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Auslandsinformationen

Zwischen Gott und Kaiser

von Dr. José Luis Pérez Guadalupe, Sebastian Grundberger

Zum politischen Einfluss evangelikaler Kirchen in Lateinamerika

Die in Lateinamerika stark wachsenden evangelikalen Kirchen streben zunehmend nach politischem Einfluss. Dabei haben sie es bisher jedoch noch nicht vermocht, eine gemeinsame Agenda zu entwickeln. Charakteristisch ist vielmehr ein hohes Maß an Zersplitterung. Angesichts des wachsenden evangelikalen Wählerpotenzials dürfte der Einfluss evangelikaler Kräfte in Zukunft trotzdem weiter zunehmen.

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Wolken umhüllen die Christusstatue von Rio de Janeiro.

„Alles beginnt mit der Mystik und endet in Politik“

Charles Pierre Péguy

Die Missionierung des amerikanischen Kontinents vor fünf Jahrhunderten war das Ergebnis eines politischen Ereignisses. Egal, ob man dieses als „Fusion“ oder als „Zusammenprall“ verschiedener Kulturen versteht, ob man von „Evangelisierung“ oder „Eroberung“ spricht – die Christianisierung Lateinamerikas geschah in enger Kooperation mit den iberischen Kolonialmächten durch die Ausübung politischer Macht von oben nach unten. Die stark wachsenden modernen evangelikalen Bewegungen gehen in den letzten Jahrzehnten den umgekehrten Weg. Durch intensive Missionstätigkeit an der Basis und unter Zuhilfenahme von mitunter durchaus fragwürdigen Methoden „erobern“ sie ihre Gesellschaften von unten. Dabei besetzen diese, stark neu-pfingstkirchlich geprägten „evangelikalen Eroberer“ immer stärker wirtschaftliche und auch politische Schaltstellen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Damit stehen sie im Gegensatz zu ihren vom europäischen Protestantismus geprägten Vorgängern, welche auf dem Kontinent lange Jahre eine soziale und religiöse Minderheit bildeten, die von der öffentlichen Meinung und den gesellschaftlichen Eliten weitgehend ignoriert wurden.

Nach einigen Anmerkungen zur Ausbreitung und Herkunft der evangelikalen Kirchen in Lateinamerika stellt dieser Artikel die Frage nach Handlungslogiken dieser neuen evangelikalen Akteure im politischen Bereich. Dabei geht er sowohl auf die Strategien als auch auf die inhaltlichen Grundzüge des politischen Handelns Evangelikaler ein und wagt einen kurzen Ausblick auf die Zukunft.

Abb. 1: Anteil der Konfessionen an der Gesamtbevölkerung in Lateinamerika

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Wie im Artikel, wird „evangelikal” hier als Sammelbegriff für verschiedene protestantische Gruppen verwendet. Die Zahlen umfassen 18 lateinamerikanische Staaten und das spanischsprachige US-Territorium Puerto Rico. Quelle: World Religion Database, offizielle Regierungsangaben, Pew Research Center 2014. Zusammenstellung: José Luis Pérez Guadalupe.

Von einer Minderheit zum Machtfaktor

Demografische Erhebungen zeichnen ein deutliches Bild vom starken Bedeutungszuwachs evangelikaler Bewegungen in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika. Nach Angaben der Umfrage Latinobarómetro ist der katholische Glaube zwar weiterhin die dominierende Konfession auf dem Subkontinent, mit 68 Prozent der Bevölkerung bekennen sich jedoch heute deutlich weniger Menschen zum Katholizismus als 1970, als diese Zahl noch bei 92 Prozent lag. Parallel zur Verringerung des Anteils katholischer Christen in Lateinamerika verzeichnet der Anteil der evangelikalen Gläubigen ein Wachstum in ähnlicher Größenordnung. In einigen Ländern sind diese zahlenmäßig bereits fast gleich stark vertreten wie die Katholiken. Dies ist etwa der Fall in Honduras (41 Prozent evangelikale und 47 Prozent katholische Christen), Guatemala (40 gegenüber 47 Prozent) oder Nicaragua (37 gegenüber 47 Prozent). In Brasilien, Costa Rica, der Dominikanischen Republik sowie in Puerto Rico bekennen sich über 20 Prozent der Bevölkerung zu evangelikalen Bewegungen, in Argentinien, Bolivien, Chile, Kolumbien, Peru und Venezuela sind es über 15 Prozent. In Brasilien, dem Land mit der weltweit größten Anzahl von Katholiken, ist der Anteil der katholischen Gläubigen an der Bevölkerung zwischen 1995 und 2013 um 15 Prozentpunkte zurückgegangen, während gleichzeitig die Anzahl der evangelikalen Christen um den gleichen Anteil stieg. Ecuador und Paraguay sind heute die einzigen Länder des Kontinents mit einer zu über 80 Prozent katholischen Bevölkerung.

Was die politischen Aktivitäten der evangelikalen Kirchen in Lateinamerika betrifft, sind grob drei historische Abschnitte zu unterscheiden:

  1. Liberale Protestanten: Die ersten protestantischen Missionare kamen Mitte des 19. Jahr-hunderts nach Lateinamerika. Hierbei handelte es sich um Vertreter traditioneller und historisch gewachsener Strömungen des Protestantismus, die sich sowohl der Evangelisierung als auch der Bildung verschrieben hatten. Diese liberalen Protestanten verbündeten sich in den meisten Ländern der Region auf nationaler Ebene mit etablierten politischen Bewegungen (zum Beispiel mit der ursprünglich sozialreformerischen APRA-Partei in Peru) und setzten sich aktiv für Anliegen wie etwa Religionsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat, die Zivilehe und andere liberale Postulate ein. Die Schwachstelle dieser protestantischen Bewegungen war dabei jedoch in praktisch allen Ländern des Kontinents ihre marginale politische Bedeutung. Auch ein Jahrhundert nach Beginn ihrer Missionstätigkeit stellten die liberalen Protestanten in den 1950er Jahren nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung. Als Folge beschränkte sich ihr politischer Einfluss auf eine Rolle als mahnende gesellschaftliche Stimme und als Bündnispartner für liberale, der Vormachtstellung des katholischen Klerus kritisch gegenüberstehende politische Bewegungen.
  2. Konservative Missionare: Mitte des 20. Jahrhunderts entstand ein neuer Typ des Protestantismus. Dieser war politisch stärker konservativ und im Kontext des Kalten Krieges antikommunistisch orientiert und richtete sich expliziter gegen jegliche Annäherung an die katholische Kirche. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern konnten diese neuen konservativen Missionare dank klarer Strategien zur Evangelisierung und der Nutzung der modernen Kommunikations- und Informationstechnologie eine bedeutende Zahl von Anhängern gewinnen. Diese zweite Welle moderner und offensichtlich von nordamerikanischen Evangelikalen beeinflusster Missionare trug dazu bei, die evangelikalen Kirchen fest in der Gesellschaft zu verankern. Dabei konzentrierten die Missionare ihre Tätigkeit oft auf ökonomisch und gesellschaftlich benachteiligte Bevölkerungsschichten, wie etwa indigene Gruppen, was in manchen Fällen zu neuen Formen religiöser, aber auch wirtschaftlicher Abhängigkeit führte. Von nun an sprach man nicht mehr von Protestanten. Stattdessen prägte sich der Begriff des „lateinamerikanischen evangelikalen Corps“. In dieser Etappe wuchsen vor allem die Pfingstgemeinden stark. Diese Gruppen waren bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten in den meisten Ländern der Region (vor allem in Brasilien und Chile) präsent, arbeiteten aber wie auch andere evangelikale Kirchen damals weitgehend isoliert und in der Anonymität. In dieser zweiten Etappe der evangelikalen Bewegung fand ein bedeutender Wandel statt. Waren die Protestanten bisher Gruppen, die sehr stark mit ausländischen Missionaren und Immigrantengemeinden identifiziert wurden, waren die neuen evangelikalen Missionare zunehmend einheimisch und verbanden den religiösen mit einem stärker nationalistischen Diskurs. Dieser neue nationale Anspruch der Kirchen bei gleichzeitig wachsender Anhängerschaft bildete später die Grundlage für ihre politischen Ambitionen. Mit diesem Anspruch begannen evangelikale Akteure auch, eine stärkere Rolle in der Wirtschaft ihrer Länder einzunehmen.
  3. Evangelikale Eroberer: Schließlich entstand in einer dritten Etappe aus diesen evangelikalen Bewegungen der 1950er und 1960er Jahre sowie den bereits in Lateinamerika verwurzelten Gruppen eine neue soziale und politische evangelikale Kraft auf dem gesamten Kontinent. Nach dem Fall der Berliner Mauer verlor die antikommunistische Einstellung dieser meist konservativ orientierten evangelikalen Eroberer an Bedeutung. Mit dem eigenen Wachstum und dem gesteigerten Selbstbewusstsein ließ zudem die stark antikatholische Einstellung nach. Heute verfügen die modernen evangelikalen Kirchen über eine große Anzahl von Gläubigen und ein bedeutendes Wählerpotenzial. Im Gegensatz zu den katholischen Gläubigen charakterisieren sich die evangelikalen Gläubigen dadurch, dass sie ihre Kirche insgesamt mit größerem Engagement unterstützen und sich in stärkerer Art und Weise mit ihr identifizieren. Statt der einstigen „Hinterhofkirchen“ errichteten viele evangelikale Gemeinden moderne und großzügige Kirchengebäude in gehobenen Wohnbezirken und drangen zunehmend in gesellschaftliche Mittel- und Oberschichten vor. Als theologischer Türöffner in diese Schichten diente teilweise auch die zunehmende Adaption des „Evangeliums des Wohlstandes“, wie es häufig von den Neo-Pfingstkirchen vertreten wird. Diese Denkweise wurde in den 1960er Jahren in den USA entwickelt und geht davon aus, dass alle Christen, weil sie Kinder Gottes sind, dazu bestimmt sind, die Welt zu beherrschen und über alle vorhandenen Güter zu verfügen. So wird für die Gläubigen Reichtum als Vergütung für ihren Glauben und ihr Vertrauen auf Gott beansprucht. Wenn ein Gläubiger seine Pflicht erfüllt und Gott treu ist, gewährt ihm Gott demnach im Gegenzug alle Arten von, auch finanziellen, Segnungen. Im Umkehrschluss werden Armut und Krankheit schnell als Fluch und Strafe angesehen, die mit stärkerem Glauben und Gottvertrauen besiegt werden können. Solche Denkweisen bildeten die theologische Rechtfertigung für die Entstehung regelrechter evangelikal kontrollierter Wirtschaftsimperien, wie sie insbesondere in Brasilien anzutreffen sind. Das wohl prominenteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Igreja Universal do Reino de Deus (Universalkirche des Königreichs Gottes), welches eine der größten Medienimperien Brasiliens besitzt und eher der Logik eines Unternehmens mit Konsumenten als der einer Kirche mit Gläubigen folgt. Dieses Modell breitet die Kirche auch in anderen Ländern aus. In Peru etwa ist die Igreja Universal unter dem Namen Pare de sufrir (Hör’ auf, zu leiden) aktiv. Ihr Kirchengründer Edir Macedo, der auf eine aggressive Kollektensammlung unter seinen oft armen Kirchenmitgliedern besteht, wurde in der Milliardärsliste der Zeitschrift Forbes im Jahr 2015 mit einem Vermögen von 1,1 Milliarden US-Dollar geführt.
Die wachsende Zahl evangelikaler Christen stellt ein nicht unbedeutendes Wählerpotenzial dar.

Evangelikale als politische Akteure

Der politische Wandel der evangelikalen Kirchen in Lateinamerika im Laufe der Zeit war drastisch. Während die ersten protestantischen Missionare in Lateinamerika die Gesellschaft durch das Evangelium verbessern wollten, ohne wirklich eine politisch und gesellschaftlich tragende Rolle zu spielen, diskutieren die heutigen Evangelikalen nicht mehr über das „ob“, sondern lediglich über das „wie“ ihres politischen Handelns. Wichtige Einflüsse für diese stärkere Hinwendung zur Politik waren das Wachstum der charismatischen Kirchenbewegung und der Neo-Pfingstkirchen innerhalb des historisch gewachsenen Kirchenspektrums sowie nicht zuletzt die evangelikale Bewegung in den Vereinigten Staaten. Gerade in neo-pfingstkirchlichen Kreisen stützte man sich dabei auf Legitimationsmuster aus dem „Rekonstruktivismus“. Dieser politische Arm der „Wohlstandstheologie“ sieht Christen als dazu bestimmt an, an den politisch-gesellschaftlichen Schaltstellen zu stehen.

Die neuen, politisch eher dem konservativen Politspektrum angehörenden evangelikalen Bewegungen suchten also nicht länger das ungestörte Ausüben der eigenen Religion im Rahmen einer Weltflucht (fuga mundi), sondern trachteten zunehmend nach einer politischen Durchdringung ihrer Gesellschaften. Dies führte zu einer Neupositionierung der evangelikalen Kirchen auf dem ganzen Kontinent – weg von der Ablehnung der Politik hin zu ihrer Nutzung für die Evangelisierung. Diese christliche Motivation vermengte sich im Laufe der Zeit auch mit weltlichen Interessen evangelikaler Führungspersonen, was in einigen Fällen die politische Unterstützung von Diktaturen oder nicht verfassungskonformen Regierungen in Lateinamerika zur Folge hatte.

Während protestantische Christen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts lediglich verfassungsrechtliche Garantien zur freien Religionsausübung beanspruchten, fordern heutige Evangelikale die Gleichbehandlung mit anderen Konfessionen. Es ist offensichtlich, dass sich die evangelikalen Kirchen somit nicht nur anschicken, fünf Jahrhunderte konfessionellen Monopols der römisch-katholischen Kirche zu durchbrechen, sondern auch deren religiöse und politische Hegemonie auf dem Kontinent in Frage zu stellen. Das Wachsen der evangelikalen Kirchengemeinden von der Basis her, begleitet von einer starken Rolle der jeweiligen klerikalen Führungspersonen und unter expliziter Unterstützung der Gläubigen, hat auf politischer Ebene zur Folge, dass einige evangelikale Führungspersonen ihren religiösen Führungsanspruch auch politisch geltend machen wollen. Sie versuchen somit, aus der mühsam gewonnenen religiösen Anhängerschaft politisches Kapital zu schlagen.

Im Rahmen dieses neuen politischen und religiösen Umfelds wägen Regierungen und Parteien in verschiedenen Ländern Lateinamerikas das Für und Wider einer informellen oder formellen Annäherung an evangelikale Kirchen ab. Die politische Wertschätzung der evangelikalen Kirchen durch die Politik folgt dabei einem anderen Muster als im Falle der katholischen Kirche. Während die strikte katholische Hierarchie und Tradition der Politik den Vorteil der größeren Stabilität sowie eines diplomatischen Dienstes des Vatikanstaates mit langjähriger Erfahrung im Bereich der Verhandlungen auf internationaler Ebene bietet, werfen die modernen evangelikalen Kirchen eine stark wachsende Zahl an oft sehr aktiven religiösen Anhängern und damit ein großes Wählerpotenzial in die politische Waagschale. Die evangelikalen Führungsfiguren sind zudem in hohem Maße in der Lage, die individuellen Mitglieder ihrer Kirchengemeinden direkt zu beeinflussen.

Das stark gewachsene Wählerpotenzial der evangelikalen Christen zeigte sich deutlich bei mehreren lateinamerikanischen Wahlprozessen in der jüngeren Vergangenheit. So unterlag die kolumbianische Regierung bei der Volksbefragung über das Friedensabkommen im Jahr 2016 auch deshalb, weil es ihr nicht gelang, in ihrer Kommunikation Bedenken evangelikaler Gruppen gegen manche gesellschaftspolitische Aspekte des Abkommens zu zerstreuen. Gleichzeitig mobilisierten evangelikale Führungspersonen „ihre“ Gläubigen in hohem Maße zu einer Ablehnung des Friedensabkommens an den Wahlurnen. Ebenfalls im Jahr 2016 erfolgte die Wahl von Marcelo Crivella, einem Bischof der Igreja Universal do Reino de Deus, zum Bürgermeister der brasilianischen Stadt Rio de Janeiro. Im Jahr 2015 hatte der evangelikale ehemalige Fernsehunterhalter Jimmy Morales mit einem stark moralisierenden Diskurs und unter öffentlicher Zurschaustellung seiner religiösen Zugehörigkeit die Präsidentschaftswahlen in Guatemala deutlich gewonnen.

Mora listen statt Administratoren

Trotz einiger Ausnahmen, insbesondere in Brasilien, konzentriert sich der politische Einfluss evangelikaler Christen in Lateinamerika insgesamt mehr auf die Mobilisierung von Wählerstimmen als auf das eigene Eintreten in die aktive Politik. Bisher haben es evangelikale Kirchen kaum vermocht oder gewollt, strukturierte und beständige eigene politische Parteien zu gründen. Ein Grund hierfür ist sicherlich die schwach ausgeprägte Kohäsion verschiedener evangelikaler Kirchen und die Konkurrenz untereinander, was durch die stark personalistische Prägung vieler Kirchen weiter verstärkt wird. Die Evangelikalen in Lateinamerika bleiben trotz ihres beachtlichen Wachstums eine organisatorisch sowie seelsorgerisch stark zersplitterte religiöse Bewegung, was auch in ihren politisch-gesellschaftlichen Ambitionen und Handlungsmustern Niederschlag findet. Evangelikales politisches Engagement findet meist nicht vonseiten der Kirchen, sondern nur seitens einzelner Führungspersonen (Pastoren oder Laien) statt. So ist zwar festzuhalten, dass die evangelikalen Kirchen in Lateinamerika einen wichtigen religiösen, gesellschaftlichen und politischen Faktor darstellen, aber andererseits keinesfalls einen einheitlichen Block bilden, den man wie einen geschlossenen (politischen oder religiösen) Verband lenken könnte.

Trotzdem lässt sich in allen Ländern der Region beobachten, wie verschiedene politische Kräfte ein wachsendes Interesse zeigen, die Stimmen dieser Gläubigen für sich zu vereinnahmen. Dies führt zu einem stärkeren Einfluss der evangelikalen Kirchen auf die programmatische Ausrichtung von Parteien und Regierungen. Immer wieder versuchen politische Parteien, darunter insbesondere auch eher der katholischen Kirche nahestehende Kräfte christlich-demokratischer Orientierung, dieses Wählerreservoir für sich zu nutzen. Dabei unterliegen Parteien jedoch häufig dem Irrglauben, die evangelikalen Kirchen verfügten über eine der katholischen Kirche ähnlichen hierarchisch strukturierte Organisation oder, noch weiter von der Realität entfernt, das Wahlverhalten dieser Wählerschicht sei rein konfessionsgebunden und somit relativ leicht beeinflussbar.

Im Groben zeigte sich politisches Handeln evangelikaler Christen in Lateinamerika bisher in drei Grundmustern. Wie erwähnt, blieb die Gründung evangelikaler Parteien als politische Sammlungsbewegung für evangelikale Gläubige bisher ohne durchschlagenden politischen Erfolg. Das Muster inklusiver, von evangelikalen Christen angeführter, aber auch andere Menschen miteinschließender politischer Bewegungen ist ein von evangelikalen Kirchen häufig angestrebtes, aber bisher ebenfalls nicht sehr erfolgreiches Modell. Am häufigsten war bislang das Muster der „evangelikalen Fraktion“ in Form einer evangelikalen Gruppe, die in einer größeren, von nicht-evangelikalen Personen angeführten Partei oder politischen Bewegung mitarbeitet und so einen gewissen Einfluss erlangt, etwa auf das Parteiprogramm. Jede der drei genannten Optionen hat jedoch Grenzen und Schwachstellen. Einige Fachleute glauben deshalb, künftiges politisches Handeln evangelikaler Christen könne sich in der Gründung von – durchaus in einem nationalen Kontext auch mehreren – evangelikalen Minderheitsparteien niederschlagen, die dann in einem Mehrparteiensystem die Rolle eines „Züngleins an der Waage“ spielen. Im Gegensatz zur Idee einer evangelikalen Sammlungspartei trüge ein solcher Ansatz auch eher der völlig unterschiedlichen politischen Geschichte der evangelikalen Bewegungen Lateinamerikas und ihren sehr diversen Ansätzen bei Glaubensfragen, Entwicklung, Organisation und Zukunftsvisionen Rechnung.

Evangelikale Kirchen haben wachsenden Einfluss auf die programmatische Ausrichtung von Parteien und Regierungen.

Blickt man auf die politischen Anliegen der evangelikalen Kirchen, sticht das Versprechen einer ethisch sauberen, moralischen Regierungsführung und der frontale Kampf gegen die Korruption ins Auge. Sicher ist dies in allen lateinamerikanischen Ländern von großer Bedeutung, bildet aber keineswegs eine ausreichende Grundlage für ein Regierungsprogramm. Zudem eint die meisten evangelikalen Bewegungen die sogenannte „moralische Agenda“. Darunter fallen etwa ein Bekenntnis zu einem traditionellen Verständnis von Ehe und Familie, die Ablehnung von Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe sowie der Einsatz gegen die sogenannte „Gender-Ideologie“. Was man bei evangelikalen politischen Bewegungen meist vergeblich sucht, sind politische Konzepte für Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Sicherheit usw., welche die Basis eines möglichen Regierungsprogramms bilden könnten. Zudem fehlt oft die für eine Regierungsführung dringend erforderliche Kompetenz in diesen Bereichen. Im Laufe der Zeit hat sich nicht einmal ansatzweise so etwas wie eine eigene evangelikale Sozialdoktrin entwickelt. Evangelikale Kandidaten bei Wahlen sind weniger erfahrene Fachleute als vielmehr religiöse Führungspersonen, die eine Moralisierung der Politik statt einer effizienteren Regierungsführung versprechen. Sie sind also eher Moralisten als Administratoren. Viele evangelikale Kandidaten bleiben nach den Wahlen nicht der Politik erhalten, sondern ziehen sich, bei für sie negativem Ausgang, bis zu den nächsten Wahlen in ihre Kirchen zurück. Im Grunde bleiben sie somit meist „Soldaten der Kirche“ und werden nicht zu „Soldaten der Partei“. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zur katholischen Kirche in Lateinamerika, welche seinerzeit christlich-soziales Gedankengut auf der Basis der kirchlichen Sozialdoktrin entwickelte und gläubige Katholiken auf dieser Basis zur Gründung politischer Parteien anregte, die – institutionell unabhängig von der Kirche – in der Folge in ihren Ländern die Präsidentschaft erlangten.

Die Frage bleibt, ob der Eintritt der evangelikalen Kirchen in die Politik, derzeit vor allem mit einer „moralischen Agenda“, in Zukunft zu einer breiter gestreuten Bewegung führen könnte – etwa nach dem Muster der „grünen“ Parteien, die sich zu Beginn ihrer politischen Laufbahn ebenfalls auf ein einziges Thema konzentrierten, um sich dann jedoch breiter aufzustellen und einen politischen Wachstumsprozess zu durchlaufen. Zumindest lassen sich, trotz aller historischer Abneigung zwischen den evangelikalen Kirchen und der katholischen Kirche, in jüngster Zeit auf politischem Feld Annäherungen zwischen diesen beiden Sphären beobachten. Diese geschieht einerseits zwischen einem wichtigen Sektor der katholischen Kirche sowie den konservativeren evangelikalen Bewegungen mit dem Ziel der Verteidigung und öffentlichen Verbreitung „christlicher Werte“ in Gesellschaft und Politik. Im gleichen Atemzug lässt sich eine Annäherung evangelikaler Kirchengemeinden an manche der elitärsten gesellschaftlichen Gruppen der Region beobachten, welche die evangelikalen Bewegungen lange Zeit von oben herab betrachtet und ignoriert hatten. Dergestaltige, historisch unerwartete Wendungen bringt oft nur die Politik zu Stande.

Zersplitterung statt monolithischer Wahlblock

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die evangelikalen Kirchen in den verschiedenen Ländern Lateinamerikas ihre ursprüngliche Philosophie der Flucht aus der Welt aufgegeben haben und sich nun anschicken, den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und zunehmend auch politischen Raum zu erobern. Während sie mit diesem Gesinnungswandel ihre reine Ausrichtung auf die Evangelisierung zurückgestellt haben, waren evangelikale Gruppen jedoch bisher nicht in der Lage, eine über die „moralische Agenda“ hinausgehende politische Plattform zu entwickeln. Zweifelsohne gelang es ihnen jedoch, den politischen Bereich und die öffentliche Meinung besonders in den Ländern Zentralamerikas und in Brasilien, aber auch in Ländern wie etwa Kolumbien, mit ihren Anliegen zu beeinflussen.

Die starke Zersplitterung evangelikaler Bewegungen hat die Bildung evangelikaler Parteien erschwert.

Was bei allem religiösen und auch politischen Handeln evangelikaler Christen in Lateinamerika ein wichtiges Grundmuster geblieben ist, ist ihre starke Zersplitterung, welche fest in der DNA aller evangelikalen Bewegungen auf dem Kontinent verankert zu sein scheint. Dies erschwerte bisher jegliche gemeinschaftliche politische Strategie evangelikaler Gläubiger oder die Bildung evangelikaler politischer Sammlungsbewegungen. Im günstigsten Fall konnten einige evangelikale Führungspersonen über die vier Wände ihrer Kirchengebäude hinaus eine gewisse, nicht immer schmeichelhafte, nationale Bekanntheit erlangen. Auch wenn die evangelikalen Kirchen ihren numerischen Anteil an der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas zu Lasten der katholischen Kirche stark ausweiten und sich immer mehr in der Mitte der Gesellschaft etablieren konnten, führte ihre starke religiöse und politische Zersplitterung dazu, dass zwischen den eigenen politischen Ansprüchen in den achtziger und neunziger Jahren und ihren gegenwärtigen Erfolgen eine große Kluft bestehen blieb. Wollen die evangelikalen Kirchen ihr Ziel einer politischen Durchdringung der Gesellschaften erreichen, werden sie deshalb neue Strategien entwickeln müssen.

Fest steht, dass die politische Repräsentanz evangelikaler Christen in Lateinamerika, mit der Ausnahme Brasiliens, (noch) nicht ihrem gewachsenen Anteil an der Bevölkerung entspricht. Bei Wahlen in der Region ist es daher kaum möglich, eine klare Korrelation zwischen der zahlenmäßigen Stärke der evangelikalen Bevölkerung und dem Wahlverhalten festzustellen. Auch eine erfolgreiche Steuerung der Wählerstimmen evangelikaler Bürger durch ihre Kirchen ist empirisch nicht nachweisbar. Nichtsdestotrotz haben evangelikale Wechselwähler durchaus die Möglichkeit, bestimmte Kandidaten, die unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit Zugeständnisse an ihre moralischen Überzeugungen machen, strategisch zu unterstützen. So können die evangelikalen Wähler sich zu einer „Wählermacht“ entwickeln, die Wahlprozesse wie etwa das Referendum zum kolumbianischen Friedensabkommen entscheidend beeinflussen.

Es ist sicher positiv zu bewerten, wenn die Bürger einer Nation, egal aus welchen Gründen, ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wahrnehmen, anstatt sektenhaft Philosophien der Weltflucht anzuhängen. Die Geschichte hat dabei bisher gezeigt, dass die große Mehrheit der evangelikalen Bürger in Lateinamerika – ebenso wie die Mehrheit aller Lateinamerikaner – keineswegs als monolithischer Wahlblock agieren, sondern durchaus in der Lage sind, ihre religiöse Konfession und ihr politisches Handeln voneinander zu trennen. Diese Erkenntnis sollten opportunistische Politiker und auch religiöse Führungspersonen aller Kirchen nicht unbeachtet lassen.

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Dr. José Luis Pérez Guadalupe ist stellvertretender Vorsitzender des Instituto de Estudios Social Cristianos (IESC). Von 2015 bis 2016 war er Innenminister der Republik Peru.

Sebastian Grundberger ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Peru.

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