänger von Yusuf ihre Versammlungen abhielten, reichte aus, um die Feindseligkeiten in der Nacht des 27. Juli 2009 auszulösen. Der Kreislauf von Anschlägen, Vergeltung und wieder neuen Anschlägen war in vollem Gange, als die Aktivisten von Boko Haram eine bedeutende Polizeistation und einige Amtsgebäude in Damaturu, der Hauptstadt von Yobe, attackierten und sich mit der Polizei schwere Straßenschlachten lieferten. So gelangte die Gewalt in die Großstädte des Nordens, darunter Maiduguri und Kano. Die Polizeikräfte kesselten die Aufständischen von Boko Haram in der Ortschaft Wudil (Kano) ein, mit der traurigen Bilanz von 700 Toten auf Seiten der Polizisten, der Aktivisten der Bewegung, aber auch der Zivilbevölkerung. 3.500 Menschen waren gezwungen, in benachbarte Gebiete zu fliehen.
Genau während dieser Zusammenstöße griffen die Polizei und Teile der Armee die Moschee an, in der Muhammad Yusuf tätig war und seine Vorträge hielt, besser bekannt unter dem Namen Ibn Taymiya Moschee.
Letztendlich erscheint die Radikalisierung von Boko Haram umso besorgniserregender, als sie sich in einem Land entwickelt, das bereits starke ethnische und religiöse Spannungen auszuhalten hat und das in ganz Afrika den höchsten Anteil an Muslimen in der Bevölkerung verzeichnet. Aber gerade jetzt, da die nigerianische Armee, trotz einiger symbolischer Fortschritte die größten Schwierigkeiten hat, die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet zurückzuerlangen und man sich um das Schicksal der nach Kamerun desertierten Soldaten sorgt, ist die Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft rund um das Thema Boko Haram an der Tagesordnung.
Die Afrikanische Union hat sehr wohl verstanden: Die Notwendigkeit einer internationalen Mobilisierung steht nicht mehr zur Debatte, wenn man um die humanitären Krisen weiß, die bereits in den Bundesstaaten Borno und Adamawa ausgebrochen sind, mit unweigerlichen Auswirkungen auf Niger, Kamerun und sogar darüber hinaus.
Die UNO ihrerseits hat großes Interesse daran, das Thema Boko Haram mit absoluter internationaler Priorität zu behandeln. Die Notwendigkeit der Einrichtung einer afrikanischen Armee, die das Vorrücken von Boko Haram stoppen soll, ist mittlerweile Konsens, da die Bedrohung kein Land mehr gleichgültig lässt, schon gar nicht die Länder im Tschadsee-Becken.
Das Phänomen Boko Haram hat bislang unvorstellbare Ausmaße angenommen und überzieht Nigeria mit einer Welle der Gewalt. Ein Klima der Unsicherheit, des Misstrauens und der Angst macht sich breit mit Denunzierungen und Beschuldigungen, welche die Spaltung der Bevölkerung immer mehr vorantreiben.
Insgesamt findet man die gleiche Situation wieder, die auch schon die Beziehungen zwischen den Sicherheitskräften und der Zivilbevölkerung in den nördlichen Regionen Nigerias verdorben hat, wo sich die Bevölkerung offen auf die Seite Boko Harams stellt, die ihr einen besseren Schutz als die Armee oder die Polizei des „weit entfernten“ Staates bietet.
Diese Sicherheitslage, die sich von Tag zu Tag verschlimmert, erreicht auch die Nachbarländer Nigerias. Niger ist fast umzingelt und seine Grenzgebiete leben bereits im Rhythmus des Konflikts zwischen Abuja und den Islamisten von Boko Haram. In der größtenteils jungen Bevölkerung, die unter den Qualen dauerhafter Arbeitslosigkeit leidet, scheint hier und da Sympathie mit den Islamisten aufzuflackern.
Die Präsenz der Gruppe Boko Haram in Niger, wo es bereits Basislager gibt und ein leichter Anstieg zu beobachten ist, bestätigt ihr Ziel: die Kontrolle über die Staatsgebiete von Nigeria, Kamerun und dem Tschad. Angriffe gegen die Armee des Tschad, die ein hohes Ansehen in Afrika genießt, verdeutlichen dies zu Genüge.
Neben seiner strategischen Lage bringt das Tschadsee-Becken als Ort für die Errichtung eines Islamischen Staates gewisse symbolische Voraussetzungen mit: die Ähnlichkeit der ethnischen Gruppen im Umfeld, aber auch die Religiosität der Bevölkerung. Der Regierung von Ndjaména bereitet es insbesondere große Sorge, dass Tausende Tschader, die in den Madrassas im Norden Nigerias studiert haben, sich Boko Haram anschließen. Die jüngsten Rekrutierungen von Tschadern haben die Behörden des Landes in hohem Maße alarmiert. Diese Beunruhigung hat vermutlich den Einsatz der Armee beschleunigt, als wolle man einen Präventivkrieg gegen Boko Haram führen.
Boko Haram ist nicht mehr nur ein nigerianisches Thema, sondern vielmehr ein regionales oder sogar kontinentales Thema. So ist das gesamte Tschadsee-Becken bedroht, teilweise sogar besetzt. Boko Haram hat sich dort niedergelassen, weite Teile der jüngeren Bevölkerung mit ideologischen Reden eingenommen und sich in strategischen Rückzugsgebieten eingenistet. Trotz aller Mutmaßungen über die reelle Stärke Boko Harams und den Zustand ihrer Truppen ist ihr klares Ziel die Kontrolle des Tschadsee-Beckens, einer strategischen Zone, zumindest für die externe Versorgung mit Waffen.
So gesehen scheint die Strategie von Boko Haram gut durchdacht und keineswegs willkürlich zu sein: Die Besetzung des Tschadsee-Beckens und mithin die Positionierung an einer gemeinsamen natürlichen Grenze vierer Länder (Nigeria, Kamerun, Tschad und Niger), die Ausübung starken wirtschaftlichen Drucks durch Kontrolle des Handels und die schrittweise Ausnutzung der durchlässigen Grenzen sowie der Schwäche der Armeen. Die Bewegung hat es für den Moment geschafft, diesen ursprünglich auf Nigeria beschränkten Konflikt auf die Region auszudehnen und ist dadurch zur akuten Bedrohung für die humanitäre Sicherheit rund um ein strategisches Becken geworden, das viel Nährboden für die Instrumentalisierung von Symbolen, Vorstellungen und Religion zugunsten des Ideals eines „islamischen Staates“ im Herzen Afrikas bietet.
Die bevorstehende militärische Intervention mit sicherlich chaotischem Ausgang wird das „Übel“ Boko Haram nicht ausrotten können. Selbst wenn die Symptome dieses nigerianischen Übels mit kontinentalen Auswirkungen verschwinden sollten, würde dies das Problem nicht endgültig lösen. Das Ziel des Bekenntnisses von Boko Haram zum sogenannten Islamischen Staat (IS) ist es vor allem, die Internationale Gemeinschaft in die Falle der Intervention zu locken und dabei gegenüber anderen dschihadistischen Bewegungen und auf internationaler Ebene das Etikett des Dschihadismus zu beanspruchen.
Dr. Bakary Sambe ist Direktor des Observatory on Religious Radicalism and Conflicts in Africa und Wissenschaftler am Center for the Study of Religions der Gaston-Berger-Universität Saint-Louis (Senegal).