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Auslandsinformationen

„Niemand will auf der falschen Seite der Geschichte stehen“

von Andrea Ellen Ostheimer

Systemische Rivalität und Einigkeit bei der Verteidigung der UN-Charta

Eine deutliche Mehrheit der Staaten weltweit fordert angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine in der Generalversammlung der Vereinten Nationen den Abzug der russischen Truppen aus dem Nachbarland. Und doch existieren gravierende Unterschiede in der Bereitschaft zu Sanktionen sowie der Interpretation des Konflikts und seiner machtpolitischen Hintergründe. Viele Länder lehnen es ab, sich dauerhaft einem weltpolitischen Lager zuzuordnen. Ihre UN-Vertreter begründen das mit verschiedenen Argumenten – und der Westen sollte ihnen zuhören.

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Die Debatten und Abstimmungen auf der Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 23. Februar 2023 über den russischen Einmarsch in die Ukraine haben gezeigt, dass die internationale Gemeinschaft ganz überwiegend geeint bleibt in der Verurteilung der Verletzung der UN-Charta durch den russischen Angriff auf die Ukraine. 141 Staaten stimmten für die Resolution ES-11/6, in der neben dem Aufruf zur Einstellung der Feinseligkeiten verlangt wird, „dass die Russische Föderation alle ihre Streitkräfte unverzüglich, vollständig und bedingungslos aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen abzieht“. Doch abgesehen von dieser Solidaritätsbekundung zur Verteidigung der Grundsätze der territorialen Integrität und Souveränität beginnen die Positionen ein Jahr nach Beginn der Invasion auseinander zu driften.

Im Wesentlichen wurden die Sanktionen gegen Russland von den USA, der EU und den EU-Mitgliedstaaten verhängt, während sich andere Länder entschieden haben, diesen Weg nicht mitzugehen. In vielen Staaten des Globalen Südens wird der Krieg als ein Konflikt zwischen dem Westen und Russland gesehen. Sie wollen sich nicht in ein Lager hineinziehen lassen, sondern neutral bleiben. Seit nun mehr als einem Jahr umwerben die US-amerikanische Regierung und die europäischen Regierungen die internationale Gemeinschaft, um sie zur Unterstützung der Ukraine zu bewegen. Dabei folgen sie der Argumentationslinie, dass durch die Verteidigung der Ukraine die regelbasierte Ordnung und die Zukunft der Freiheit selbst verteidigt werden. In den vergangenen Monaten haben verschiedene europäische Staats- und Regierungschefs auch argumentiert, dass Neutralität in diesem Konflikt gleichbedeutend mit einer Unterstützung des Aggressors sei.

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung von elf vertraulichen Gesprächen mit Ständigen Vertretern aus Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten bei den Vereinten Nationen in New York, die zwischen März und Mai 2023 geführt wurden. Zentraler Aspekt der Gespräche war, wie Staaten, die in der G77-Gruppe vertreten sind, dem Sicherheitsrat angehören oder Gegenstand von dessen Erörterungen sind, das vom Westen vorgebrachte Argument bewerten, dass es sich sowohl in Bezug auf den Krieg in der Ukraine als auch hinsichtlich der zunehmenden Rivalität und Spannungen zwischen den USA und China im multilateralen Kontext um einen Systemkonflikt handle. Die Autorin ging der Frage nach, ob der Eindruck besteht, dass die USA und Europa andere Staaten zu stark unter Druck setzen, Partei zu ergreifen, und ob das Argument des Westens, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen, diejenigen Regierungen vor den Kopf stoßen könnte, die es mit diesen Werten im eigenen Land selbst nicht so genau nehmen. Sollten die Staaten, die ihre Außenpolitik an bestimmten Werten ausrichten, mehr Flexibilität an den Tag legen und eine engere Zusammenarbeit mit den Staaten anstreben, die diese Werteorientierung nicht teilen, um sich den globalen Herausforderungen zu stellen? Zudem sollte herausgefunden werden, weshalb sich eine Gruppe von mehr als 30 Staaten bei der Abstimmung über die Resolutionen der UN-Generalversammlung zum Krieg in der Ukraine der Stimme enthielt. Angesichts der mittlerweile über einen bloßen Wettbewerb hinausgehenden Systemrivalität zwischen den USA und China wurden die Gesprächspartner auch dahingehend befragt, wie sie diese Situation wahrnehmen. Ergänzt durch Hintergrundinformationen der Autorin spiegelt die nachfolgende Zusammenfassung die Meinungen und Standpunkte der interviewten Ständigen Vertreter bei den Vereinten Nationen in New York wider.

 

Die Charta der Vereinten Nationen als kleinster gemeinsamer Nenner

Wie das Abstimmungsverhalten zu den sechs Resolutionen der UN-Generalversammlung zur Ukraine gezeigt hat, steht die internationale Gemeinschaft mehrheitlich hinter der UN-Charta und der Verteidigung der Grundsätze der territorialen Integrität, Souveränität und Nichteinmischung. Bei genauerer Betrachtung der sechs Resolutionen, die in der UN-Generalversammlung zur Ukraine in den Jahren 2022 und 2023 eingebracht wurden, zeigt sich jedoch, dass die Resolution ES-11/3 zur Aussetzung der Mitgliedschaft Russlands im Menschenrechtsrat sowie die Resolution ES-11/5, die Rechenschaftspflicht und Wiedergutmachung fordert, nicht die gleiche überwältigende Unterstützung fanden wie die vier anderen Resolutionen.

Die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft steht geschlossen hinter der UN-Charta.

Im Zusammenhang mit der Aussetzung der Mitgliedschaft Russlands im Menschenrechtsrat wurde von den Ständigen Vertretern hervorgehoben, dass a) Staaten, die selbst eine fragwürdige Menschenrechtsbilanz aufweisen, keinen Präzedenzfall schaffen wollten und b) sie die Maßnahme für das weitere Offenhalten der Kommunikationskanäle mit Russland für kontraproduktiv hielten. Aus diplomatischer Sicht sei es Ziel des Multilateralismus, alle Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen und Probleme durch Verhandlungen zu lösen. In diesem Sinne wird ein Ausschluss als Abstrafung nicht als geeignete Vorgehensweise gesehen, da er diplomatischem Engagement entgegensteht. Auch wird der vom Internationalen Strafgerichtshof ausgestellte Haftbefehl gegen Putin aus diplomatischer Sicht als hinderlich betrachtet, da er – so die Meinung – den russischen Staatschef weiter in die Enge treibe und zu einer möglichen Belastung für einen Verhandlungsprozess werden könne.

Weder die arabische Welt noch afrikanische Länder wollen Russland konfrontieren.

Die Mehrheit der G77-Staaten sieht die „regelbasierte Ordnung“ als ein Konzept des Westens; einige halten sie sogar für ein Instrument zur Festigung der Dominanz und des Einflusses der Vereinigten Staaten. Für diese Staaten entfaltet das Narrativ Chinas, dass das Völkerrecht und damit die Charta der Vereinten Nationen aufrechterhalten werden muss, eine größere Anziehungskraft. Daher kann der Westen nur in den Fällen erfolgreich Unterstützung mobilisieren, in denen es um die Verteidigung der UN-Prinzipien der territorialen Integrität, Souveränität und Nichteinmischung geht, handelt es sich dabei doch um den kleinsten gemeinsamen Nenner, der die internationale Gemeinschaft eint. Demgegenüber stoßen Versuche, Russland in der gegenwärtigen Phase des Konflikts in einem multilateralen Kontext zu verurteilen und zur Rechenschaft zu ziehen, auf wenig Unterstützung. Weder die arabische Welt noch die afrikanischen Länder wollen Russland konfrontieren.

 

Abb. 1: Abstimmungsverhalten in der UN-Generalversammlung bei Resolutionen zum russischen Krieg gegen die Ukraine

https://www.kas.de/documents/259121/25214889/ostheimer_de.svg/012b458a-b8fc-32da-d0c6-7a5b327e5d71?t=1689072104005

Quellen: eigene Darstellung basierend auf UN 2022: Aggression against Ukraine: resolution / adopted by the General Assembly, A/RES/ES-11/1, 02.03.2022, in: https://bit.ly/43jJ6js [31.05.2023]; UN 2022: Humanitarian consequences of the aggression against Ukraine: resolution / adopted by the General Assembly, A/RES/ES-11/2, 24.03.2022, in: https://bit.ly/43h0ipZ [31.05.2023]; UN 2022: Suspension of the rights of membership of the Russian Federation in the Human Rights Council: resolution /adopted by the General Assembly, A/RES/ES-11/3, 07.04.2022, in: https://bit.ly/44yfEr7 [31.05.2023]; UN 2022: Territorial integrity of Ukraine: defending the principles of the Charter of the United Nations: resolution /adopted by the General Assembly, A/RES/ES-11/4, 12.10.2022, in: https://bit.ly/44ANBHI [31.05.2023]; UN 2022: Furtherance of remedy and reparation for aggression against Ukraine: resolution / adopted by the General Assembly, A/RES/ES-11/5, 14.11.2022, in: https://bit.ly/44fOxkX [31.05.2023]; UN 2023: Principles of the Charter of the United Nations underlying a comprehensive, just and lasting peace in Ukraine: resolution / adopted by the General Assembly, A/RES/ES-11/6, 23.02.2023, in: https://bit.ly/3D1FQ1t [31.05.2023].

 

Für den aufmerksamen Beobachter offenbarte sich diese Kluft zwischen den USA, Europa und ihren engsten Verbündeten auf der einen und den restlichen Ländern auf der anderen Seite deutlich während der Debatten in der UN-Generalversammlung und im Sicherheitsrat anlässlich des Jahrestages der russischen Invasion im Februar 2023. Während alle europäischen Außenminister und der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in beiden UN-Gremien das Wort ergriffen, waren Stimmen aus Afrika und Asien nur sporadisch und lediglich auf Botschafterebene zu hören. Im Sicherheitsrat war diese Kluft sogar noch offensichtlicher, da außer den Mitgliedern des Sicherheitsrats nur europäische Vertreter als externe Redner ans Mikrofon traten. Obwohl die Resolution ES-11/6 die Invasion nicht ausdrücklich verurteilt, da dies ein strittiger Punkt in den Verhandlungen war, betonten viele europäische Redner in der Generalversammlungsdebatte im Februar 2023 die Notwendigkeit einer einheitlichen Verurteilung der Invasion.

 

Stimmenthaltung – ein aufschlussreicher Einblick in geopolitische Dynamiken, Wahrnehmungen und Missstände

Ungeachtet der Argumentation, dass die internationale Gemeinschaft bei der Verteidigung der UN-Charta zusammenhalten muss, hat sich eine Gruppe von mehr als 30 Mitgliedstaaten bei der Abstimmung über die Resolutionen, die den Schutz der Grundsätze der Vereinten Nationen in den Mittelpunkt stellen, zur Stimmenthaltung entschieden.

Dabei lassen sich vier wiederkehrende Beweggründe für die Stimmenthaltungen feststellen:

  • wirtschaftliche Beziehungen und finanzielle Auswirkungen des Krieges
  • Sicherheitsüberlegungen und historische Bindungen
  • angebliche Doppelmoral des Westens
  • die Notwendigkeit, Hintertüren für Verhandlungen offen zu halten

 

Wirtschaftliche Beziehungen und finanzielle Auswirkungen des Krieges


Der Krieg in der Ukraine geht für Länder, die auf öffentliche Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA) angewiesen sind, voraussichtlich mit hohen Kosten einher. Dies gilt insbesondere für Länder in Afrika. Schon jetzt gefährden die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise in diesen Ländern die Einhaltung ihrer Verpflichtungen und die Fortschritte bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs). Ein Gesprächspartner drückte es so aus: „Ihre Wahrnehmung von der Welt ist universal, was bei meinen Problemen nicht zwangsläufig der Fall ist. Meine Prioritäten sind die Beschaffung von Essen, der Klimawandel und der Welthandel.“

Bei der Bewertung der Haltung der lateinamerikanischen Länder und insbesondere ihrer mangelnden Unterstützung für ein Sanktionsregime gegen Russland ist zu berücksichtigen, dass sie sich in einer doppelten Abhängigkeit befinden. Für sie ist Russland nicht nur ein wichtiger Absatzmarkt für Agrarprodukte, sie benötigen auch russischen Dünger für ihre Agrarindustrie.

Zwar lässt der Blick auf die Haushaltsmittel in den westlichen Staaten bisher keine Kürzungen der Hilfen für Afrika oder für andere Regionen erkennen, aber die Größenverhältnisse vermitteln den Entwicklungsländern dennoch den Eindruck, dass ihre Probleme zweitrangig geworden sind. Im Jahr 2022 hat der US-Kongress ein Paket in Höhe von 113 Milliarden US-Dollar an Hilfen und militärischer Unterstützung für die Ukraine und verbündete Länder verabschiedet. Für den afrikanischen Kontinent schlug die Biden-Administration dem Kongress eine Aufstockung der Haushaltsmittel für staatliche Aktivitäten und Projekte im Ausland (State, Foreign Operations, and Related Programs, SFOPS) von 7,65 Milliarden US-Dollar (2022) auf 7,77 Milliarden US-Dollar im Haushaltsjahr 2023 vor. Ein anderes Beispiel ist die Unterstützung Mexikos im Rahmen des Aktionsprogramms für Sicherheit, öffentliche Gesundheit und sichere Gemeinden, das zwischen den USA und Mexiko anlässlich des 200. Jahrestages ihrer diplomatischen Beziehungen ins Leben gerufen wurde. Dabei handelt es sich um eine Sicherheitspartnerschaft, die auch Fragen des Grenz- und Migrationsmanagements beinhaltet. Auch blieben die Mittel für internationale Zusammenarbeit bei der Drogenbekämpfung und Strafverfolgung mit 64 Millionen US-Dollar stabil, während der Wirtschaftsförderungsfonds sogar von 57,8 Millionen US-Dollar im Jahr 2022 auf 75 Millionen US-Dollar im Jahr 2023 aufgestockt wurde.

Alte und neue Loyalitäten jener Länder, für die Russland ein Wirtschaftspartner ist, hindern sie daran, den Westen zu unterstützen.

Im europäischen Kontext stellt sich die Situation etwas anders dar. Von der Europäischen Friedensfazilität, einem neu geschaffenen EU-Instrument, das in erster Linie zur Bewältigung von Sicherheitsproblemen auf dem afrikanischen Kontinent gedacht war, wurden bereits 3,6 Milliarden Euro (also 64 Prozent) der 5,6 Milliarden Euro für den Finanzzeitraum von 2021 bis 2027 der Ukraine gewidmet (bis Februar 2023). Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind insgesamt 698 Millionen Euro an die Afrikanische Union (AU), Niger, Mauretanien und die Länder am Golf von Guinea geflossen, wobei der Löwenanteil (600 Millionen Euro für den Zeitraum 2022 bis 2024) an die AU für ihre Friedens- und Sicherheitsarchitektur ging.

Obwohl EU-Vertreter in Reden vor der UN-Generalversammlung häufig ihre Unterstützung für die Entwicklungsländer beschwören, macht sich unter den Ständigen Vertretern der Eindruck breit, dass es eines tieferen Verständnisses für die Belange der anderen bedarf. Es muss mehr getan werden, um die Ernährungssicherheit zu verbessern und Themen wie eine tragfähige Schuldensituation der Entwicklungsländer in Zeiten wirtschaftlicher und geopolitischer Turbulenzen anzugehen. In diesem Zusammenhang erklärte ein Ständiger Vertreter: „Dem UN-System die Luft abzuschnüren, indem man sich nur auf die Ukraine fokussiert, ist nicht gesund für Europa. Man sollte ein Problem nicht lösen, indem man ein neues schafft.“

 

Sicherheitserwägungen und historische Bindungen


Für die Länder Zentralasiens und des Südkaukasus, die sich in direkter Nachbarschaft zu Russland befinden und damit unmittelbar dem Einfluss der russischen Machtprojektion unterliegen, ist eine Stimmenthaltung bereits das Äußerste der Gefühle. Wenn sie sich der Stimme enthalten, statt – wie in der Vergangenheit (etwa bei der Annexion der Krim) – mit Russland zu stimmen, wird dies bereits als ein Akt der Unterstützung der UN-Charta gesehen. Dazu erklärte ein Botschafter aus einem östlichen Nachbarland der EU: „Der Verstoß gegen die UN-Charta ist für alle sichtbar und kann nicht gerechtfertigt werden.“

Auch die afrikanischen Staaten, die entweder russische Militärunterstützung erhalten (wie die Zentralafrikanische Republik oder Burkina Faso, die private Söldner der Wagner-Gruppe unter Vertrag haben) oder deren Regierungen während ihrer eigenen Befreiungskämpfe enge Beziehungen zur Sowjetunion pflegten (Länder der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika, SADC), ziehen es vor, sich ihrer Stimmen zu enthalten. Alte und neue Loyalitäten dieser Länder, für die Russland ein Wirtschaftspartner ist, hindern sie daran, den Westen zu unterstützen.

 

Die angebliche Doppelmoral des Westens


Die meisten befragten Ständigen Vertreter kritisierten den Westen wegen seiner Ignoranz gegenüber anderen Konflikten und seiner Ambivalenz gegenüber Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen sowie wegen der Machtprojektion der USA, wenn es um die eigenen Interessen geht. In den Gesprächen wurde dies oft als „Doppelmoral des Westens“ zusammengefasst.

Die Lage in den palästinensischen Gebieten und das Schweigen zu den illegalen israelischen Siedlungen scheinen ein vom Westen unterschätzter Anlass für Unzufriedenheit und Kontroversen zu sein. In fast allen Gesprächen mit afrikanischen und arabischen Botschaftern wurde Kritik an der stillschweigenden Duldung dieser Zustände durch den Westen geäußert. Insbesondere in der arabischen Welt werden dadurch in den Gesellschaften Emotionen gegen den Westen geschürt. Aber auch auf multilateraler Bühne kann diese Situation den Westen an der Erreichung politischer Ziele hindern, die einer breiten internationalen Unterstützung bedürfen. Dabei wird das zögerliche Vorgehen der Europäer gegenüber der israelischen Siedlungspolitik nicht nur als ein kritischer Punkt, sondern auch als Munition für Russland und China gesehen, Europa der Doppelmoral zu bezichtigen.

Auch in anderen Fällen, wie bei der Einmischung Ruandas im Osten der Demokratischen Republik Kongo oder der türkischen Machtprojektion im Irak, in Libyen und im Kaukasus, herrscht der Eindruck, dass der Westen wegsieht. Von vielen Ständigen Vertretern wurde daher ein unparteiischeres Vorgehen der internationalen Gemeinschaft angemahnt. Zudem haben der Rückzug aus Afghanistan und die Auflösung eines nach westlichem Vorbild geschaffenen Staates in nur wenigen Tagen nach der Machtübernahme der Taliban den Westen in den Augen der Befragten delegitimiert: „Vertraue nicht dem Westen, er wird dich fallenlassen.“

 

Die Notwendigkeit, Hintertüren für Verhandlungen offen zu halten


Einige Länder wollten mit der Stimmenthaltung ihre Neutralität wahren, um von Nutzen sein zu können, wenn sich beide Seiten zu Friedensverhandlungen bereit fühlen sollten: „Wenn der Frieden kommt, werden wir bereit sein. Dann können wir versuchen zu helfen.“ Andere stimmten nicht mit dem Westen, da dies zu einem Hindernis für den Dialog mit Russland innerhalb der Vereinten Nationen als dem primären Raum für Verhandlungen werden könne. In diesem Zusammenhang wurde auch kritisiert, dass keine einzige Debatte zur Ukraine im Sicherheitsrat als geschlossene Sitzung stattfand, wo doch ein echter Dialog hinter verschlossenen Türen dringend notwendig wäre. Bei allen Treffen mit den Ständigen Vertretern wurde die Notwendigkeit von Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland bekräftigt. Allerdings wurde auch eingeräumt, dass die Zeit dafür womöglich noch nicht gekommen sei, da die Konfliktparteien noch nicht bereit zu sein scheinen und weiter auf einen militärischen Sieg setzen.

Als größtes Problem der USA wird China gesehen, noch vor Russland und seiner Aggression in der Ukraine.

Wenn der Westen jedoch die Unterstützung einer breiten Mehrheit sichern will, werden von ihm ein gemäßigtes Vorgehen sowie erste Anzeichen für die Bereitschaft zu Verhandlungen über eine Art von Waffenstillstand erwartet. Auch wurde betont, dass die Aufnahme von Friedensverhandlungen schon notwendig werden könnte, während der Krieg noch andauert. Russland habe sich zwar in eine prekäre Lage manövriert, werde aber immer ein wichtiger Akteur im internationalen System bleiben. Nach dieser Sichtweise sollte der Westen seine Optionen vorausschauend abwägen und dabei bedenken, dass es Putin vor allem um sein Erbe geht, sich aber auch der Auswirkungen bewusst sein, die ein besiegtes und zerfallendes Russland für den Westen und Eurasien hätte.

 

Moralischer Anspruch des Westens und diplomatischer Druck

Ähnlich wie das bereits erwähnte Argument der „Doppelmoral“ wurde auch die derzeit innerhalb der Vereinten Nationen vorherrschende diplomatische Kultur angesprochen. Dabei unterstrichen die Ständigen Vertreter, dass respektvolle Beziehungen Druck auf andere ausschließen sollten, selbst wenn die Umstände anderes zu erfordern scheinen. Werte lassen sich nicht durch die Ausübung von Druck vermitteln. Eine natürliche Reaktion auf zu starken Druck ist es, sich zurückzuziehen: „Staaten zu belehren und vorzuführen funktioniert nicht mehr. Der Westen muss lernen, dass er seinen Einfluss nicht länger aufrechterhalten kann. Internationale Beziehungen sind keine Einbahnstraße. Es ist immer notwendig, der anderen Seite Zugeständnisse zu machen. Es geht darum, Respekt zu zeigen.“ Als respektlos wurde auch kritisiert, wenn ein Land im Sicherheitsrat besprochen wird, ohne dass dessen Ständigem Vertreter Zutritt gewährt wird, sodass dieser bei anderen Ratsmitgliedern um Informationen betteln müsse.

Lateinamerika sieht sich selbst mehrheitlich als Teil des Westens, mit dem es dieselben kulturellen Werte teilt. Dennoch wollen die lateinamerikanischen Länder nicht in einer Position sein, in der sie sich für eine Seite entscheiden müssen. Je mehr Druck ausgeübt wird, zu „wählen“, desto wahrscheinlicher wird es, dass darauf mit Rückzug oder Ablehnung reagiert wird. Historisch gesehen hat Lateinamerika den Westen weitgehend unterstützt, aber die Frage ist, wie lange dies noch der Fall sein wird: „Europa muss verstehen, dass Lateinamerika ein Verbündeter des Westens ist, aber das bedeutet nicht, dass wir alles mitmachen. Wir ziehen unsere eigenen Schlüsse unter Berücksichtigung unserer nationalen Interessen.“

 

Systemische Rivalität – Sind wir Zuschauer oder werden wir zu Spielfiguren?

In der Systemrivalität zwischen dem Westen und Russland/China fragen sich einige Länder beunruhigt: Sind wir Zuschauer oder werden wir zu Spielfiguren auf dem geopolitischen Schachbrett? Dies zeigt deutlich ihre Sorge, in ein Lager hineingezogen zu werden oder aber machtlos am Rande der Geschichte zu stehen. In der Rivalität und dem Wettbewerb zwischen den USA und China erkennen sie einen gefährlichen Trend, einen aggressiven Ton und den Druck, sich für eine Seite zu entscheiden. Dabei werden die Massenmedien beider Seiten für die Verschärfung des Antagonismus verantwortlich gemacht. Als größtes Problem der USA wird China gesehen, noch vor Russland und seiner Aggression in der Ukraine. Zwar wird Russland als militärischer Herausforderer betrachtet, aber in den Gesprächen wurde auch argumentiert, dass Russland zu keiner Zeit – nicht einmal während des Kalten Krieges – eine Bedrohung für die Hegemonie der USA dargestellt habe. Damit wird die russische Herausforderung in scharfem Kontrast zu China gesehen, das mit den USA auf verschiedenen Ebenen konkurriert.

Als absolut unerlässlich gilt, dass Europa seine Rolle in der multipolaren Welt definiert und ein globales außenpolitisches Profil zeigt. Wenngleich verstanden wird, warum Europa angesichts der existenziellen Bedrohung an seiner Grenze weiterhin fest an der Seite der USA steht, entsteht doch zunehmend der Eindruck, dass Europa wegen der USA beginnt, sich in die Auseinandersetzung mit China zu begeben: „Europa muss vorsichtig sein und sollte sich nicht zum Feind Chinas machen.“

 

Wahrnehmung Chinas und seiner Absichten


Als eine Erklärung für Chinas selbstbewusstes und entschlossenes Vorgehen bei der Neubestimmung seiner Rolle auf der Weltbühne wird ins Feld geführt, dass sich China innerhalb des UN-Systems mit westlicher Hegemonie konfrontiert sieht und Pekings globale Ambitionen durch die USA behindert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass China nicht länger am Rande des internationalen Systems stehen will und frustriert darüber ist, dass ihm nicht die Anerkennung gezollt wird, die ihm seiner Meinung nach zusteht. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass sich China nicht als Bedrohung des internationalen Systems sieht und als Macht anerkannt werden möchte. Allerdings scheinen die USA zu einer solchen Anerkennung nicht bereit zu sein.

Vielen Ländern ist nicht klar, weshalb ein Engagement Chinas rundweg abgelehnt werden sollte.

Chinas Ambitionen werden offensichtlich nicht von allen als Bedrohung gesehen. Auch kamen die wachsende finanzielle Abhängigkeit der Entwicklungsländer von China und der Ausverkauf ihrer natürlichen Ressourcen über mehrere Generationen an die Volksrepublik in den Gesprächen nicht zur Sprache. Stattdessen wird Chinas Aufstieg zur Weltmacht vom Globalen Süden anerkannt: „Niemand kann China daran hindern, Bedeutung zu erlangen – ungeachtet seiner Menschenrechtsverletzungen.“

Vielen Ländern ist nicht klar, weshalb ein Engagement Chinas rundweg abgelehnt werden sollte. Chinas Stil und seine Versuche der Einflussnahme in multilateralen Institutionen wurden bestenfalls als ambivalent gesehen. Dabei wurde festgestellt, dass China seine Stärke in den Vereinten Nationen nicht ostentativ zur Schau stelle, sondern sehr subtil vorgehe. Das so vermittelte Bild eines wohlwollenden Akteurs mit „guten Absichten“ wird mit gewisser Vorsicht zur Kenntnis genommen oder – diplomatisch ausgedrückt – es wird „vorsichtig akzeptiert, aber nicht vollständig geglaubt“.

Der Rückzug der USA von der Weltbühne unter Trump wurde als Ansporn wahrgenommen, die Lücke zu füllen.

 

Was bieten globale Partner?


Auf UN-Ebene präsentiert sich China den Entwicklungsländern als Partner. Wenn sie mit China Geschäfte machen, erleben sie einen Partner, der seinen Versprechen schnell und bedingungslos Taten folgen lässt, wobei den meisten Politikern die langfristigen Kosten der chinesischen Investitionen für ihre Länder nicht bewusst sind. Insbesondere für afrikanische Staaten ist China ein attraktiver Partner, der nicht nur Investitionen, sondern auch Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien bietet.

Selbst vielerorts in Lateinamerika wird in China der weniger komplizierte Partner gesehen, der Handelsgespräche nicht mit Themen wie Klimawandel oder Menschenrechten befrachtet. Nicht nur haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr lateinamerikanische Länder dem Projekt der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative) angeschlossen, auch die Zahl der lateinamerikanischen Länder, die ihre Beziehungen zu Taiwan offiziell abgebrochen haben, hat sich erhöht. In diesem Zusammenhang wurde von Ständigen Vertretern aller Regionen die Frage aufgeworfen: Was hat der Westen zusätzlich oder anstelle der chinesischen Handelsabkommen und Investitionen zu bieten?

In Lateinamerika herrscht der Eindruck, dass die USA den Kontinent immer noch als ihre quasi natürliche Einflusssphäre betrachten und ihm daher nicht genug Aufmerksamkeit widmen. Im Gegensatz zu Europa, das mit seinem „Global-Gateway“-Programm eine Alternative zur Neuen Seidenstraße entwickelt hat, können die USA bisher auf keine eigene Initiative als internationales Gegengewicht zu dem Projekt verweisen. Wenngleich die EU bei Infrastrukturinvestitionen punkten kann, ist sie beim Handel in Lateinamerika definitiv ins Hintertreffen geraten. Die schmerzlichen und langwierigen Verhandlungen über das EU-Mercosur-Handels-abkommen haben die Beziehungen belastet und Vertrauen zerstört, da das Abkommen von den Mercosur-Ländern nicht nur als ein Handels-, sondern auch als ein politisches Projekt gesehen wurde. Als der französische Präsident Emmanuel Macron das Abkommen in letzter Minute wegen der fragwürdigen Umweltpolitik des damaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro blockierte, wurden die EU-Mitgliedstaaten als kurzsichtig und zu sehr von nationalen Interessengruppen beeinflusst wahrgenommen.

 

Das von den USA hinterlassene Vakuum


Seitens der Ständigen Vertreter aller Regionen wurde betont, dass es nicht nur die wachsenden regionalen und globalen Ambitionen Chinas seien, die die systemische Rivalität anheizten. Ermöglicht worden sei diese Entwicklung erst durch die Abwesenheit der USA und ein stark mit sich selbst beschäftigtes Europa. Insbesondere der Rückzug der USA von der Weltbühne während der Präsidentschaft Donald Trumps und die militärische Neupositionierung des Landes hätten andere erst dazu ermutigt, die Lücke zu füllen. Das bezieht sich auf China. Aber auch die Bestrebungen der Türkei in deren Nachbarschaft werden von den Ländern des Nahen Ostens mit Argwohn betrachtet. Das Auftreten von China als Vermittler im Nahen Osten, das eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran möglich gemacht hat, wird von Diplomaten als Zeichen für eine sich verändernde Weltordnung gewertet.

 

Denkanstöße und Fazit

  • Die Herangehensweise des Westens an den Multilateralismus geht vom Konzept einer regelbasierten Ordnung aus, das den Aspekt der Rechenschaftspflicht einschließt. Für andere hingegen zählt vor allem die Inklusivität und die Möglichkeit von multilateralen Institutionen, alle Seiten an einen Tisch zu bringen, um in Verhandlungen Kompromisse zu erzielen. Um den Erwartungen gerecht werden zu können, muss man sich des Spannungsverhältnisses zwischen diesen beiden Ansätzen bewusst sein.
Der Westen muss die Dynamik der internationalen Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten.
  • Gleichzeitig muss das Argument entkräftet werden, dass die regelbasierte Ordnung ein westliches Konzept sei. Die Universalität der in dieser Ordnung verankerten Werte muss – im Unterschied zu den chinesischen Narrativen, die die Rechtsstaatlichkeit ausschließlich auf zwischenstaatliche Beziehungen, nicht aber auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern anwenden – stärker herausgestellt werden.
  • Wenn wir ein globales Bündnis für die Prinzipien der UN-Charta aufrechterhalten wollen, müssen wir den existenziellen Bedrohungen anderer Mitgliedstaaten mehr Aufmerksamkeit widmen. Der Westen könnte Themen wie Ernährungssicherheit, Schuldentragfähigkeit und Reform der globalen Finanzarchitektur nutzen, um den Entwicklungsländern sein Engagement unter Beweis zu stellen. In Afrika geben heute 57 Prozent der Länder mehr für Zinsen auf Staatsschulden (einschließlich ihrer chinesischen Kredite) aus als für Gesundheit, 17 Prozent wenden mehr für Zinszahlungen auf als für Bildung und 60 Prozent können kaum noch ihre Schulden bedienen.
  • Zudem muss dringend das Bild korrigiert werden, dass die USA und Europa dem israelisch-palästinensischen Konflikt gegenüber gleichgültig geworden sind. Das lässt sich auch über andere Konflikte sagen, bei denen der Westen in der Vergangenheit Vermittlungsplattformen angeboten, diese aber inzwischen aus einer Reihe von Gründen aufgegeben hat.
  • Der Westen muss die Dynamik der internationalen Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten, wird sich aber dem zunehmenden Druck stellen müssen, Verhandlungen als Option in Betracht zu ziehen. Wenn die Unterstützung der Ukraine durch diplomatischen Druck erzwungen wird, so muss man dabei auf möglicherweise auftretende Kollateralschäden vorbereitet sein.
  • Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die meisten Länder des Globalen Südens die von uns wahrgenommene Bedrohung durch China nicht teilen. Sie bevorzugen einen pragmatischen Ansatz gegenüber Chinas neuer Rolle.
  • Selbst die Länder, die unsere Werte teilen, wollen nicht unter Druck gesetzt werden, sich für eine Seite zu entscheiden.
  • Es ist an Europa, seine Rolle in der multipolaren Welt zu definieren und ein stärkeres globales außenpolitisches Profil zu zeigen. Die Beziehungen der EU zu Lateinamerika sind seit mehr als einem Jahrzehnt vernachlässigt worden. Mit Blick auf den Friedensprozess im Nahen Osten ist Europa – das diesbezüglich einst eine gestaltende Rolle spielte – in der Bedeutungslosigkeit versunken. Die Beziehungen zwischen der EU und Afrika sind zu einer schwerfälligen Pflichtübung geworden und müssen durch einen echten strategischen Dialog neu belebt werden. Und in Asien muss die EU ihr politisches Gewicht erst noch so erhöhen, dass es ihrer wirtschaftlichen Macht entspricht.
  • Nicht zuletzt müssen wir als Europäer begreifen: Während wir einen wertebasierten Multilateralismus befördern wollen, versteht die Mehrheit der Staaten, einschließlich der USA, die internationalen Beziehungen als eine transaktionale, von kurzfristigen nationalen Interessen geleitete Angelegenheit.

– übersetzt aus dem Englischen –

 


 

Andrea Ellen Ostheimer ist Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung bei den Vereinten Nationen in New York.


 

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