Länderberichte
Für viele politische Beobachter drängt sich immer mehr der Vergleich zu Turgut Özal auf, der mit seiner ANAP (Mutterlandspartei) Anfang der 80er Jahre für einen einschneidenden politischen Umbruch sorgte. Özal hatte aber mindestens vier unterschiedliche ideologische Lager zu vereinen, die in Krisenzeiten auseinanderzubrechen drohten. Erdoğan aber ist unumstritten und bezüglich der innerparteilichen Demokratie lässt dies die schlimmsten Befürchtungen zu.
Wahlergebnisse des Parteikongresses
Die Wiederwahl Erdoğans als Parteivorsitzender war auch in dieser Eindeutigkeit zu erwarten. Weit interessanter dürfte die Neuwahl des zentralen Parteirates, sprich Parteivorstandes, sein. Dort wurden fast 50% der Mitglieder neu gewählt.
Nicht mehr vertreten sind u.a. vier aktuelle Minister wie Ali Coşkun, Hilmi Güler, Vecdi Gönül und Osman Pepe. Es war der Wunsch Tayyip Erdoğans, der wie alle Parteivorsitzenden die Wahllisten persönlich erstellte und keine Alternativlisten zuließ, die Anzahl der Minister im Parteivorstand von acht auf sechs zu reduzieren. Zehn Mitglieder des neuen Vorstandes sind nun Frauen, davon sieben ohne Kopftuch, und auch viele junge Politiker wurden hineingewählt.
Hinter dieser Verjüngungskur wird jedoch ein ganz anderer Grund vermutet. Sie ist als Versuch zu bewerten, den Einfluss der alten Garde von Milli Görüş-Anhängern auch im Parteivorstand zurückzudrängen. Diese ideologische Säuberung steht im Einklang mit dem Anspruch der Partei und ihres Parteivorsitzenden, eine Reform- und Erneuerungsbewegung zu sein, die sich auch selbst von alten Überzeugungen zu trennen vermag. In der Tat hatte das äußere Erscheinungsbild des ersten AKP-Kongresses auch nichts mehr zu tun mit früheren Parteikongressen von Vorgängerparteien, wie z.B. der Refahpartei, die noch vor zehn Jahren stattgefunden haben.
Während damals vollbärtige Männer in traditioneller Kleidung abgetrennt von schwarzverschleierten Frauen auftraten und solchen Parteikongressen dadurch einen islamistischen Stempel aufdrückten, saßen beim AKP-Kongress Männer und Frauen gemischt durcheinander. Diejenigen Frauen mit Kopftüchern trugen aber nicht die klassische dunkle Verschleierung, sondern moderne Tücher, und viele waren unbedeckt. Die Partei hat also auch im Erscheinungsbild den Sprung von einer islamisch angehauchten Vereinigung zu einer konservativen, islamisch-demokratischen Volkspartei geschafft.
Die Rede des Parteivorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan
In der fast zweistündigen Rede Tayyip Erdoğans, die rhetorisch einwandfrei vorbereitet war und politische Inhalte vermittelte, ging Erdoğan des öfteren auf die Entstehungsgeschichte seiner Partei ein. Seine Partei sei wie ein „Phönix aus der Asche“ entstanden und habe immer den Anspruch gehabt, die Nachfolge des freigewordenen konservativen, Mitte-Rechtslagers anzutreten. Dies sei geschehen; die AKP sei eine islamisch-demokratische Partei nach dem Vorbild der Christdemokraten in Europa. Seine Partei sei aus einer anatolischen Bewegung entstanden und deswegen die einzige türkische Volkspartei.
Neben den deutlichen Verbesserungen in der Wirtschaft und bei den EU-Reformen, etc. pries er insbesondere die Bemühungen seiner Partei, gegen Bestechungen, Mauscheleien und Unregelmäßigkeiten in Verwaltung und Politik vorzugehen. Bei diesem Thema bekam der Parteivorsitzende öfter tosenden Beifall, weil er mehrere Male darauf hinwies, dass die materiellen, finanziellen und geistigen Besitztümer der Türkei lediglich dem türkischen Volk und sonst niemandem gehörten. „Jeder, der sich Kraft seines Amtes persönlich die Besitztümer des türkischen Volkes zu Nutzen macht oder Bekannte und Verwandte in den Genuss von finanziellen Vorzügen auf Kosten des Staates kommen lässt, muss wissen, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum dieses Tuns schon längst überschritten ist“, so Erdoğans blumiger Hinweis auf die Entschiedenheit der neuen Regierung, gegen solche Unregelmäßigkeiten vorzugehen.
Auch die politisch Verantwortlichen der jüngsten Vergangenheit bekamen ihr Fett weg. Die AKP sei in einer Zeit an die Regierung gekommen, als man nicht wusste, wann der Ministerrat zusammentritt und man auch nicht wusste, ob er im Krankenhaus oder im Ministerpräsidentenamt zusammentritt. Dies war ein Hinweis auf die Krankheit Bülent Ecevits, der als damaliger Ministerpräsident über Wochen so krank war, dass das Land in Bewegungslosigkeit erstarrte.
Recep Tayyip Erdoğan gab jedoch auch zu, dass er und seine Partei immer noch am Anfang stünden und man wisse, dass noch vieles zu tun sei. Wenn man jedoch genügend Zeit bekäme, dann würde man in Bälde sehen, welche radikalen positiven Veränderungen und fundamentalen Verbesserungen für das Volk und das Land eintreten würden. Erdoğan verwies auch mehrere mal darauf, dass es keine „geheime Agenda“ gebe, was öfter von der türkischen Öffentlichkeit und den Medien der Partei angelastet wird. „Schaut her und seht uns an, wir sind das und daneben gibt es nichts anderes und insbesondere keine geheime Agenda“, so seine Worte.
Viele türkische Beobachter sind davon überzeugt, dass Erdoğan und die AKP die laizistische Struktur der Türkei hin zu einer islamischen Ordnung verändern werden, wenn die Regierung erst einmal fest im Sattel sitzt.
Vor den Wahlen vom 3. November 2002 war Recep Tayyip Erdoğan bei vielen Wahlveranstaltungen darauf eingegangen, dass es nach seiner Meinung in der Türkei „schwarze“ und „weiße“ Türken gebe und er ein „schwarzer“ Türke sei. Bisher wurde dieser Aussage keine große Bedeutung beigemessen. Jedoch sprach er in seiner Rede sehr oft davon, dass er einen Traum habe. Er träume von einer Türkei, deren Wohlstand jeden Bürger erreiche, deren soziale Probleme gelöst seien, damit zukünftige Generationen es leichter hätten. Er träume noch immer weiter, und dieser Traum sei noch nicht ausgeträumt. Aufgrund dieser Aussage und seiner Aussage vom vergangenen Jahr, dass er ein „schwarzer“ Türke sei, bezeichneten ihn viele türkische Medien nach dem Parteikongress als Recep Martin Luther King.
Das Stigma des Fundamentalismus, welches ihm als ehemaligen Refah-Politiker noch immer anhaftet, versucht er nun auch dadurch los zu werden, in dem er sich auf eine Stufe mit Martin Luther King stellt.
Recep Tayyip Erdoğan ist also mit eindeutiger Mehrheit für weitere drei Jahre als Parteivorsitzender gewählt. Das türkische Parteiengesetz bestimmt übrigens verbindlich den Zeitraum, in denen Parteikongresse auszurichten sind. Außerordentliche Parteikongresse können von den Parteivorständen zwar selbst angesetzt werden, ordentliche Parteikongresse müssen aber in einem regelmäßigen Abstand von wenigstens zwei und maximal drei Jahren ausgerichtet werden. Das Parteiengesetz schreibt auch vor, dass der Parteivorsitzende durch geheime Wahl bestimmt und der erste Parteikongress einer Partei spätestens zwei Jahre nach Parteigründung durchgeführt werden muss.
Die Parteikongresse aller türkischen Parteien müssen übrigens immer in Ankara stattfinden, da dort auch die Parteizentralen ansässig sein müssen. Auch hier erkennt man die zentralistische türkische Verwaltung, wobei natürlich eine Parteizentrale auch in der Hauptstadt ansässig sein sollte. Jedoch könnte in der Türkei auch ein Parteikongress in Istanbul, Izmir oder Antalya denkbar sein, wenn er nicht per Gesetz verboten wäre.
Gleichzeitig fand am 12. Oktober auch der siebte ordentliche Parteikongress der Nationalistischen Bewegungspartei (MHP) statt. Der bisherige Parteivorsitzende Devlet Bahçeli, der nach der Wahlniederlage vom 3. November 2002 nicht mehr als Parteivorsitzender kandidieren wollte, wurde mit 688 von 1127 gültigen Stimmen wieder gewählt. Devlet Bahçeli hatte sich tatsächlich nicht als Kandidat aufstellen lassen und wurde auf Vorschlag von 950 Delegierten als weiterer Kandidat in die Wahl aufgenommen. Verlierer des siebten Parteikongress der MHP waren Ramiz Olgun (300 Stimmen), Koray Aydın (137 Stimmen) und Aytekin Yıldırım (2 Stimmen).
Künftige Entwicklungen
Das Ergebnis des AKP-Kongresses war nicht anders zu erwarten. Mit Erdoğan besitzt das Land einen äußerst charismatischen Führer, dessen Partei nicht nur volksnahe Politik betreibt, sondern auch visionäre Vorstellungen besitzt. Wenn seine Regierung auch nur die Hälfte der angestrebten Reformen in den nächsten ein bis zwei Jahren durchzusetzen vermag, dann wird die Lebensqualität in der Türkei in allen Bereichen auf jeden Fall zunehmen.
Obwohl neue Parlamentswahlen erst in vier Jahren stattfinden, kann man jetzt schon prophezeien, dass die Partei, wenn sie Fehler und Polemiken vermeiden kann, aus einer zukünftigen Wahl noch viel stärker hervorgehen wird als bisher. Den ersten Schritt dahin wird durch die zentralen Gemeinde- und Bürgermeisterwahlen im März 2004 getan werden können. Nach allen Umfragen wird die AKP dort als klarer Sieger hervorgehen. Diese Wahlen werden dann auch zu einem Prüfstein für alle anderen etablierten türkischen Parteien werden, denen nach der Niederlage in den Parlamentswahlen vom 3. November 2002 auch auf lokaler Ebene ein Fiasko zu drohen scheint.