Ausgabe: 1/2023
Wenn man über die Volksrepublik China der Vor-COVID-Zeit spricht, dann kommt vor allem die Erzählung des ungebremsten Wachstums und von „Chinas Aufstieg“ zum Tragen. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das (noch) bevölkerungsreichste Land der Erde. Der Staat, der auf Basis sozialistischer Werte rund um den „Kern der Kommunistischen Partei“ die eigene Bevölkerung mit „Wohlstand für alle“ an die Spitze der Welt bringen will. Auch wenn erste Anzeichen einer Überhitzung der chinesischen Volkswirtschaft in jenen Jahren immer wieder Schlagzeilen machten, war das Messaging von Staats- und Parteiorganen im Kern sehr deutlich: Chinas internationaler Aufstieg ist unaufhaltsam.
Mit Xi Jinpings Amtsantritt als Parteivorsitzender im Jahr 2012 und der formellen Ernennung zum Staatschef 2013 wurde immer offensichtlicher, wie stark der Anspruch, die internationalen Strukturen aus einer Großmachtrolle heraus formen zu wollen, Eingang in das Denken der kommunistischen Führung gefunden hatte. Getrieben von einem wachsenden Bedarf an Rohstoffen und technologischem Know-how ist China zu einem Land avanciert, das nach außen immer selbstbewusster auftritt, seine Ambitionen nicht mehr versteckt und für politische Vorhaben unvermindert die Akzeptanz und Unterstützung der Weltgemeinschaft einfordert – so auch beim Engagement in den verschiedenen Regionen der Welt, in denen sich China über die vergangenen zwei Jahrzehnte großen politischen und wirtschaftlichen Einfluss sichern konnte. Lange Zeit etwas im Schatten anderer weltpolitisch dynamischer Regionen rückte auch die Arktis in den Fokus chinesischer strategischer Überlegungen.
China in der Arktis – Genese und Hintergrund
Bereits in den 2000er-Jahren hatte China ein stärkeres Engagement in der Arktis erkennen lassen, als zahlreiche Forschungsvorhaben zwischen chinesischen Einrichtungen und Pendants in Arktisstaaten initiiert und bilaterale Absichtserklärungen mit den Regierungen der entsprechenden Länder unterzeichnet wurden. Auf dieser Basis wurden im arktischen Großraum wissenschaftliche Expeditionen gestartet. Bereits ab 1999 wurden Forschungsfahrten mit dem von der Ukraine erworbenen Forschungseisbrecher „Xue Long“ (Schneedrache) durchgeführt. Chinesische Forschungsinstitute beteiligen sich seither intensiv an der Erforschung des Klimawandels im Nordpolarmeer, so auch im internationalen Projekt MOSAiC unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 20 Nationen teilnehmen. 2003 gründete China mit der Yellow River Station (Huanghe zhan) das erste eigene Polarforschungszentrum im norwegischen Spitzbergen.
2013 wurde China nach jahrelangem Drängen als ständiges Beobachterland in den Arktischen Rat aufgenommen, das wichtigste regionale Gremium zur Behandlung zwischenstaatlicher (aber ausdrücklich nicht sicherheitspolitischer) Themen. Die Volksrepublik erlangte damit jenen Status, den zwölf weitere Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Polen, Südkorea, Singapur und Japan, innehaben, die in der Region stark präsent sind, ohne selbst Anrainerstaaten zu sein. Mit dem Beobachterstatus steht China das Recht zu, an allen Ratssitzungen und durch den Rat organisierten Workshops teilzunehmen. Diese befassen sich vor allem mit Fragen des Klimaschutzes und der nachhaltigen Entwicklung.
Im Vorfeld der Aufnahme Chinas als Beobachter hatte das Land vehement auf das eigene umfangreiche wissenschaftliche und wirtschaftliche Engagement in der Region verwiesen und die Folgen der Erwärmung und Eisschmelze in der Arktis für China und die Welt in den Mittelpunkt gestellt. Mit dem 2018 erschienenen Weißbuch zu Chinas Arktispolitik prägte die Pekinger Führung erstmals das Eigenverständnis, ein „arktisnaher Staat“ zu sein, das seither wie eine vor sich hergetragene Monstranz Chinas „legitimen Interessen“ in der Region Ausdruck verschaffen soll. So heißt es im Weißbuch: „China ist ein wichtiger Akteur in arktischen Angelegenheiten. Geografisch gesehen ist China ein ,Near-Arctic State‘, einer der Kontinentalstaaten, die dem Polarkreis am nächsten sind.“
China versucht damit den Fakt herunterzuspielen, dass es keine Souveränität über arktisches Territorium ausübt, und verweist auf die auch Nicht-Anrainern zustehenden Rechte zu umfassenden Operationen auf Hoher See „im Einklang mit der Rechtsprechung des Seerechtsübereinkommens (…) und dem Völkerrecht“. Da die Charakterisierung, ein „arktisnaher Staat“ zu sein, im internationalen Sprachgebrauch gar nicht existiert und auch nicht offiziell anerkannt ist, wird im Weißbuch vor allem versucht, die direkten Implikationen aufzuzeigen, die die Eisschmelze in der Arktis für das Klima und das Ökosystem in China selbst hat. So werden explizit die direkten Folgen für die chinesische Landwirtschaft, Fischerei, Forstwirtschaft und andere Bereiche im Primärsektor genannt. Auf dieser Basis artikuliert China seinen Anspruch, sich in einer breiten, multilateralen Form der Governance in der Region einzubringen.
In der Praxis hat China im Verlauf der vergangenen 20 Jahre auch seine diplomatischen Avancen gegenüber den acht Arktisländern intensiviert, was durch eine hohe Anzahl hochrangiger Politikerbesuche und die Initiierung von eigenen Track-2-Austauschformaten deutlich wird – also Formaten, die inoffizieller Natur sind und Akademiker, Thinktanks oder Wirtschaftsakteure zusammenbringen. Mit dem Weißbuch macht China deutlich, dass das Land auch Mitsprache in Fragen der regionalen Gestaltung beansprucht. Damit soll verhindert werden, dass sich die regionalen Governance-Strukturen gegen chinesische Ambitionen richten. Dies steht im Einklang mit Chinas aktiv betriebenem Engagement in den globalen Strukturen.
Chinas Drang nach Energie und Rohstoffen
Mit der „Polaren Seidenstraße“ bettet China auch den arktischen Raum in die sogenannte Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative) ein, ein großangelegtes chinesisches Projekt zum Ausbau eines interkontinentalen Infrastruktur- und Handelsnetzes. Die potenziellen Schiffsrouten der „Polaren Seidenstraße“ verlaufen westlich von Grönland entlang der kanadischen Küste (Nordwestpassage), von Skandinavien aus an der sibirischen Küste Russlands entlang (Nordostpassage) und zentral zwischen Spitzbergen und Grönland (Transpolare Route) in die Beringstraße.
Die Routen führen auf ihrem Weg durch die Arktis an Öl- und Gasvorkommen vorbei, wobei genaue Mengen unklar sind und die Frage, ob eine Ausbeutung tatsächlich rentabel ist, von zahlreichen schwer zu prognostizierenden Faktoren abhängt. Als Staat ohne Territorialrechte in der Arktis ist sich Chinas Führung jedenfalls bewusst, dass ein Großteil der Vorkommen in Gebieten lagert, die entweder aufgrund ihrer Lage eindeutig im Besitz der Anrainerstaaten sind oder gemäß Artikel 55 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen als Ausschließliche Wirtschaftszonen (AWZ) gelten, also Meeresgebiet jenseits von Küstengebieten, in dem der jeweils angrenzende Küstenstaat „die Kontrolle über alle wirtschaftlichen Ressourcen“ und damit souveräne Rechte und Hohheitsbefugnisse ausüben kann. Zugang verschaffen sich chinesische staatliche Unternehmen deshalb vor allem über Investitionen in die für den Abbau der Rohstoffe notwendige Infrastruktur. Damit steht man keinesfalls alleine da. Man befindet sich hier in Konkurrenz zu Minenbetreibern aus Ländern wie den USA oder Australien. In anderen Fällen ist man aber auch Anteilseigner und kooperiert mit internationalen Unternehmen bei der Verarbeitung der Rohstoffe – ein Bereich, in dem chinesische Unternehmen die erforderlichen Kompetenzen, vor allem in der nachgelagerten Verarbeitung, besitzen und teilweise gar konkurrenzlos sind. Außerdem wurden in den vergangenen Jahren auf politischer Ebene bilaterale Abkommen ausgehandelt, die China Zugänge zu den reichen Fischvorkommen, zur Erdölförderung oder für die gemeinsame Erschließung von Quellen für Seltene Erden und andere Mineralien ermöglichen.
Insbesondere Grönland und Island standen dabei lange im Fokus der chinesischen Aufmerksamkeit. Kvanefjeld, eine geplante Mine, um deren Öffnung ein erbitterter Kampf zwischen den politischen Parteien in Grönland entstanden ist, war dabei ins Zentrum der großen Debatte um die Zukunft der autonomen, aber formal dem Königreich Dänemark zugehörigen Insel gerückt, in der neben dem Thema Umweltschutz auch immer mehr die Gefahren wachsender Abhängigkeiten von Akteuren wie China thematisiert werden. Shenge Resources, ein chinesisches Staatsunternehmen, hatte bereits 12,5 Prozent der Anteile an dem Projekt erworben, bei dem eine Großzahl von Mineralien vermutet werden, die für die Herstellung elektronischer Bestandteile von Produkten wie E-Autos, Windturbinen und Mobiltelefonen benötigt werden, darunter Scandium und Yttrium, und die ansonsten fast ausschließlich in China zu finden sind. Inzwischen hat sich die politische Diskussion in Grönland aber soweit gedreht, dass auch unter den Wirtschaftsakteuren Ernüchterung eingetreten ist. Mit dem von Grönland verabschiedeten Uranium Act wurde das Projekt aus Umweltgründen dann vorerst auf Eis gelegt.
Dieses Projekt und viele andere Beispiele sind Ausdruck dafür, dass Chinas Engagement vor allem eine Wette auf die wachsende strategische Bedeutung der Region als Handels- und Transportkorridor ist. Mit der weiter voranschreitenden Eisschmelze werden die Schifffahrtsrouten länger im Jahr befahrbar. Mit größerem Transportaufkommen – so die Kalkulation – sinken auch die Transportkosten und würden die kostspieligen Investitionen in den Aufbau von Infrastruktur, Logistik und das wirtschaftliche Engagement vor Ort rentabler machen. China verbindet mit den Polarrouten die Hoffnung, die Handels- und Transportrouten zu diversifizieren und Alternativen für den Fall zu haben, dass die chinesische Schifffahrt einer Blockade der international bedeutenden Straße von Malakka und des in Richtung Mittelmeer und Europa führenden Suezkanals ausgesetzt wäre.
Auf dem Weg zur „polaren Großmacht“?
China sieht sich im globalen Wettbewerb um Zugänge und Navigationsrechte in der Arktis. Bilaterale Abkommen zwischen China und den einzelnen Arktisländern wie Schweden, Norwegen und Dänemark, die es der Volksrepublik erlauben – beziehungsweise lange Zeit erlaubt haben –, eigene Forschungsstationen zu betreiben oder in Kooperation mit den jeweiligen Staaten wissenschaftlich-technologische Forschungsprojekte durchzuführen, waren der Beginn einer umfangreichen Präsenz Chinas. Neben der Erforschung des Klimas sieht man auch eine intensive Zusammenarbeit mit russischen Instituten, unter anderem beim Ausbau der Navigations- und Netzinfrastruktur durch das Anbringen von Unterseekabeln.
Es gibt mittlerweile viele Hinweise darauf, wie weitreichend die Erschließung der Region mittels Anbindung an das chinesische Satellitensystem Beidou vorangeschritten ist und es lassen sich auch Rückschlüsse auf die sicherheitspolitischen Ambitionen Chinas in der Region ziehen. Hier werden nämlich insbesondere die Dual-Use-Eigenschaften, also Kenntnisse, die sich sowohl im zivilen als auch militärischen Bereich nutzen lassen, chinesischer Aktivitäten im Wissenschafts- und Klimabereich sichtbar. Sie unterstreichen die strategischen Intentionen Chinas im Wettbewerb der Großmächte und wurden in den vergangenen Jahren in Reden der politischen Führung weder heruntergespielt noch verheimlicht. Vielmehr hat Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping deutlich gemacht, dass es erklärtes Ziel sei, China bis 2030 zu einer „great polar power“ zu machen.
Dies ist im Kontext der machtpolitischen Überlegungen Chinas keinesfalls überraschend: Die Arktis ist als einer der Räume im Großmachtkonflikt identifiziert, in denen die Kontrolle und Macht über die zukünftige Ordnung noch nicht ausgefochten ist. Chinas Staatsführung sieht hier also eine Chance, die eigenen Ordnungsvorstellungen durchzusetzen. Dabei spielen militärische Präsenz und Machtprojektion eine entscheidende Rolle: 2015 tauchten erstmals fünf Schiffe der Volksbefreiungsarmee vor der Küste Alaskas auf und demonstrierten die Entschlossenheit Chinas, gegenüber den USA und ihren Verbündeten deutlich zu machen, dass in Zukunft auch mit einer wachsenden militärischen Präsenz Chinas in der Arktis zu rechnen sei.
Daneben buhlt China auf bilateraler Ebene auch gezielt um Staaten wie Island und Finnland, die Peking lange Zeit als politisch deutlich neutraler auftretende Akteure wahrgenommen hat. Diese könnten – so das Kalkül der Volksrepublik – gegenüber Staaten wie den USA, Kanada oder auch Schweden und Norwegen, die Chinas Engagement in der Arktis längst mit viel Argwohn betrachten, beschwichtigend auftreten und auch die Entscheidungen des Arktischen Rates in diesem Sinne beeinflussen. Aus chinesischer Perspektive wird deswegen vor allem die Einbindung der Region in Chinas globales Projekt der Neuen Seidenstraße vorangetrieben, in dem die Diversifizierung der Transportwege zu einem zentralen Ziel erhoben worden ist, um Chinas Versorgungsmöglichkeiten auf verschiedene Land- und Wasserwege verlagern zu können. Auch hier gibt es aus dem innerchinesischen militärischen Diskurs viele Hinweise darauf, dass China dem auch eine sicherheitspolitische Dimension beimisst. Im Falle eines direkten militärischen Konflikts lassen sich Versorgungsrouten auch militärisch nutzen. Zugänge zu Hafenanlagen und für Logistik eingerichteten Terminals sind deswegen von besonderem Interesse.
Die „Polare Seidenstraße“
Die Verschiebungen der sicherheitspolitischen Achsen mit dem Ausgreifen Russlands und der Annexion der Krim 2014 hatte bereits spürbare Auswirkungen auf die militärische Dynamik in der Arktisregion. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 hat sich die Spaltung zwischen Russland und den anderen Anrainerstaaten weiter vertieft. Die gegenwärtig vollzogene Neuausrichtung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland trifft ganz konkret auch die engen Beziehungen zwischen Russland und China und das sich daraus ableitende Verhältnis des Westens zu den beiden Akteuren.
Das Bild chinesischer Investitionen zeigt sich dabei sehr vielschichtig. So sind chinesische Staatsunternehmen weiterhin an zahlreichen Projekten in der Region beteiligt, andere Vorhaben wurden vonseiten der Anrainerstaaten aufgrund von Sicherheitsbedenken oder umweltrechtlichen Bestimmungen auf Eis gelegt. Auch fehlendes finanzielles Commitment auf chinesischer Seite ist ein Grund, warum manche Projekte ausgesetzt oder storniert wurden. Im 14. Fünfjahresplan, der im März 2021 auf dem Nationalen Volkskongress verabschiedet wurde, wird die wachsende Bedeutung der Arktis (und auch der Antarktis, wo China bereits seit den 1980er-Jahren aktiv und seit 1985 Konsultativstaat des Antarktisvertrags ist) für Chinas Ziel, eine „maritime Großmacht“ zu werden, unterstrichen. Beide Polarregionen werden in einem Atemzug mit der Tiefsee, dem Weltraum und dem Cyberspace als „strategic new frontiers“ ausgemacht, in denen China sich in Konkurrenz zu den USA und anderen Mächten längst in einem Kampf um Einfluss und die Gestaltung der Spielregeln wähnt und umfangreiche finanzielle Ressourcen bereitstellt.
Die Nutzung der Nordostpassage durch Cargo-Schiffe steckt noch in der Frühphase und die Auslastung ist gering. Die Schiffe, die seit 2015 regelmäßig fahren, sind vor allem solche der chinesischen Reederei China COSCO Shipping Corporation. Im Jahr 2018 kam COSCO für sieben von insgesamt zwölf Frachtfahrten von Cargo-Schiffen auf, die die an der sibirischen Küste vorbeiführende Passage nutzten. Diese spielt im Rahmen der Neuen-Seidenstraße-Initiative vor allem eine wichtige Rolle für den Transport von Erdgas von der russischen Anlage Yamal LNG nach China, ist im Winter aber nur unter Einsatz von Eisbrechern nutzbar.
Russland und China: Die Arktis als Ort gemeinsamer strategischer Interessen?
Chinesische Staatsunternehmen halten 20 Prozent der vom russischen Energiekonzern Novatek kontrollierten Flüssigerdgasanlage Yamal LNG und sichern China zukünftig jährliche Lieferungen in Höhe von circa vier Millionen Tonnen Flüssiggas. Die chinesische Beteiligung hilft Russland gleichzeitig beim Auf- und Ausbau der in der Region aufgrund der geografischen Bedingungen technisch komplizierten und kostenintensiven Förderung der Flüssiggasvorkommen. Im Zuge der geopolitischen Verwerfungen zwischen dem Westen und Russland haben die Energieausfuhren nach Asien und hier vor allem nach China für Moskau an Bedeutung gewonnen, sind ihm die westlichen Energieabnehmer doch im Rahmen der Sanktionen weitestgehend abhandengekommen. So stieg das Niveau der Energieimporte Chinas aus Russland seit Februar 2022 deutlich. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges lag der Wert der monatlichen Energieimporte Chinas aus Russland im Schnitt 20 Prozent höher als im Vorjahr.
China und Russland haben im vergangenen Jahrzehnt eine ganze Bandbreite an Forschungs- und Entwicklungsprojekten in der Arktis vorangebracht. Im Zentrum der wissenschaftlichen Initiativen stehen dabei Forschungseinrichtungen, die sowohl auf russischer als auch auf chinesischer Seite enge Anbindungen an das Militär aufweisen. So widmen sich gemeinsame Aktivitäten beider Staaten unter anderem der Erforschung von Unterwasserakustik, einem als Schlüsseltechnologie geltenden Bereich zum Aufspüren von Marineaktivitäten. Auch im Bereich der satellitenbasierten Navigation haben beide Länder erhebliche Schritte zur Integration ihrer Systeme vorgenommen, was vor allem darauf hindeutet, dass sie auch im Austausch geheimdienstlicher Daten aktiv sind.
Fast selbstverständlich wurden auch nach der russischen Invasion der Ukraine gemeinsame Militärmanöver der russischen und chinesischen Seestreitkräfte fortgesetzt. Bei den Übungen, die die beiden Militärs zusammen im September 2022 abhielten, standen beispielsweise die „Befähigung zu gemeinsamen taktischen Manövern, die Stärkung der gegenseitigen Kommunikation, Übungen mit Artilleriebeschuss und Flüge von schiffsgestützten Hubschraubern“ im Mittelpunkt. Während Chinas wachsende Bedeutung in der Arktis keinesfalls immer kongruent mit Russlands Interessen verläuft, verstärken die wachsenden Abhängigkeiten Moskaus von Peking die gemeinsamen geostrategischen Ambitionen Chinas und Russlands, den Einfluss der USA auf die anderen Anrainerstaaten auszubalancieren und militärisch und wirtschaftlich die Kontrolle über weite Teile der polaren Seefahrtstraßen auszubauen.
Die Arktis der Zukunft: Wie umgehen mit China?
In der deutschen und europäischen Diskussion ist die sicherheitspolitische Dimension der Arktis mit Russlands Ausgreifen und der gewachsenen russisch-chinesischen Zusammenarbeit mittlerweile in den Mittelpunkt gerückt. „So wird anerkannt, dass durch potenzielle Konflikte in der Arktis und die zunehmende Militarisierung der Region auch deutsche Sicherheitsinteressen berührt werden.“ Die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, beinhalten deswegen auch, dass Europa sich stärker einbringen muss, insbesondere was die substanzielle militärpolitische Zusammenarbeit mit den Nordischen Ländern und die Stärkung der Resilienz der nordischen Gesellschaften angeht. Angebote zur Unterstützung sollten aktiv aus dem Kreis der EU- und NATO-Verbündeten gestaltet werden und den Fokus vor allem auf eine komplementäre Unterstützung der Anrainerstaaten, hier insbesondere der Nordischen Länder, legen. Deutschland kann hier einen wichtigen Beitrag, unter anderem im Rahmen des Strategischen Kompasses der EU, leisten und damit unterstreichen, dass die Verbündeten aktiv darin unterstützt werden, die regelbasierte Ordnung und freie Navigation in den internationalen Gewässern der Arktis zu verteidigen.
Gerade mit Blick auf die intensiven Bemühungen Chinas, gemeinsam mit Russland initiierte Forschungsvorhaben voranzutreiben, die eine Über- und Umsetzung maritimer und nautischer Fähigkeiten in die militärische Anwendung erlauben, müssen die langfristigen Intentionen Chinas (hier im Zusammenspiel mit Russland) erkannt werden, das Machtgefüge im arktischen Raum, aber auch in der Ostsee und im Nordatlantik zu verändern. Dies trifft insbesondere auf die strategische Konzentration der chinesischen Marine auf die maritimen Handels- und Verkehrswege in diesen wichtigen Gewässern zu.
Deswegen bleibt es von fundamentaler Bedeutung, Informationen und Erfahrungen aus unseren eigenen Diskussionen mit China mit jenen Beobachtungen zu verknüpfen, aus denen sich die machtpolitischen Absichten Chinas ablesen lassen. Dazu zählt auch Chinas Vorgehen in der eigenen Nachbarschaft – mit Blick auf Taiwan sowie das Ost- und Südchinesische Meer. Diese hier ablesbaren Mechanismen müssen systematisch analysiert und herausgearbeitet werden. Sie geben zwar noch keinen Hinweis darauf, wie weit die Volksrepublik gewillt ist, auch im arktischen Raum die eigenen Interessen so offen zu formulieren und militärisch zur Schau zu stellen. Sie lassen aber Rückschlüsse zu, inwieweit China bereit ist, die USA und das westliche Bündnis auch in anderen Regionen offensiv herauszufordern. Sie bieten außerdem Aufschluss darüber, mit welchen Methoden es China gelingt (oder eben auch nicht), Forderungen gegenüber Anrainerländern geltend zu machen.
Nicht zuletzt mit dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei im Novemer 2022 zeichnet sich deutlich ab, dass sich das Denken der Führung in Peking weiter entlang der Hauptkategorien „gesellschaftliche/nationale Stabilität“ und „nationale Sicherheit“ orientiert. Im Kern bleibt die Kommunistische Partei Chinas in ihrem ideologischen Gefängnis stecken. Sie sieht sich in einem „Kampf mit dem Westen“. Eine Schlussfolgerung muss deshalb sein, dass Kooperation mit China in internationalen, auch regionalen Themenfeldern kaum möglich sein wird, ohne die strategischen Interessen Chinas im Kern zu verstehen und einordnen zu können.
Mit Blick auf das wachsende Engagement Chinas in der Arktis heißt das, dass die EU gefordert ist, die Nordischen Länder auch auf Basis der nachrichtendienstlichen Vernetzung darin zu unterstützen, Chinas maritime Fähigkeiten und die sich daraus speisenden chinesischen Machtprojektionen realistisch einordnen zu können. Gerade mit Blick auf die Verkürzung von Handelswegen über die Polarrouten (hier vor allem über die Nordostpassage) und das Einsparpotenzial beim CO2-intensiven maritimen Gütertransport müssen Deutschland und Europa alles daran setzen, beim Aufbau der satellitengestützten Navigationsfähigkeiten zur Erfassung der Arktis nicht ins technologische Hintertreffen zu geraten. Hier gilt es, die eigenen Navigationsfähigkeiten substanziell zu verbessern und so aufzustellen, dass sie im Falle eines Konflikts nicht einfaches Ziel militärisch-hybrider Operationen werden können.
David Merkle ist Länderreferent für China in der Abteilung Asien und Pazifik der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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