Ausgabe: 4/2016
Nur wenige Kilometer trennen die Europäische Union an der schmalsten Stelle des Mittelmeers von einer Region, die sich in den letzten Jahren von einem Gebiet mit einzelnen Konfliktzonen zu einer großflächigen Krisenzone entwickelt hat: Nordafrika und der Nahe Osten. Die Region, auch in Deutschland unter dem englischen Kürzel „Mena“ bekannt, umfasst von Marokko bis Oman, von Katar bis Jemen 19 Staaten, die mit Ausnahme Israels muslimisch geprägt sind und deren gesellschaftliche Entwicklung höchst unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Das Gebiet bestimmen historisch bedingte Konflikte, willkürliche Grenzziehungen nach der Kolonialzeit, die Folgen des Kalten Krieges, der Kampf um Rohstoffe, innerarabische und innerreligiöse Auseinandersetzungen sowie der Konflikt zwischen Israel und Palästina, der am längsten derzeit existierende Unruheherd der Welt. Die Mena-Region zählt damit zu einer der politisch instabilsten Regionen der Welt. Dazu haben nicht nur schlechte Regierungsführung, Korruption sowie religiöse und ethnische Konflikte beigetragen. Die Gründe für die Instabilität finden sich auch in den demografischen und gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre.
Wie politische Stabilität und Bevölkerungswandel zusammenhängen – eine Analyse
Wie in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern sind auch in den Mena-Ländern in den vergangenen Jahren die Kinderzahlen je Frau zum Teil deutlich gesunken. Dadurch ist der Anteil der Erwerbsfähigen in den Gesellschaften gestiegen. Gleichzeitig haben sich Einschulungsraten und Bildungswerte verbessert.
Die Sozialwissenschaften sind sich einig darin, dass Veränderungen wie diese großen Einfluss auf die politische Stabilität nehmen. Uneins sind sie allerdings darüber, ob sie sich eher positiv oder negativ auswirken. Zwei Theorie-Schulen treffen hierbei unterschiedliche Aussagen: Die erste, ökonomisch orientierte Schule geht davon aus, dass große Anteile junger, arbeitsfähiger Menschen, in der Fachliteratur als Youth Bulge bezeichnet, einen wirtschaftlichen Aufstieg und wachsenden Wohlstand ermöglichen und somit politische Stabilität erzeugen. Gelingt es, diese Menschen mit Arbeitsplätzen zu versorgen, lässt sich entsprechend dieser Theorie eine „demografische Dividende“ erzielen. Die jungen Leute können in diesem Fall einen ökonomischen Aufschwung erreichen und auf diesem Weg politische Stabilität erzeugen. Die asiatischen Tigerstaaten gelten als Musterbeispiele für diese Entwicklung. Laut der Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung „Krisenregion Mena. Wie demografische Veränderungen die Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika beeinflussen und was das für Europa bedeutet“ zeigt sich dieser Zusammenhang sogar weltweit, besonders in den Entwicklungsländern – jedoch nicht in der Mena-Region.
Dort finden sich dagegen Beweise für die zweite, konflikttheoretisch geprägte Schule. Deren Annahmen zufolge wirkt eine rasche Veränderung der Bevölkerungsstruktur destabilisierend. Ein Youth Bulge bedeutet entsprechend keine Chance, sondern ein hohes Risiko: Wenn es nicht gelingt, dem großen Anteil junger Erwachsener gute Arbeitsmöglichkeiten und damit einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, neigen sie dazu, gegen die Missstände notfalls auch mit Gewalt aufzubegehren. Dies ist umso mehr der Fall, je besser diese Personen gebildet sind und keinen Weg sehen, ihr Talent und ihre Leistungsbereitschaft gewinnbringend einzusetzen. Eben diesen gefährlichen Entwicklungspfad, so die Ergebnisse der Studie des Berlin-Instituts, haben die Mena-Länder eingeschlagen – und damit gehen sie einen Sonderweg.
In Mena führt mehr Bildung nicht zu mehr Stabilität
Während die Modernisierungsprozesse der Gesellschaft durch demografischen Wandel und Verbreitung von Bildung anderswo zu wirtschaftlichem Aufschwung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zu mehr politischer Stabilität geführt haben, lassen sich diese Effekte in den Mena-Ländern nicht beobachten.
Im Gegenteil, in dieser Region steigt mit dem Anteil der besser Gebildeten in der Erwerbsbevölkerung das Risiko der politischen Instabilität. Bildung, die andernorts den Einstieg in höhere Wertschöpfung bedeutet, führt in Mena eher zu Konflikten. Je stärker in den Mena-Ländern der gesamtgesellschaftliche Bildungsgrad anstieg, desto geringer war im Untersuchungszeitraum der Grad der politischen Stabilität. Die Region hat es also bislang nicht geschafft, das wachsende Humanvermögen für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Stattdessen scheint ein wachsender Anteil an besser Qualifizierten die Unruhe in der Bevölkerung zu schüren. Das eigentliche Potenzial der vielen jungen Erwerbsfähigen wird somit nicht genutzt.
Man könnte aus diesem Ergebnis schließen, dass es für die Mena-Länder besser sei, den Bildungsgrad ihrer Einwohner möglichst niedrig zu halten, um keine politische Instabilität zu riskieren. Doch Bildung ist aus gutem Grund ein Menschenrecht. Sie bietet die Grundlage für informiertes, selbstbestimmtes Handeln und gibt den Menschen die Chance, innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen ihr Leben bestmöglich zu gestalten. Geringe Bildung führt auch zu hohem Bevölkerungswachstum, welches wiederum die Lösung der meisten Probleme in den betroffenen Ländern weiter erschwert.
Damit die Mena-Region diesen gefährlichen Entwicklungspfad verlassen kann, müsste es gelingen, Bildung von einem Risiko- in einen Erfolgsfaktor zu verwandeln. Um herauszufinden, wie dies zu schaffen wäre, lohnt ein genauerer Blick auf die derzeitige wirtschaftliche und politische Verfasstheit der Länder sowie auf die prognostizierten demografischen und sozioökonomischen Veränderungen bis ins Jahr 2030. In seiner Studie hat das Berlin-Institut mithilfe einer Clusteranalyse zwei Gruppen von Ländern identifiziert, die sich hinsichtlich dieser Merkmale stark ähneln. Die erste Gruppe besteht aus 13 im Schnitt eher instabilen Staaten und die zweite aus sechs eher stabilen Staaten.
Jobmangel stellt Mena-Staaten vor wachsende Probleme
In den instabileren Ländern Ägypten, Algerien, Iran, Irak, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Palästinensische Gebiete, Syrien und Tunesien leben mit heute rund 363 Millionen Menschen 86 Prozent der Mena-Einwohner. Dieser Anteil dürfte in den kommenden 15 Jahren stabil bleiben, die Gesamtbevölkerung dieser Länder aber um 95 Millionen wachsen. Das Bildungsniveau insgesamt dürfte steigen. Starke Veränderungen sind auch innerhalb der Altersgruppen dieser Länder zu erwarten. Der altersmäßige Schwerpunkt der Bevölkerung schiebt sich künftig in die höheren Altersgruppen. Da gleichzeitig immer mehr junge Leute eine weiterführende Schule oder gar eine Universität besuchen, fällt das Wachstum der Gruppe der besser gebildeten 20- bis 29-Jährigen hoch aus – mancherorts steigt deren Bevölkerungsanteil um beinahe die Hälfte des heutigen Wertes.
Damit diese Gruppe wie in anderen Staaten der Welt zur Stabilität beitragen kann, müssen die Mena-Länder den jungen, leistungsfähigen Berufseinsteigern die Möglichkeit geben, ihre Fähigkeiten gewinnbringend einzusetzen. Es genügt nicht, sie mit einfachen Jobs zu versorgen, denn dort reichen die Gehälter kaum aus, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Da die meisten dieser Jobs informell sind, bieten sie außerdem keinerlei soziale Absicherung. Beides sind ungünstige Bedingungen für den Start ins Erwachsenenleben und können große Unzufriedenheit in der jungen Bevölkerung hervorrufen.
Wie schlecht derzeit die Chancen von jungen Leuten auf dem Arbeitsmarkt sind, zeigt sich in den Arbeitslosenquoten. Von den 15- bis 24-Jährigen, die offiziell eine Beschäftigung suchen, hat in Libyen beinahe die Hälfte keinen Arbeitsplatz. In den Palästinensischen Gebieten sind es 41, in Tunesien 38 Prozent. In Ägypten arbeiten drei Viertel aller 15- bis 29-Jährigen in sogenannten irregulären Arbeitsverhältnissen ohne vertragliche Absicherung. Die Hälfte von ihnen würde gerne ihren Job wechseln. Mehr als jeder zehnte arbeitende Marokkaner zwischen 15 und 24 Jahren gilt als unterbeschäftigt, würde also gerne mehr arbeiten als derzeit möglich.
Besonders schlecht sind die Chancen junger Frauen. Sie sind mit höherer Wahrscheinlichkeit arbeitslos und begeben sich aufgrund familiärer Verpflichtungen häufig gar nicht erst auf den Arbeitsmarkt. Nicht einmal 20 Prozent der jungen syrischen Frauen zwischen 25 und 34 Jahren arbeiten oder suchen nach einer Beschäftigung, im Vergleich zu über 90 Prozent der Männer.
In den Mena-Ländern, welche heute eher politisch stabil sind und es gemäß den prognostizierten demografischen und sozioökonomischen Entwicklungen auch bleiben dürften, leben mit 58 Millionen rund 14 Prozent aller Bewohner der Mena-Region. Dabei handelt es sich mehrheitlich um ölreiche Golfstaaten – Bahrain, Kuwait, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – sowie um Israel. Die Bevölkerungszahl der Länder dürfte bis ins Jahr 2030 auf beinahe 72 Millionen steigen. Der derzeit hohe Jugendanteil dürfte in diesen Ländern zurückgehen, ihre absolute Zahl jedoch weiter zunehmen. Das bereits relativ hohe durchschnittliche Bildungsniveau dürfte im Vergleich zu den anderen Mena-Ländern kaum noch steigen.
Aus diesem Blickwinkel erscheint es wahrscheinlich, dass diese Länder auch in Zukunft politisch stabil bleiben. Probleme bereitet ein anderer, nicht demografischer Aspekt: Finanziert über hohe Gewinne aus Rohstoffverkäufen alimentieren die dortigen Regierungen ihre Bevölkerung derzeit ohne wesentliche Gegenleistung, unter anderem, indem sie diese in einem aufgeblähten Verwaltungsapparat mit unverhältnismäßig hoch vergüteten Arbeitsplätzen beschäftigen. Angesichts sinkender Rohstoffpreise und dem bis 2050 anvisierten weltweiten Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung steht dieses Geschäftsmodell aber zunehmend in Frage. Dies gilt nicht für Israel, das mit seinem sehr hohen Bildungs- und Entwicklungsstand unter den Mena-Ländern ohnehin eine Sonderrolle einnimmt. Den Ländern am Golf aber fällt es zunehmend schwerer, Wohlstand zu garantieren und der wachsenden einheimischen Bevölkerung eine Beschäftigung in Aussicht zu stellen.
Bislang werden die meisten Tätigkeiten in der Privatwirtschaft von einer im Ausland angeworbenen Bevölkerung ausgeführt – nicht nur im Häuser- und Straßenbau, sondern auch in wissensintensiven Bereichen, etwa im Bankensektor oder in der Forschung. Letztgenannte Bereiche könnten für Einheimische eine attraktive Alternative zum öffentlichen Sektor darstellen. Doch bislang bereiten die Schulen und Universitäten kaum auf diese Tätigkeiten vor, sodass die einheimische Bevölkerung nicht mit der weltweiten Konkurrenz Schritt halten kann.
Trotz recht guter demografischer Vorzeichen steht damit auch die Gruppe der derzeit stabileren Länder großen Risiken für die politische Stabilität gegenüber. Finden sie nicht sehr bald ein Wirtschaftsmodell, das den Wohlstand nach dem Öl- und Gas-Zeitalter sichert und gut bezahlte Arbeit für die Einheimischen schafft, könnten auch diese Länder aus der Balance geraten.
Handlungsbereiche für die Mena-Staaten
Um mehr politische Stabilität zu erreichen, müsste es den Mena-Ländern gelingen, von ihrem Bevölkerungspotenzial zu profitieren und die Vielzahl formal gut qualifizierter Menschen in produktive Arbeit zu bringen – ganz unabhängig davon, ob die Staaten heute als stabil oder instabil gelten.
Eine Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2011 vermittelt eine Idee davon, wie schwierig es werden dürfte, an dieser Lage etwas zu ändern: Um alleine in den Mena-Ländern außerhalb der Golf-Region die Arbeitslosenquote nicht weiter steigen zu lassen, hätten sie seit 2011 über sechs Millionen neue Jobs schaffen müssen. Bis 2030 wären über 22 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze notwendig. Deutlich schwieriger wäre es, wollten die Länder die Arbeitslosigkeit des Jahres 2011 halbieren (was dringend geboten wäre) und gleichzeitig die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen auf ein immer noch niedriges Niveau von 35 Prozent erhöhen. Dann hätten alleine zwischen 2011 und 2015 fast 25 Millionen Jobs entstehen müssen, bis 2030 wären weitere 67 Millionen notwendig. Damit dies gelingt, wären Investitionen in Billionenhöhe notwendig. Viele Mena-Länder können die dafür notwendigen Mittel alleine kaum aufbringen und sind auf externe Hilfe angewiesen. Doch die Investitionen würden sich für alle Beteiligten inner- und außerhalb der Region lohnen.
Denn wenn sich die Mena-Länder weiter so schlecht wie bisher entwickeln und ihr wachsendes Humankapital ungenutzt lassen, dürfte dies die vielerorts kritische Lage weiter verschärfen. Die Folge wären weitaus hö here finanzielle, sicherheitspolitische und humanitäre Kosten. Es ist deshalb wichtig, in der Mena-Region Voraussetzungen zu schaffen, die für eine Beschäftigung der wachsenden jungen Erwerbsbevölkerung sorgen können. Der öffentliche Sektor kommt aus den beschriebenen Gründen dafür immer weniger in Frage. Die anstehenden Herausforderungen müssen deshalb überwiegend durch den Privatsektor gestemmt werden.
Doch bislang sind die meisten Volkswirtschaften der Region kaum in der Lage, auf den Weltmärkten zu konkurrieren. Die Mena-Länder sind vielerorts geprägt von einer weitgehend vorindustriellen Wirtschaft mit geringem Diversifizierungsgrad und niedriger Produktivität. So stellt außerhalb der Golfregion die Landwirtschaft etwa jeden fünften Job, während deren Beitrag zur Wirtschaftsleistung deutlich geringer ist. Weil die Landwirtschaft kaum Gewinne abwirft, leben die dort Beschäftigten häufig unterhalb der nationalen Armutsgrenze ohne jegliche soziale Absicherung. Ähnlich kritisch sieht es im Dienstleistungsbereich aus. Dieser stellt über alle Länder hinweg die meisten Arbeitsplätze. Es handelt sich dabei allerdings nicht um moderne Beschäftigungsmöglichkeiten, sondern um Arbeitsplätze mit geringer Wertschöpfung. Hinter den vielen Dienstleistungsjobs verbergen sich oft informelle Kleinstunternehmer mit geringen Einnahmen wie Obstverkäufer oder Fahrradkuriere. Oder es sind Arbeitsplätze im aufgeblähten Verwaltungsapparat.
Um eine ausreichende Zahl bezahlter, formeller Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und so politische Stabilität zu erzeugen, sind Veränderungen in drei Bereichen besonders wichtig:
Erstens gilt es, das Unternehmertum zu stärken, sodass es bezahlte Arbeit schafft. Erfolgreiche, wettbewerbsfähige Unternehmen entstehen meist auf Basis innovativer Ideen. Deshalb gilt es zweitens, die Kreativität der jungen Menschen durch gute Bildung zu fördern und sie auf die Bedürfnisse der Privatwirtschaft vorzubereiten. Denn trotz eines Überangebots an Arbeitssuchenden finden bestehende Firmen oft nicht das passende Personal. Dieser Mangel wird dadurch verstärkt, dass Frauen trotz formal häufig hohen Bildungsniveaus nur selten beschäftigt sind. Deshalb gilt es drittens, Frauen gleichberechtigt zu behandeln und von Arbeit bis Politik an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.
Unternehmertum
Weltweit sind kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) die Wachstumsmotoren der Wirtschaft und damit auch der Arbeitsmärkte. Zwar handelt es sich in weniger entwickelten Ländern bei KMU häufig um Kleinstunternehmen mit wenig Wachstumsperspektive und kaum Personal. Aber unter allen Neugründungen finden sich in den meisten Ländern etwa vier Prozent Unternehmer, welche innerhalb ihrer Gründungsphase für rund die Hälfte der entstehenden Jobs im Land sorgen.
Die Gründungsrate in der Mena-Region liegt niedriger als in jeder anderen Weltregion mit Ausnahme Subsahara-Afrikas. Hinzu kommt, dass der Anteil der Unternehmen, die planen, zu wachsen und in den kommenden Jahren ihre Mitarbeiterzahlen deutlich zu erhöhen, ebenfalls gering ist.
Dazu tragen unterschiedliche Faktoren bei: Ein Großteil der Selbständigen in der Mena-Region ist aus der Not heraus aktiv. Viele von ihnen bieten einfache Waren und Dienstleistungen an, für die sie keine relevanten Kenntnisse benötigen. Ein Unternehmertum, das ähnlich dem deutschen Mittelstand weltweit gefragte Produkte fertigt, viele Arbeitsplätze und damit Wohlstand sowie eine breite Mittelschicht schafft, gibt es bislang nicht.
Generell mangelt es in der Region an einer unternehmerischen Kultur und risikobereiten Neugründern. Zwar haben viele junge Leute mittlerweile eine Unternehmensgründung als Alternative zu einer Anstellung erkannt. Aber den Schritt in die Selbstständigkeit wagen sie trotzdem selten – oft, weil ihnen die eigenen Familien im Wege stehen, welche ihre Kinder lieber im Staatsdienst als in der Privatwirtschaft untergebracht sehen wollen. Wie groß die Vorbehalte sind, zeigt die Arbeit des Vereins enpact. Dieser bringt in Mentorenprogrammen Junggründer aus der Mena-Region, Österreich und Deutschland zusammen. In einigen Mena-Ländern kümmert sich der Verein inzwischen nicht mehr nur um die Teilnehmer der Programme selbst, sondern hat auch Elternkurse eingeführt, um Ängste abzubauen und um die Vorteile einer Selbstständigkeit deutlich zu machen. Die Jungunternehmer ihrerseits erlernen bei den enpact-Seminaren, was sie bei der Verwirklichung ihrer Unternehmensideen beachten müssen. Angebote wie diese sind wichtig, denn die Ausbildung in der Mena-Region bereitet bislang kaum auf eine selbständige Tätigkeit vor.
Vor allem die Universitäten nehmen ihre Möglichkeiten, Forschungsergebnisse in Produkte und erfolgreiche Unternehmen zu überführen, kaum wahr. Da Wissenschaft und Wirtschaft wenig zusammenarbeiten, können sich Wirtschaftsbereiche mit höherer Wertschöpfung kaum entwickeln. In vielen Mena-Staaten entstehen deshalb jetzt Innovations- und Technologiezentren. In Marokko etwa hat die Regierung im Jahr 2009 14 Städte definiert, die zu Innovationszentren ausgebaut werden sollen. Ziel ist, ab 2014 jährlich 100 Startup-Unternehmen zu gründen und die Zahl neuer Patente von einem Niveau von 316 im Jahr 2013 auf jährlich 1.000 zu steigern.
Doch damit sich ein lebendiges Unternehmertum entfalten kann, müssen sich auch die strukturellen Rahmenbedingungen umfassend verbessern. Selbst wenn potenzielle Neugründer eine vielversprechende Idee haben, werden sie eher daran gehindert, diese umzusetzen. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Vetternwirtschaft (Wasta). Diese erleichtert es alteingesessenen Unternehmen, auch mit kaum wettbewerbsfähigen Produkten zu überleben. Junge Firmen ohne entsprechende Netzwerke erhalten nur schwer Zugang zu Baugenehmigungen, müssen höhere Kosten für Transport, Kommunikation, Finanzdienstleistungen und Energie in Kauf nehmen und sind im Gegensatz zu ihren Konkurrenten häufig Ziel von Steuerüberprüfungen. Zusätzlich zu diesen schikanösen Praktiken stellen auch die offiziellen Rahmenbedingungen Hürden für das Unternehmertum. Dies geht aus dem Ease of Doing Business Index der Weltbank hervor. Dieser misst die strukturellen Existenzbedingungen für Unternehmen, von der Möglichkeit, eine Firma anzumelden, bis zur Abwicklung von Insolvenzen. Acht der 19 Mena-Länder schneiden darin im unteren Drittel von 189 Ländern ab, neun im Mittelfeld und nur zwei (die Vereinigten Arabischen Emirate und Israel) im oberen Drittel.
In den meisten Mena-Ländern krankt das Unternehmertum zudem an einer maroden Infrastruktur. Langsame Internetverbindungen, schlechte Straßen, überlastete Stromnetze und unzuverlässige Wasserversorgung hemmen insbesondere Unternehmen in Branchen am oberen Ende der Wertschöpfungskette. Dies ist nicht nur das Ergebnis mangelnder Investitionen, sondern auch politischer oder gar moralischer Erwägungen: In Iran etwa stehen die unter dem religiösen Führer Ayatollah Chamenei betriebene Online-Zensur und die Sorge vor dem moralischen Verfall der Jugend durch die verstärkte Internetnutzung im Widerspruch zum Aufbau einer Digitalwirtschaft. Noch bis vor Kurzem galt das iranische Internet als eines der langsamsten weltweit. Entgegen dem Willen der religiösen Führung setzt sich der derzeitige Präsident Rohani jedoch für mehr Freiheit im Netz sowie für einen Ausbau der digitalen Infrastruktur ein. Seit Beginn seiner Amtszeit ist der Bevölkerungsanteil mit Internetzugang immerhin um fast zehn Prozentpunkte auf 39 Prozent gestiegen.
Nicht zuletzt mangelt es oft am notwendigen Startkapital. Schätzungen zufolge verfügen gerade einmal 20 Prozent aller KMU über Zugang zu Krediten – in Lateinamerika sind es 40 Prozent. Viele Start-up-Gründer finanzieren sich in der Gründungsphase durch private Ersparnisse oder leihen das Geld von Freunden oder Verwandten. Wie dies zu ändern wäre, zeigen beispielhaft die Palästinensischen Gebiete. Dort sind in den vergangenen Jahren private und öffentliche Fonds entstanden und inzwischen entwickelt sich eine kleine lebendige IT-Szene.
Bildung
Am Anfang eines erfolgreichen Unternehmens steht zunächst eine gute Idee. Es gehört Wissen und Kreativität dazu, eine solche überhaupt zu entwickeln. Deshalb gilt es, die Bildungslandschaft im Mena-Raum zu verbessern.
Schulbildung: Wenig mehr als Basiskenntnisse
Einige Mena-Länder versagen bereits darin, die nachwachsenden Generationen mit Basiskenntnissen wie Rechnen, Lesen und Schreiben auszustatten. In Marokko etwa hat rund jeder Dritte zwischen 20 und 29 Jahren nicht einmal eine Grundschule abgeschlossen. Fast jeder Fünfte zwischen 15 und 24 Jahren kann nicht lesen und schreiben.
Insgesamt aber sind in den meisten Mena-Ländern Grund- und Sekundarschulbesuch selbstverständlich. Allerdings sind Lehrerausbildung und Lehrpläne mangelhaft, sodass die Mehrheit der Mena-Länder in internationalen Bildungsvergleichstests wie etwa TIMSS, PIRLS oder Pisa sehr schlechte Ergebnisse erzielt – ganz gleich, ob es um Mathematik-, Lese- oder Problemlösungskompetenzen geht. Einzig Israel liegt auf dem Niveau der westlichen Industriestaaten. Technische Fächer und Fremdsprachen, also gerade jene Inhalte, die junge Erwachsene international wettbewerbsfähig machen, nehmen in der Schulbildung kaum Raum ein. Dagegen spielt religiöser Unterricht oft eine große Rolle. Theoretische Wissensvermittlung und Frontalunterricht dominieren im Schulsystem, jedoch lernen die Schüler nicht, wie man im Team arbeitet oder Erlerntes präsentiert.
Schlechte Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt
Die Berufsvorbereitung verfehlt in den Mena-Ländern oft die Bedürfnisse der Arbeitgeber. Zum einen, weil diese oft an den Universitäten stattfindet. Die Akademikerquoten in der Gruppe der 25- bis 29-Jährigen übersteigen mit 41 Prozent in Saudi-Arabien, 35 Prozent in Jordanien oder 33 Prozent in Libanon teilweise das deutsche Niveau von 27 Prozent. Ausbildungsberufe, die in den deutschsprachigen Ländern eine anerkannte Alternative zum Studium sind, genießen in der Mena-Region gegenüber Hochschulzertifikaten einen niedrigen Stellenwert. Zum anderen bestimmen Frontalunterricht und Auswendiglernen und nicht die praxisrelevante Wissensvermittlung die Ausbildung an den Universitäten. Dies sorgt für ein Paradoxon: Weil jährlich tausende Jugendliche ins Berufsleben entlassen werden, die weder über einen ausreichenden englischen Wortschatz verfügen noch über die Kompetenz, komplexe Probleme zu lösen und konstruktiv in einem Team zu arbeiten, mangelt es den Arbeitgebern an Fachkräften. Gleichzeitig steht eine ganze Schar formal gut qualifizierter junger Menschen auf der Straße.
Dies liegt nicht alleine an der oft mangelhaften Lehre, sondern auch an der Fächerwahl der Studierenden. Obwohl in den Mena-Ländern ein klarer Engpass an Ingenieuren und Technikern herrscht, entscheiden sich viele Jugendliche für ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Studium – Bereiche, die von den Arbeitgebern in der freien Wirtschaft kaum nachgefragt werden. Die jungen Menschen erhoffen sich dadurch eine Beschäftigung im öffentlichen Sektor, welcher aber immer weniger Jobs zu bieten hat. Deshalb sollten zukunftsrelevante Fächer bereits an den Schulen beworben werden, um junge Menschen dafür zu begeistern. Dass dies gelingen kann, zeigt Iran. Dort ist der Anteil der angehenden Naturwissenschaftler und Ingenieure mit etwa 40 Prozent an allen Studierenden außergewöhnlich hoch. Das Land hat damit wertvolle Grundlagen dafür geschaffen, wettbewerbsfähige Produkte in wissensintensiven Bereichen anbieten zu können. Bislang gelingt dies allerdings noch viel zu selten.
Um die jungen Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen, sind nicht nur Veränderungen in der universitären Lehre und bei der Studienwahl gefragt. Vor allem Berufsbildungsprogramme gelten als erfolgsversprechend, sind aber in der Region bislang kaum verbreitet. In Palästina etwa liegt die Arbeitslosenquote von 15- bis 29-Jährigen mit Berufsschulbildung deutlich niedriger als die von Gleichaltrigen, die eine allgemeinbildende Sekundarschule oder eine Universität besucht haben. Trotzdem besucht gerade einmal ein Prozent der Sekundarschüler eine berufsbildende Einrichtung. Damit sich dies ändert, müsste die Akzeptanz beruflicher Ausbildungsprogramme steigen. Darum bemüht sich etwa die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in den Palästinensischen Gebieten. Der Leiter des Programms, Andreas König, betont im Interview mit dem Berlin-Institut, wie wichtig es sei, erfolgreiche Absolventen einer dualen Ausbildung als Vorbilder bekannt zu machen, um auch anderen zu zeigen, dass ein Ausbildungsabschluss große Chancen bietet.
Doch nicht nur die Schulabgänger müssen von den Vorteil der dualen Ausbildung überzeugt werden, sondern auch die Unternehmen selbst. Diese seien sich ihrer Verantwortung für den eigenen Nachwuchs häufig nicht bewusst, erklärt Bassant Helmi im Interview für die Studie des Berlin-Instituts. Helmi leitet das Verbindungsbüro der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer in Berlin und ist Geschäftsführerin des Vereins Global Project Partners, der sich unter anderem für Ausbildungsinitiativen in den Mena-Ländern engagiert. Ägyptenweit hätten gerade einmal 40 Unternehmen eine Berufsschule aufgebaut. Den Firmen mangele es häufig an klaren Standards, was Ausbildungsinhalte, Finanzierungsinstrumente und den rechtlichen Rahmen betrifft. Um diese zu schaffen, sei politischer Wille notwendig. Darüber hinaus gilt es, eine Vielzahl beteiligter Akteure einzubinden. Um ein allgemein akzeptiertes duales System zu bewerkstelligen, arbeitet GIZ-Mitarbeiter Andreas König in den Palästinensischen Gebieten mit Vertretern der Zivilgesellschaft, von Berufsschulen, der Kammern sowie von Unternehmen zusammen. Dadurch schaffe er gegenseitiges Verständnis und ein Gefühl dafür, dass ein Berufsbildungssystem für alle Seiten gewinnbringend sein kann.
Geschlechtergerechtigkeit
Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, gilt es auch, Frauen besser in den Arbeitsmarkt einzubinden. Das Bildungssystem räumt Frauen in den meisten Mena-Ländern inzwischen offiziell dieselben Freiheiten und Möglichkeiten ein wie Männern. In der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen unterscheidet sich der Bildungsgrad von Männern und Frauen kaum noch. Teilweise schneiden Frauen sogar besser ab. Im weiteren Verlauf ihres Lebens werden sie allerdings an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Nur ein Bruchteil steht dem Arbeitsmarkt überhaupt zur Verfügung. In Ländern wie Syrien, Jordanien, Irak, Algerien und in den Palästinensischen Gebieten gehen weit unter 20 Prozent der Frauen einer Beschäftigung nach. Frauen, die arbeiten wollen, sind in der Mena-Region wesentlich häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer. Falls sie Arbeit finden, sind sie mehrheitlich in informellen Verhältnissen beschäftigt, werden schlechter bezahlt und erreichen nur selten Führungspositionen.,, Anstatt die Bildungsinvestitionen in eine Rendite zu überführen, verzichten viele arabische Länder auf das Potenzial ihrer weiblichen Erwerbsbevölkerung.
Die Fähigkeiten von Frauen zu nutzen könnte der Mena-Region zu einem wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen. Doch dieser Ansatz birgt zumindest kurzfristig auch Probleme, denn mehr erwerbstätige Frauen bedeuten auch mehr Konkurrenz auf einem angespannten Arbeitsmarkt. Wenn es also den vielen jungen Frauen gelingt, ihre Bildungsergebnisse in produktive Arbeit zu überführen, könnte dies zwar die Wirtschaft ankurbeln. Allerdings könnten diese Frauen auch gering qualifizierte Männer vom Arbeitsmarkt verdrängen und damit in dieser Gruppe für noch mehr Frustration und soziale Konflikte sorgen. Die iranische Regierung nutzt diesen vermeintlichen Zusammenhang sogar als Argument für die teilweise gesetzlich zementierte Benachteiligung von Frauen bei der Besetzung freier Stellen und hat 77 Studiengänge für weibliche Teilnehmer gestrichen – darunter vor allem solche mit guten Jobchancen. Doch derartige Maßnahmen dürften sich eher negativ auswirken: Nach Erfahrungen aus den Industrieländern erhöhen Frauen in Beschäftigung die Produktivität einer Gesellschaft und schaffen mehr Arbeitsplätze, als sie selbst belegen. Alleine deshalb gilt es, für Geschlechtergerechtigkeit in den Mena-Ländern zu sorgen.
Dieser Notwendigkeit stehen bislang traditionelle Wertestrukturen sowie bestehende Gesetze entgegen: Nicht nur sind viele Frauen an die ihnen zugedachte Rolle im Haushalt gebunden, es fehlt auch an Betreuungseinrichtungen für Kinder. Ohnehin entscheidet häufig die Familie darüber, ob eine Frau überhaupt einen Beruf ergreift und in welchem Bereich sie aktiv wird. Gegen eine Berufstätigkeit sprechen auch Sicherheitserwägungen. Frauen dürfen sich in einigen Ländern nicht ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit bewegen und können deshalb einen Arbeitsort kaum selbständig erreichen. Tätigkeiten im IT-Sektor oder im Tourismus gelten vielerorts nicht als geeignete Arbeitsbereiche für Frauen. Stattdessen beschränken sich die möglichen Frauen-Berufsgruppen weitestgehend auf Lehre und Gesundheitsdienstleistungen. Einige Berufe bleiben Frauen auch aus rechtlichen Gründen verwehrt. So dürfen sie in manchen Mena-Ländern nicht als Anwältinnen oder im Bankensektor arbeiten. Auch das Unternehmertum ist unter arbeitenden Frauen kaum verbreitet.
Punktuell hat sich in den vergangenen Jahren die Lage von Frauen auch in den Mena-Ländern verbessert. Der Arabische Frühling hat in Tunesien zu einer verfassungsmäßigen Gleichstellung beigetragen und in Algerien zur Einführung einer Frauenquote von 30 Prozent im Parlament geführt. Sogar in Saudi-Arabien, wo die Frauenbenachteiligung kaum größer sein könnte, wurde jüngst erstmals eine Frau in die Regierung berufen und das aktive und passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene für Frauen eingeführt. Trotzdem sind die Mena-Länder von einer Gleichstellung weit entfernt. Von Ägypten bis in die Vereinigten Emirate prangern Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch die teils menschenverachtende Behandlung von Frauen an. Einzig in Israel bewegen sich Frauen auf Augenhöhe mit Männern.
Verantwortung teilen, voneinander lernen
Um eine weitere politische Destabilisierung zu vermeiden, steht die gesamte Mena-Region vor der Herausforderung, eine wachsende und zunehmend besser gebildete Bevölkerung mit Arbeit zu versorgen. Die Aufgaben in den drei Handlungsbereichen Unternehmertum, Bildung und Geschlechtergerechtigkeit sind groß und müssen schnellstmöglich in Angriff genommen werden. Sie richten sich aber nicht nur an die Regierungen, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft in den jeweiligen Ländern selbst, sondern auch an ausländische Investoren, an Nichtregierungsorganisationen und die internationale Zusammenarbeit.
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Dr. Reiner Klingholz ist Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.
Ruth Müller ist Ressortleiterin im Bereich Internationale Demografie am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
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