Asset-Herausgeber

Alexandra Meljnkova, dpa, picture alliance

Auslandsinformationen

„Wir müssen die europäische Brille auch mal ablegen“

von Dr. Sören Soika, Fabian Wagener

Über „wertegeleiteten Pragmatismus“ in der Außenpolitik und in der Stiftungsarbeit

Pragmatismus ist nicht gleich Beliebigkeit oder Verrat an den eigenen Werten, sondern ein Gebot für die deutsche und europäische Außenpolitik, sagt Caroline Kanter, neue ­stellvertretende Leiterin der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammen­arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung, im Interview mit den Auslandsinformationen. ­Und sie erklärt, warum das auch für die Auslandsarbeit der Stiftung gilt.

Asset-Herausgeber

Auslandsinformationen (Ai): Liebe Frau Kanter, in der hiesigen außenpolitischen Debatte hört man nicht selten den Begriff „Systemkonflikt“. Demnach stehen sich liberale Demokratien und autoritäre Herrschaft gegenüber und ringen um die zukünftige Ausgestaltung des internationalen Systems. Die Welt sei also auch durch einen Wertekonflikt gekennzeichnet. In dieser Ausgabe der Auslandsinformationen wird allerdings vielfach deutlich, dass viele Staaten außerhalb des Westens keinen Systemkonflikt sehen und auch nicht glauben, sich positionieren zu müssen. Was denken Sie: Gibt es einen Systemkonflikt oder nicht?

Caroline Kanter: Wenn wir auf die westlichen Staaten, allen voran die USA, auf der einen und China auf der anderen Seite schauen, die ja gemeinhin als Hauptakteure in diesem Wettbewerb gelten, können wir einerseits feststellen, dass wir es mit konkurrierenden Systemen, konkurrierenden Weltanschauungen zu tun haben. Es geht in der Debatte also auch um den Gegensatz zwischen Freiheit und Autoritarismus. Andererseits ist dieser Gegensatz nicht der allein entscheidende Faktor, wenn wir auf die heutige weltpolitische Konstellation blicken. Der Konflikt ist zwar komplexer und geht über einen „great power conflict“ hinaus. Neben sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen treffen aber auch schlicht unterschiedliche, teils widersprüchliche Interessen aufeinander. Und eine ganz andere – aber vielleicht die entscheidende – Frage ist aus meiner Sicht, wie sich die vielen Staaten, die nicht zu den oben genannten Hauptakteuren gehören, positionieren und tatsächlich verhalten.

Ai: Wenn man die Beiträge in diesem Heft anschaut, kann – wie erwähnt – kaum Zweifel daran bestehen, dass die Lesart vom „Systemkonflikt“ in einer großen Zahl von Ländern nicht geteilt wird. Was leiten wir daraus für unsere Außenpolitik ab?

Kanter: In der Tat: Teilweise sehen die betroffenen Länder keinen Systemkonflikt, teilweise sehen sie ihn vielleicht, wollen aber kein Teil dieses Konflikts werden und vermeiden es bewusst, klar Partei zu ergreifen. Wir brauchen deshalb im Grunde zwei Dinge. Zuerst müssen wir für uns selbst definieren: Was sind unsere Werte? Was sind unsere Interessen? Und mit welchen Staaten können wir hierzu zukünftig stärker kooperieren? Welche Ressourcen wollen wir einsetzen und inwieweit sind wir ein attraktiver Partner für diese Länder? In diesem Kontext kann das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit, Stabilität und Sicherheit in der Ausrichtung unserer Außenpolitik nicht ignoriert werden. Diesem müssen wir uns stellen und abwägen, wie sehr wir bereit sind, uns für diese Werte und Interessen zu engagieren.

Aus meinen Gesprächen mit internationalen Partnern der Konrad-Adenauer-Stiftung nehme ich immer wieder mit, dass es aus vielen Ländern – weit über Europa hinaus – die Erwartungshaltung an Deutschland gibt, eine aktivere Rolle auf internationaler Ebene zu spielen. Dieser Erwartung sind wir in der Vergangenheit nicht ausreichend gerecht geworden. Dies gilt es nun, verstärkt in den Blick zu nehmen, um zu eruieren, wo wir Partnerschaften mit Ländern intensivieren können, die unser Interesse an einer gemeinsamen Zukunft, basierend auf einem internationalen Regelwerk, teilen. Wir müssen aber nicht nur aktiver, sondern auch strategischer werden: In der Vergangenheit standen wirtschafts- und handelspolitische Aspekte im Vordergrund. Spätestens der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt uns, dass wir bei der außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung unseres Handelns strategischer und geopolitischer agieren müssen. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie adressiert diese Notwendigkeit. Messen lassen müssen wir uns mittelfristig an konkreten Maßnahmen und deren Ergebnissen.

Ai: Wir müssen uns also erstens klarmachen, was wir selbst wollen. Und zweitens?

Kanter: Zweitens müssen wir als Deutsche und Europäer die Tatsache, dass viele Staaten auf der Welt ihre Position sehr pragmatisch und an eigenen Interessen ausrichten, schlicht und einfach akzeptieren. Wir müssen vor Augen haben, dass beispielsweise der Angriffskrieg gegen die Ukraine, der bei uns als Zäsur, als sogenannte Zeitenwende wahrgenommen wird, in anderen Teilen der Welt, vor allem im Globalen Süden, als geografisch entfernter Konflikt gesehen wird, auch wenn die Folgen dieses Krieges global spürbar sind. Wir müssen wahrnehmen, dass diese Staaten sich in Teilen nicht dem Druck beugen wollen, sich für das eine oder andere Lager zu entscheiden, sondern ihre eigenen genuinen Interessen im regionalen und globalen Kontext vertreten.

Dieses „non-alignment“ müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir werden die Welt nicht gegen ihren Willen in zwei Lager teilen und anderen unsere Sichtweise aufzwingen können. Stattdessen müssen wir die deutsche und europäische Brille auch einmal ablegen, Sensibilität und ein Verständnis der Interessen, Perspektiven und Zwänge der anderen entwickeln. Ich denke hier beispielsweise an Indien, das seit Jahren enge militärische Beziehungen zu Russland pflegt und wo russische Waffen den mit Abstand größten Teil des Militärarsenals ausmachen. Wenn wir also von Indien fordern, sich aus dieser Kooperation zu lösen, müssen wir mit Alternativen aufwarten. Es ist an uns, die Erwartungen dieser Staaten unseren eigenen Positionen gegenüberzustellen und die Punkte zu identifizieren, wo wir gemeinsame Interessen verfolgen und gemeinsame strategische Ziele definieren können.

Ai: Ein Plädoyer für mehr Pragmatismus also. Bleibt in einer solchen Konzeption denn noch Platz für unsere vielbeschworenen Werte?

Kanter: Selbstverständlich haben wir Werte und diese leiten uns auch – sie bilden die Grundlage für unser Selbstverständnis und unser politisches Handeln. Das unterscheidet uns im Übrigen von manch anderen Akteuren in der internationalen Politik. Wichtig ist aber, dass wir von Fall zu Fall abwägen, welches Gewicht wir diesen Werten in der Beziehung zu einem bestimmten Staat geben. Und auch, auf welche Weise, mit welcher Lautstärke, wir diese Werte vertreten. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einem „wertegeleiteten Pragmatismus“ sprechen. Pragmatismus bedeutet nicht Beliebigkeit. Es bedeutet, dass man ein bestimmtes Ziel beziehungsweise einen bestimmten Wert hat, sich aber in jeder Situation fragt, ob eine konkrete Handlung oder Aussage tatsächlich dazu beiträgt, diesem Ziel oder Wert näher zu kommen, oder ob sie einfach nur der Selbstbestätigung dient, in der Sache aber kontraproduktiv ist. Der Fokus sollte also vielmehr auf der Erreichung des Ziels liegen und nicht lediglich auf dem Bekenntnis zum Ziel.

Es kann darüber hinaus nicht schaden, eine gewisse Demut an den Tag zu legen: Wir sollten uns in unserem außenpolitischen Handeln gelegentlich auch die Frage stellen, ob wir stets die von uns propagierten Ansprüche und Standards im eigenen Land erfüllen können. Ich sehe es auch als unsere Aufgabe an, im öffentlichen Diskurs auf gewisse Dilemmata im außen- und sicherheitspolitischen Handeln hinzuweisen, diese zu erklären und somit auch die eigene Bevölkerung abzuholen und diese zu ertüchtigen.

Ai: Ganz allgemein ist ja die Frage, ob wir als Europäer heute überhaupt noch in der Position sind, unsere Bedingungen und Standards zu diktieren.

Kanter: Die Antwort lautet nein. Staaten in Lateinamerika, Afrika oder Asien haben heute in der Regel mehrere Optionen, sind nicht auf westliche Partner angewiesen und stehen deshalb auch nicht bei uns Schlange. Selbstbewusst und interessengeleitet wägen diese Länder ab, aus welchen Kooperationen sie den größten Nutzen ziehen können und schauen genau darauf, welche Konditionen das Gegenüber im Rahmen einer Partnerschaft aufstellt. Nehmen Sie das Beispiel Südamerika. Seit Jahrzehnten arbeitet die EU an einem Assoziierungsabkommen mit dem Mercosur-Handelsbündnis. Wir haben im Grunde einen fertig verhandelten Text, aber manche europäischen Staaten nehmen die eigenen Agrarinteressen und Umweltstandards zu stark in den Fokus und gefährden damit die Ratifikation des Abkommens. Hier wäre ein pragmatischer Ansatz, der den geopolitischen Gesamtkontext stärker in den Blick nimmt, zielführend. Denn unsere bisherige Vorgehensweise birgt die Gefahr, dass die Mercosur-Länder sich lieber anderen Staaten zu- und von uns abwenden. Dann sind wir dort keinem unserer Standards nähergekommen, haben aber Einfluss verloren. Uns muss also auch das Risiko des Nicht-Handelns bewusst sein. Wir sollten nicht zu viel Zeit durch zögerliches Verhalten verstreichen lassen: Andere – aus Sicht der lateinamerikanischen Staaten attraktive – Mitbewerber stehen bereit.

Ai: Wenn es konkret wird, bedeutet außenpolitischer Pragmatismus aber in manchen Fällen nicht nur Verzicht auf umweltpolitische Maximalforderungen, sondern eben auch, mit Autokraten zu sprechen. Dafür gibt es dann schnell Kritik. Wenn die Bundesregierung sich etwa seit vergangenem Jahr intensiv um Erdgaslieferungen aus den Golfstaaten bemüht, heißt es aus manchen Kreisen, man habe nichts aus den Erfahrungen mit Russland gelernt und wolle die Energie nun einfach bei anderen Autokraten einkaufen. Trägt dieses Argument?

Kanter: Es greift aus meiner Sicht zu kurz. Wichtig ist, dass wir uns nicht erneut in einseitige Abhängigkeit von einem anderen Staat – erst recht nicht von einem autoritären – begeben. Der Lackmustest hierfür wird unser Verhältnis zu China sein. Ich plädiere insgesamt für eine pragmatische und differenzierte Betrachtung jedes einzelnen Falls. Wir müssen da ehrlich sein: Wenn es um unsere Außenbeziehungen geht, ist eben nicht Autokratie gleich Autokratie. Russland verletzt mit seinem Angriffskrieg die Souveränität der Ukraine. Das derzeitige russische Regime kann also kein Partner für uns sein. Wenn wir nun weltweit nach neuen Partnerschaften Ausschau halten beziehungsweise existierende intensivieren wollen, sollte uns die Frage leiten, ob wir gemeinsam für eine internationale regelbasierte Ordnung eintreten, die von den jeweiligen Akteuren akzeptiert und praktiziert wird. Ein differenzierter Ansatz bei der Bewertung unserer Partner sollte darüber hinaus in den Blick nehmen, welche regionale Rolle und globale Bedeutung dem jeweiligen Land beizumessen ist. Eine andere relevante Frage ist die nach der politischen Stabilität.

Dass wir mit unseren Einschätzungen und Erwartungen besonnen, pragmatisch und nicht aus eurozentristischer Perspektive vorgehen sollten, zeigen die Entwicklungen in Nordafrika. Die Hoffnungen, die wir von europäischer Seite in den „Arabischen Frühling“ gesetzt haben, wurden nicht erfüllt. Nach etwas mehr als zehn Jahren müssen wir feststellen, dass die Demokratie nicht Einzug gehalten hat und wir es in Teilen mit Autokratien zu tun haben. Aber auch hier rate ich davon ab, die Türen komplett zu schließen. Stattdessen sollten wir abwägen, wie wir mit den jeweiligen Staaten zukünftig umgehen. Denn die dortigen Entwicklungen haben direkte und indirekte Auswirkungen auf Europa und es gibt Themen, die wir gemeinsam bearbeiten sollten. Ich denke an die Energiewende, aber natürlich auch die Herausforderungen im Umgang mit Migrationsbewegungen.

Ai: Sie halten also auch eher nichts von der Idee, Europa solle sich möglichst wirtschaftlich auf sich selbst zurückziehen, allenfalls noch im Sinne eines „friendshoring“ mit gleichgesinnten demokratischen Staaten wichtige Handelsbeziehungen pflegen?

Kanter: Ich warne ganz ausdrücklich vor solchen Vorstellungen, die letztlich auf einen neuen Protektionismus hinauslaufen. Wir sollten im Gegenteil eher neue Freihandelsabkommen forcieren, nicht nur mit den Mercosur-Staaten, auf die ich vorhin schon eingegangen bin. Die Schlussfolgerung aus unseren Erfahrungen mit Russland sollte nicht Autarkiestreben sein, sondern Diversifizierung – also breit aufgestellte Handelsbeziehungen, um Abhängigkeiten von Einzelakteuren zu vermeiden. Hier besteht die Herausforderung darin, wie wir an unseren Werten festhalten und dennoch in komplexen, aber für uns strategisch wichtigen Kontexten agieren können. Wenn wir beispielsweise an den Abbau kritischer Rohstoffe denken, wird deutlich, dass wir auch über eine engere Verzahnung von Handels- und Entwicklungspolitik nachdenken müssen als in der Vergangenheit.

Ai: Viele der Fragen und Dilemmata, die wir hier besprochen haben, stellen sich auch für die internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Wir sind mit Büros in mehr als 80 Ländern auf allen Kontinenten vertreten, arbeiten in weit mehr als 100 Staaten. Das zentrale Motiv unserer Stiftung ist: „gemeinsam Demokratie gestalten“. Aber ein Blick auf einschlägige Demokratieindizes zeigt schnell, dass das nicht in jedem dieser Länder so uneingeschränkt möglich ist, wie wir uns das im Idealfall vorstellen würden. Und es wird nicht unbedingt besser – Stichwort „shrinking spaces“. Wie gehen wir damit um?

Kanter: Es ist richtig, dass sich Räume des Pluralismus schließen – zumindest werden sie enger. Einige Probleme, über die wir eben mit Blick auf die offizielle deutsche und europäische Außenpolitik diskutiert haben, sind auch für die Auslandsarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung relevant. Und auch die Abwägungsprozesse und Antworten auf diese Probleme sollten aus meiner Sicht ähnlich ausfallen, wie vorhin beschrieben.

Nehmen wir das Thema Werte. Jeder unserer Partner, mit denen wir international zusammenarbeiten, weiß, wofür wir stehen und was die Ziele unserer Arbeit sind. Wir sind politisch nicht neutral und wir stehen dazu. Wir sind eine deutsche politische Stiftung, die christdemokratischen Grundüberzeugungen folgt. Konkret bedeutet das, dass für uns die Würde des einzelnen Menschen im Mittelpunkt steht, dass wir uns für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen, für die Soziale Marktwirtschaft, dass uns die europäische Integration und die transatlantischen Beziehungen ein besonderes Anliegen sind. Und diese Werte leiten uns und geben uns Orientierung in unserer konkreten Projektarbeit auf den unterschiedlichen Kontinenten. Aber: Werte und Ziele zu haben ist auch für uns nicht gleichbedeutend damit, diese in jeder Situation und in jeder Beziehung öffentlichkeitswirksam ins Schaufenster zu stellen. Es handelt sich um einen Abwägungsprozess, um zu definieren, was in welchem Umfeld und zu welchem Zeitpunkt opportun ist. Das hat auch viel mit respektvoller Kommunikation und nicht zuletzt mit Glaubwürdigkeit zu tun: Kritisieren wir Staaten im öffentlichen Diskurs? Maßen wir uns an, unsere Sicht als das non plus ultra anzusehen? Oder suchen wir das Gespräch? Die öffentliche Bühne ist nicht immer die adäquate. Sie adressiert häufig die Klientel bei uns und nicht in erster Linie die Gesellschaft im jeweiligen Ausland.

Und es gelingt natürlich auch, durch konkrete Projekte unsere Ziele voranzutreiben, ohne sie mit sprachlichen Labels zu versehen, die in anderen Kulturkreisen zu Irritationen führen könnten, auch wenn diese im deutschen Diskurs populär sind. Hier denke ich an den Bereich politische Partizipation: Weltweit engagiert sich die Konrad-Adenauer-Stiftung seit Jahrzehnten für die Stärkung der politischen Teilhabe von Frauen und politischen Nachwuchskräften, führt Bildungsmaßnahmen zur Förderung dieser Gesellschaftsgruppen in politischen Ämtern durch. Dieses Engagement muss nicht mit einem neuen Label versehen, sondern pragmatisch fortgesetzt werden. Das stößt auch bei den Partnern auf Zustimmung.

Ai: Auch in unserer Arbeit also „wertegeleiteter Pragmatismus“?

Kanter: Man kann das sicher so nennen. Wir werden immer wieder vor der Entscheidung stehen, wie wir mit den von Ihnen eben angesprochenen „shrinking spaces“ umgehen: Nutzen wir den verbliebenen Raum oder ziehen wir uns aus einem Land zurück, das uns nicht oder nicht mehr den Raum gibt, den wir gerne hätten? Ich komme auch hier wieder zu einem Prinzip zurück, das ich zu Beginn schon einmal genannt habe: Es muss um pragmatische, einzelfallabhängige Abwägungen gehen. Auch für uns als Konrad-Adenauer-Stiftung ist dabei eine wichtige Frage, welche Relevanz ein bestimmtes Land in seiner Region, aber auch im globalen Kontext hat. Es kann Fälle geben – und es hat sie ja auch in der Vergangenheit tatsächlich gegeben – bei denen wir in der Abwägung dann zu dem Schluss kommen, dass sich ein Engagement in dem betroffenen Staat nicht mehr lohnt, weil unsere Handlungsspielräume zu eng werden und eine Kooperation mit unseren zivilgesellschaftlichen oder politischen Partnern in den jeweiligen Ländern unmöglich wird. Es gibt aber immer wieder auch Fälle, bei denen wir zu dem Ergebnis kommen, dass die Vorteile unserer Präsenz die Einschränkungen aufwiegen, denen wir vor Ort womöglich unterliegen.

Ai: Geben Sie uns ein Beispiel für solche Vorteile?

Kanter: In manchen Fällen ist allein schon die Möglichkeit, die Entwicklungen in dem jeweiligen Land vor Ort zu beobachten und die entsprechenden Analysen der Öffentlichkeit und den Entscheidungsträgern in Deutschland zur Verfügung zu stellen, von sehr großem Wert. Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass wir als Deutsche und Europäer anderen Ländern nicht einfach unsere Sichtweisen und Werte aufzwingen können, sondern pragmatisch auf deren Interessen und Perspektiven eingehen müssen. Das setzt aber voraus, dass wir von diesen ein realistisches Bild haben. Ich denke, dass wir mit der länderspezifischen Expertise, die wir über unser dichtes Netz von Auslandsbüros generieren, hier einen ganz bedeutsamen Beitrag leisten können.

Wir lassen uns manchmal mehr von unseren Wunschvorstellungen als von den politischen Realitäten vor Ort leiten und zeigen uns überrascht, wenn die Entwicklungen nicht eintreten wie von uns erwartet beziehungsweise gewünscht. Das gilt im Übrigen nicht nur für Entwicklungen auf anderen Kontinenten, sondern auch im europäischen Kontext, wo wir manchmal überrascht sind, welche Wahlentscheidungen die Menschen getroffen haben. Wir wollen mit unserer Präsenz vor Ort einen Beitrag leisten, dass es zu einer soliden Grundlage der Bewertung kommt. Diese Präsenz vor Ort erlaubt es, vor allem auch durch lokale Partner, frühzeitig Einblicke zu erhalten und somit Veränderungen und Trends wahrzunehmen.

Ai: Ein naheliegender Einwand wäre jetzt, dass Deutschland ja bereits über ein mindestens ebenso dichtes Netz von regierungsoffiziellen Auslandsvertretungen – sprich: Botschaften und Konsulate – verfügt.

Kanter: Ich denke, dass sich deren Arbeit und die der politischen Stiftungen in gewisser Hinsicht ergänzen, was auch bedeutet, dass wir als Stiftung Dinge tun können, die unsere diplomatischen Vertretungen in Teilen nicht leisten können. Das diplomatische Corps pflegt – und das ist ja auch seine Aufgabe – in erster Linie die Beziehungen zur Regierung des Gastlandes. Hier besteht also keine Möglichkeit der „Wahl“ des Gegenübers.

Wir als politische Stiftung gehen Partnerschaften in den Ländern ein, die unsere Werte respektieren und Interessen teilen. Unsere Partner sind häufig politische Parteien – in Regierungsverantwortung oder in der Opposition. Das bedeutet einerseits, dass wir mit bestimmten Akteuren in dem Moment, wo sie in Entscheidungspositionen kommen, teils bereits seit vielen Jahren zusammenarbeiten und damit direkte Zugänge und ein tieferes Vertrauensverhältnis haben. Und das ermöglicht uns meiner Meinung nach zweitens, politische Entwicklungen in unseren Gastländern oft besonders früh aufzuspüren.

Darüber hinaus haben wir andere Zielgruppen und Schwerpunkte als die diplomatischen Akteure: Wir pflegen intensive Beziehungen zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, aber auch zu akademischen Einrichtungen und Thinktanks. Das ermöglicht uns, eine gewisse „Seismografen- und Erklärfunktion“ wahrzunehmen: Themen, die in anderen Regionen dieser Welt relevant sind, frühzeitig aufzugreifen und in die deutsche und europäische Debatte einzubringen. Ich denke hier an unsere Regionalprogramme, die wir bereits vor einigen Jahren lanciert haben und die sich dem Thema Klima und Energiesicherheit widmen. Hier ist es uns frühzeitig gelungen, etwa die geostrategisch sowie mit Blick auf Sicherheit und Ressourcen relevante Arktis stärker in den Blick zu nehmen und die Positionen der Arktisanrainer aufzuzeigen. Ein weiteres Beispiel ist der Bereich Künstliche Intelligenz: Um Trends, neue Politikansätze und Erfahrungen aufzuspüren und in die europäische Debatte einfließen zu lassen, ist unsere Präsenz in Asien von hohem Stellenwert. Dieser Wissens- und Informationstransfer zurück nach Deutschland und Europa stellt aus meiner Sicht einen hohen Mehrwert unserer Auslandsarbeit dar.

Ai: Also im Zweifelsfall lieber eine Tür offenlassen?

Kanter: Wir haben viel über „shrinking spaces“ gesprochen – und leider muss man realistischer Weise feststellen, dass dieses Phänomen weltweit eher stärker als schwächer wird. Aber es gibt auch positive Entwicklungen, wo sich neue Räume öffnen, die wir aufgrund unserer Präsenz vor Ort frühzeitig erkennen, und wo wir eine Intensivierung der Beziehungen aktiv vorantreiben können.

Und wir sollten die „Türöffner-Funktion“ für die Intensivierung bestehender Partnerschaften nicht vergessen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat in den vergangenen Jahren aus meiner Sicht strategisch gut geschaut, wo wir uns durch neue Standorte wichtige Zugänge, Partnerschaften und Informationsquellen erschließen können, um in sogenannten „like-minded nations“ die Beziehungen zu intensivieren, um das gemeinsame Engagement für die regelbasierte internationale Ordnung voranzutreiben. Ich denke da an unsere neuen Büros in Kanada, Australien und in Stockholm für die Nordischen Staaten – allesamt uns eng verbundene demokratische Partnerländer.

Ich denke aber eben auch an unser Auslandsbüro in Bagdad, das es uns ermöglicht, ganz nah an den Entwicklungen in diesem wichtigen Land dran zu sein und den direkten Austausch zu den Akteuren vor Ort zu pflegen. Wir wollen damit auch signalisieren, dass wir Interesse an den Entwicklungen vor Ort haben und kein Vakuum entstehen soll, das andere ausfüllen. Denn auch das ist eine Realität und ein gewisses Versäumnis: Wir haben mit Blick auf den afrikanischen, aber auch lateinamerikanischen Kontinent Freiräume entstehen lassen, die inzwischen von autokratischen Akteuren – regionalen und globalen Kräften – besetzt werden. Ich denke, die Konrad-Adenauer-Stiftung hat sich durch strategische Entscheidungen und partnerschaftliches Handeln in den vergangenen Jahren gut aufgestellt, um die globalen Herausforderungen anzunehmen und mit Partnern weltweit zu begleiten.

 

Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.


 

Caroline Kanter ist seit April 2023 stellvertretende Leiterin der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor war sie unter anderem als Leiterin der Auslandsbüros in Rom und Paris für die Stiftung aktiv.

Asset-Herausgeber

Kontakt

Dr. Sören Soika

Dr

Chefredakteur Auslandsinformationen (Ai)

soeren.soika@kas.de +49 30 26996 3388
Kontakt

Fabian Wagener

Fabian Wagener

Multimediareferent

fabian.wagener@kas.de +49 30-26996-3943

comment-portlet

Asset-Herausgeber