Ausgabe: 1/2023
Dass alle Länder bekunden, den Klimawandel auch in der Arktis ernst zu nehmen, Ressourcen nachhaltig nutzen und das Völkerrecht in allen die Region betreffenden Fragen achten zu wollen, kann nicht überraschen. Neben praktisch überall anzutreffenden Allgemeinplätzen bieten diese Strategiepapiere durch ihre Akzentsetzungen aber auch einige interessante Einblicke in die jeweils unterschiedlichen Motive für das Engagement in der Region – oder in das Bild, das sie davon zeichnen wollen.
Ende 2022 veröffentlichten die USA die derzeit jüngste der hier betrachteten Strategien. Der Unterschied zur ältesten hier aufgeführten Strategie – der dänischen aus dem Jahr 2011 – ist besonders mit Blick auf sicherheitspolitische Aspekte deutlich. Taucht Russland in dem dänischen Papier noch als Partner auf, durchzieht die Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine das US-Papier.
Aber auch ohne solche Zeitunterschiede setzen die Strategien unterschiedliche Schwerpunkte: Von der innenpolitischen Konzentration auf die Anliegen von Indigenen (Kanada) bis zum Primat von Sicherheit und wirtschaftlicher Nutzung (Russland), von einem wertebasierten (Schweden) bis zu einem betont nüchtern-interessengeleiteten Ansatz (Norwegen) reicht die Skala. Ein Überblick:
Dänemark (2011)
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Strategie eigentlich für Zeitraum bis 2020 vorgesehen; Neufassung aber nach wie vor nicht veröffentlicht
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Gemeinsames Papier Dänemarks und der Regierungen der Färöer-Inseln und Grönlands, die auf relevanten Feldern (etwa Ressourcennutzung) eigene Kompetenzen haben
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Im Vergleich zu neueren Strategien optimistischer Ton mit Blick auf Sicherheit in der Arktis
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Betonung vertrauensbildender Maßnahmen; aber auch Ziel, eine „Arctic Response Force“ aus den Reihen der eigenen Streitkräfte zu etablieren
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Kooperation mit Russland soll ausgeweitet werden; auch zunehmendes Engagement nordostasiatischer Staaten wird grundsätzlich optimistisch betrachtet
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Schnelle Klärung von Gebietsansprüchen Dänemarks mit Blick auf Festlandsockel vor Grönland angestrebt
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Nutzung fossiler und mineralischer Ressourcen – insbesondere in Grönland – unter Beachtung der Nachhaltigkeit befürwortet; auch begrenzter Walfang auf den Färöer-Inseln und Grönland soll möglich sein
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Allgemeine Außen- und Sicherheitspolitikstrategie aus dem Januar 2022 trägt bereits verschärfter Sicherheitslage Rechnung: Russland als Quelle von Spannungen benannt; „Arctic capacity package“ für Streitkräfte angekündigt
China (2018)
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Ableitung eines Mitspracherechts in Arktisangelegenheiten aus dem Einfluss des Klimawandels in der Arktis auf Ökosysteme in China
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Selbstbezeichnung als „Fast-Arktisstaat“
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Eigenes Engagement in der Arktis streckenweise als geradezu altruistisch angepriesen; Grundprinzipien seien „Respekt“, „Zusammenarbeit“, „Win-Win-Ergebnisse“ und „Nachhaltigkeit“
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Aufbau einer „Polaren Seidenstraße“ gemeinsam mit interessierten Partnern als Ziel; staatliche wie private chinesische Akteure zu Investitionen in Transportinfrastruktur und Erschließung sowie Ausbeutung von Öl-, Gas- und Metallvorkommen ermuntert – unter Beachtung von Nachhaltigkeitskriterien
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UN-Seerechtsübereinkommen und insbesondere die darin enthaltenen Vorgaben für freien Seeverkehr aus Chinas Sicht Mittelpunkt der Arktis-Governance – nicht der Arktische Rat, in dem China kein Vollmitglied ist
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Sicherheitspolitik weitgehend ausgespart, lediglich allgemeines Bekenntnis zu friedlicher Entwicklung auf Grundlage des Völkerrechts
Zhao Lijian, Sprecher des chinesischen Außenministeriums, bei einer Pressekonferenz am 31.08.2022. Quelle: https://bit.ly/3Kuy6tA
Kanada (2019)
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Die Situation der indigenen Einwohner nimmt in der Arktisstrategie Kanadas breiten Raum ein; Verbesserung der Lebensverhältnisse und mehr Teilhabe als Ziel; Aussöhnung ist wichtiges Anliegen
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Status der Nordwestpassage als kanadisches Gewässer wiederholt hervorgehoben
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Verweis auf veränderte sicherheitspolitische Lage in der Arktis; Region „von entscheidender Bedeutung für Sicherheit Kanadas und Nordamerikas“; kanadische Armee wird Teilnahme an multinationalen Übungen in der Region verstärken; Ausweitung militärischer Präsenz und Modernisierung des gemeinsam mit den USA betriebenen North American Aerospace Defense Command (NORAD)
Deutschland (2019)
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Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit und Forschung im Mittelpunkt der deutschen Arktisstrategie
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Mit Blick auf Ressourcennutzung in der Arktis eher restriktiv, wiederholte Forderung nach Ausweisung weiterer Schutzgebiete; dennoch Bekenntnis „zur Einbindung der Arktis in eine diversifizierte Ressourcensicherung“
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Einsatz für „freie Schifffahrt in arktischen Gewässern“ gemäß UN-Seerechtsübereinkommen
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Abschnitt zu Sicherheitspolitik vergleichsweise kurz, unkonkret und unentschieden: Urheber zunehmender Spannungen nicht namentlich genannt („Mehrere Staaten“); NATO und EU sollen sich der sicherheitspolitischen Bedeutung der Arktis stärker widmen, aber: „Jedwede Militarisierung der Arktis lehnt die Bundesregierung ab.“
Schweden (2020)
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Wertebasierte Strategie: Stärkung von Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit in der gesamten internationalen Kooperation zur Arktis, Förderung von Geschlechtergerechtigkeit, Bezug auf „feministische Außenpolitik“
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Beziehungen zu Deutschland wird bei Arktisthemen besondere Relevanz zugeschrieben
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Veränderte sicherheitspolitische Lage in der Arktis klar benannt; Region wie in Zeiten des Kalten Krieges „Trennlinie zwischen westlichen Staaten und Russland“; Strategie sieht Risiko eines Rüstungswettlaufs und plädiert für aufmerksamen Blick auf China und mögliche militärische Zusammenarbeit der Volksrepublik mit Russland bezüglich der Arktis; eigene militärische Fähigkeiten in Nordschweden sollen weiter gestärkt werden
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Kampf gegen Klimawandel und für Umweltschutz wird große Bedeutung beigemessen; eher zurückhaltende Position zu möglicher Förderung von Bodenschätzen; Forderung nach „robusten Regulierungen“ für ein Höchstmaß an Sicherheit bei Öl- und Gasförderung
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Bemühung um „Wiedergutmachung und Versöhnung“ mit dem indigenen Volk der Samen
Russland (2020)
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Strategie definiert zentrale „nationale Interessen“ Russlands in der Arktis, darunter die Sicherung der „Souveränität und territorialen Integrität“, Erhalt der Arktis als „Gebiet des Friedens, der Stabilität und Partnerschaft zum gegenseitigen Nutzen“ sowie die Entwicklung des Nördlichen Seewegs
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Bedrohungen und Herausforderungen für „nationale Sicherheit“: Bevölkerungsrückgang in russischer Arktis, unzureichende Entwicklung, militärische Aufrüstung anderer Staaten sowie „Handlungen anderer Staaten und/oder internationaler Organisationen“, die „legitime ökonomische oder anderweitige Aktivitäten“ Russlands in der Arktis behinderten
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Im wirtschaftlichen Bereich Fokus auf Nutzbarmachung von Ressourcen, Ziele dabei unter anderem: Ausweitung privater Investitionen („unter Aufrechterhaltung der staatlichen Kontrolle über den operativen Prozess“), Verbesserung der Infrastruktur an mit dem Nördlichen Seeweg verbundenen Umschlagplätzen für Bodenschätze, Steigerung der Öl- und Gasförderung
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Ziel einer Verbesserung der militärischen Schlagkraft in der Arktis sowie der Errichtung und der Modernisierung militärischer Infrastruktur
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Besonderheit: Strategie formuliert am Ende Indikatoren für Messung der Umsetzung der Ziele, darunter: Lebenserwartung in der Arktis, Arbeitslosenrate, Anteil der Rohstoffförderung, Volumen der LNG-Produktion oder Anteil moderner Waffen in der Region
Sergei Lawrow, russischer Außenminister, bei einer Pressekonferenz in Moskau im Mai 2021. Quelle: https://bit.ly/3ZUObNL
Norwegen (2021)
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Nüchtern-pragmatische Ausrichtung; klare Hervorhebung nationaler Interessen in Bereichen Wirtschaft und Sicherheit
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Stärkung der Verteidigungsfähigkeit in der Arktis zentrales Anliegen; Investitionen in Kampfflugzeuge, Seeaufklärer, U-Boote; zudem Betonung der Bedeutung von Militärübungen mit den USA und anderen Verbündeten
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NATO als „Eckpfeiler der Sicherheit Norwegens“; Sicherheit basiert auf der „Garantie der Unterstützung durch verbündete Länder im Kriegs- oder Krisenfall“
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Verweis auf Veränderung vormals kooperativer Beziehungen zu Russland etwa durch Krim-Annexion; Modernisierung und Aufrüstung des russischen Militärs als „Herausforderung für Norwegen und verbündete Länder“; gleichwohl Betonung der Relevanz von Spannungsabbau
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Betonung des Potenzials arktischer Ressourcen für Wertschöpfung; Unterstützung für Nutzbarmachung neuer Förder- und Abbaugebiete für Öl, Gas und Erze
Island (2021)
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Islands Arktisstrategie in Form einer Parlamentsresolution mit angehängtem erläuternden Memorandum
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Wachsendes Interesse auswärtiger Staaten an der Arktis grundsätzlich positiv betrachtet, solange diese sich an das Völkerrecht halten und den „Status der acht Arktisstaaten“ achten
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Im Bereich Sicherheitspolitik wird Russland als Hauptauslöser wachsender Spannungen ausgemacht; Russland zwar mit legitimen Sicherheitsinteressen in der Region, Aktivitäten aber deutlich umfassender als zu deren Wahrung nötig
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NATO-Mitgliedschaft und Sicherheitsvereinbarung mit den USA für Island als Staat ohne dauerhafte Armee Hauptsäulen der Verteidigung
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Mit Blick auf Ressourcennutzung eher vorsichtig und mit Priorität auf Umweltschutz; gleichzeitig Bestreben, bei möglichen neuen wirtschaftlichen Chancen durch schmelzendes Eis nicht außen vor zu bleiben
Finnland (2021)
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Vier Prioritäten: Klimawandel, Einwohner, Expertise, Infrastruktur / Logistik; Sicherheit lediglich in Einleitung behandelt
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Für alle Ziele und Maßnahmen expliziter Bezug zu UN-Nachhaltigkeitszielen hergestellt
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Sicherheitspolitische Aussagen in Einleitungsteil eher zurückhaltend: Russland als Quelle erhöhter Spannungen genannt; neben Bezug auf Rolle der eigenen Streitkräfte und der NATO aber Betonung von Dialog und vertrauensbildenden Maßnahmen
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Restriktiver Standpunkt mit Blick auf fossile Brennstoffe aus der Arktis: Erschließung neuer Vorkommen wäre „unvereinbar“ mit den im Pariser Klimavertrag genannten Zielen
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Plan, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission für das indigene Volk der Samen einzurichten
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Nutzung finnischer Expertise beim Wirtschaften unter extrem kalten Wetterbedingungen fördern
Europäische Union (2021)
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Kampf gegen Klimawandel und Umweltzerstörung nimmt wichtige Stellung ein; Stärkung der „Widerstandsfähigkeit der Arktis“ unter anderem durch Umweltvorschriften, aber auch die Forderung nach einem Verzicht auf die Förderung von Öl, Kohle und Gas in der Region; Reduzierung eigener Rußemissionen
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EU strebt nach offiziellem Beobachterstatus im Arktischen Rat
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Ankündigung der Einrichtung eines Büros der Europäischen Kommission in Nuuk für den Ausbau der Beziehungen mit Grönland
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Arktisstaaten als „potenziell bedeutende Lieferanten“ für wichtige Bodenschätze, auch um Abhängigkeiten etwa von China zu reduzieren; Zugang zu ausreichenden Ressourcen für „strategische Autonomie“ der EU von „entscheidender Bedeutung“
Josep Borrell, Hoher Repräsentant der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, 13.10.2021. Quelle: https://bit.ly/3MjfnCr
Indien (2022)
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Rechtfertigung des Anspruchs auf Mitsprache: Veränderungen in der Arktis – insbesondere die Eisschmelze – mit enormen Auswirkungen auf Indiens nationale Entwicklung; zudem große Synergien zwischen Arktisforschung und indischer Erfahrung mit Forschung im Himalaja, dem „dritten Pol“
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Wissenschaft und Forschung mit viel Raum in Indiens Arktisstrategie; konkrete Zielsetzungen wie etwa Ausweitung der bisherigen 180-Tage- auf eine Ganzjahrespräsenz in der indischen Forschungsbasis Himadri
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Erkundung und Förderung von Rohstoffen – etwa fossile Brennstoffe und Mineralien – generell in eher positivem Licht; Ermutigung an staatliche und private Akteure in Indien, entsprechende Investitionen zu tätigen
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Eher indirekte Forderung, die arktischen Seewege für die internationale Schifffahrt frei zu halten („Wahrung des Völkerrechts und insbesondere des UN-Seerechtsübereinkommens, einschließlich der dort enthaltenen Rechte und Freiheiten“)
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Kurzer und recht unkonkreter Abschnitt zum Thema Sicherheit („Sicherheit und Stabilität in der Arktis in Einklang mit internationalen Abkommen stärken“)
USA (2022)
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Vier Säulen: Sicherheit, Klimawandel und Umweltschutz, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, internationale Kooperation und Governance
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Politik gegenüber Russland wichtiger Aspekt: Russland rüste militärisch auf, entwickle neue ökonomische Infrastruktur und wolle die freie Durchfahrt durch „exzessive maritime Ansprüche entlang des Nördlichen Seewegs“ einschränken
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Abschreckung zentraler Bestandteil der sicherheitspolitischen Ausrichtung; Ausweitung der Kooperation mit Verbündeten und Verstärkung der militärischen Präsenz; gleichzeitig Betonung der Bedeutung von Risikominimierung und Vorbeugung ungewollter Eskalation
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Verschiedene „strategische Ziele“ im Bereich Klimaschutz, darunter Unterstützung lokaler Gemeinschaften bei Adaption an und Resilienz gegenüber Klimawandel, Ausweitung der Klimawandelforschung, Schutz arktischer Ökosysteme
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Stärkung der Resilienz US-amerikanischer Lieferketten durch Erkundung des Potenzials für den „nachhaltigen und verantwortungsvollen“ Abbau von wichtigen Bodenschätzen
Antony Blinken, US-Außenminister, beim Ministertreffen des Arktischen Rates am 20.05.2021. Quelle: https://bit.ly/3zw3u4I