Bestandsaufnahme
Jüdisches Leben in Frankreich
Nach Schätzungen des „Repräsentativen Rates der jüdischen Institutionen in Frankreich“ (CRIF) leben derzeit rund 550 000 Menschen jüdischen Glaubens in Frankreich. Sie stellen die größte jüdische Gemeinde in Europa und rund ein Prozent der französischen Bevölkerung dar. Auch wenn das jüdische Leben in Frankreich durch unterschiedliche Migrationswellen der letzten Jahrhunderte geprägt wurde, haben heute rund 70 Prozent der französischen Juden Vorfahren, die im Zuge der Dekolonisierung in den 1960er Jahren aus Algerien und anderen nordafrika-nischen Ländern zugewandert sind.[1] Innerhalb der jüdischen Gemeinden Frankreichs stellen Beobachter seit mehreren Jahren einen Anstieg der streng praktizierenden Gläubigen fest. Rund 60 Prozent der jüdischen Schulen in Frankreich sind heute ultraorthodox ausgerichtet.
Der erneute Anstieg von antisemitischen Attacken erscheint angesichts der Tatsache, dass sich viele antisemitische Klischees hartnäckig in der französischen Gesellschaft halten, wenig erstaunlich. 2018 gaben 22 Prozent der befragten Franzosen an, dass Juden in der Wirtschaft zu viel Macht hätten.[2] Gleichzeitig wurde der politischen Bildung in Frankreich ein Armutszeugnis ausgestellt: 21 Prozent der 18-34-jährigen Franzosen geben an, dass sie noch nie vom Holocaust gehört haben. Es scheint sich dabei auch um ein Generationenproblem zu handeln. Über alle Altersstufen hinweg, haben 8 Prozent der Franzosen laut eigenen Angaben keine Kenntnis vom Holocaust.
Die Terrorattacken von 2012 und 2015 haben das Bewusstsein für die Bedrohung des jüdischen Lebens in Frankreich geschärft. Die Häufung antisemitischer Übergriffe im Rahmen der Bewegung der „Gelbwesten“ scheint wiederum zu bestätigen, dass die Toleranzgrenze für Hass deutlich gesunken und Antisemitismus kein Phänomen der extremistischen Ränder der französischen Gesellschaft mehr ist.
Antisemitismus im 21. Jahrhundert
Seit 2006 wurden zwölf Juden in Frankreich ermordet
Der Grad an Antisemitismus in der französischen Gesellschaft wird von Beobachtern häufig in Verhältnis zu der Anzahl der Personen gesetzt, die nach Israel auswandern. Diese Zahlen werden in Frankreich statistisch nicht durch den Staat erfasst und unterscheiden nicht zwischen einer Auswanderung aus Sicherheitsbedenken und anderen Gründen. Dennoch ist davon aus-zugehen, dass viele Franzosen jüdischen Glaubens die Auswanderung nach Israel aufgrund eines latenten Alltags-Antisemitismus aber auch als Reaktion auf die konkreten Anschläge der vergangenen Jahre wählen. Zwischen 2000 und 2017 sind laut Angaben des „Repräsentativen Rates der Jüdischen Institu-tionen in Frankreich“ (CRIF) 55.049 Juden aus Frankreich ausgewandert. Zwischen 1970 und 1999 seien es hingegen nur 48.097 gewesen.[3]
Französische Juden weisen immer wieder auf das zunehmend angespannte Klima innerhalb der französischen Gesellschaft hin. Zentrale Ereignisse, die dieses Gefühl der wachsenden Unsicherheit untermauert haben, waren
- die Geiselnahme, Folterung und Ermordung des aus Marokko stammenden Handy-Verkäufers Ilan Halimi im Jahr 2006,
- die Mordserie von Toulouse im Jahr 2012, bei der vier Juden, darunter drei Kinder auf dem Schulweg, erschossen wurden,
- der Terroranschlag vom Januar 2015, bei dem in einem Supermarkt für koschere Produkte vier Personen ermordet wurden,
- die Ermordung von Sarah Halimi und Mireille Knoll in den Jahren 2017 und 2018, zwei älteren Damen, deren Mörder antisemitische Motive für die Taten angaben.
Der Antisemitismus in Frankreich hat mit diesen Taten eine neue Dimension eingenommen. Zum einem besteht über die Schändung und Zerstö-rung von jüdischen Friedhöfen und Geschäften hinaus Gefahr für Leib oder Leben. Zum anderen wurde das Thema „Antisemitismus unter Muslimen“ unweigerlich auf die politische Agenda gesetzt: Im Fall der Anschläge von 2012 und 2015 handelte es sich um islamistisch motivierten Terror. Bei den Mördern von Ilan Halimi handelte es sich um eine kriminelle Bande muslimischer Einwanderer aus einem Pariser Banlieue, deren Ziel es war, Lösegeld zu erpressen.
Alle Ereignisse führten zu einem Wandel der Antisemitismus-Debatte in Frankreich. Die Franzosen wurden sich des Scheiterns der bisherigen Präventionsstrategie und der neuen Herausforderungen bewusst. Die Debatte über den neuen muslimischen Antisemitismus hat in den letzten Jahren immer wieder zu schmerz-haften gesellschaftspolitischen Auseinander-setzungen geführt, die wenig zielführend waren.
Das französische Manifest gegen neuen Antisemitismus[4], das 2018 veröffentlicht wurde und die Imame Frankreichs aufforderte, einschlägige Verse des Koran für obsolet zu erklären, sorgte bei führenden muslimischen Theologen für Empörung und wurde als Zeichen für eine islamophobe Stimmung in Frankreich verstanden.
Toleranz für Hass?
Antisemitismus und die „Gelbwesten“
Gerade in den letzten Wochen kam es im Rahmen der Proteste der Gelbwesten vermehrt zu antisemitischen Taten. Allein am Wochenende vom 9./10. Februar 2019 wurden in Paris drei Vorfälle bekannt: Ein Streetart-Kunstwerk, das das Konterfei der 2017 verstorbenen franzö-sischen Politikerin und Auschwitz-Überlebenden Simone Veil zeigt, wurde mit zwei Hakenkreuzen bekritzelt. Ein Denkmal für Ilan Halimi wurde von Unbekannten beschädigt. Schließlich wurde mitten in der Pariser Innenstadt auf das Schaufenster eines Bagel-Geschäfts das Wort „Juden“ (in deutscher Sprache!) geschmiert.
Bezeichnend ist dabei nicht nur die Dichte der Taten, sondern auch die Bedeutung der Angriffs-ziele. Der Fall Ilan Halimi stellt für die französi-sche Gesellschaft ein Trauma dar, das bis heute nicht verarbeitet wurde. Simone Veil bleibt auch über ihren Tod hinaus eine der zentralen morali-schen Instanzen Frankreichs: Das Wort „Juden“ auf Vitrine eines Geschäfts erinnert an die warnenden Worte von Premierminister Edouard Philippe im Jahr 2018: „Jede Aggression gegen einen unserer Mitbürger, weil er jüdischer Ab-stammung ist, klingt wie ein neuer Kristallbruch."
Die Tatsache, dass der bekannte französische Philosoph und Publizist Alain Finkielkraut am 16. Februar auf offener Straße von „Gelbwesten“-Trägern mit antisemitischen Sprüchen beleidigt und angepöbelt worden ist, stellt eine neue Qualität des Antisemitismus innerhalb der aktuellen Protestbewegung dar.
Es bleibt festzuhalten, dass es seit Anbeginn der Proteste am 17. November 2018 Hinweise auf rassistische, homophobe und antisemitische Übergriffe der Gelbwesten-Bewegung gab: An den Demonstrationen beteiligen sich zunehmend Rechtsextremisten und Linksautonome. Beide Gruppen sind dafür bekannt, dass unter ihnen auch antisemitische Tendenzen vorhanden sind und toleriert werden. Das heißt nicht, dass alle „Gelbwesten“ Antisemiten sind. Aber bisher hat es die Bewegung der „Gelbwesten“ nicht geschafft, sich von Gewalt und Antisemitismus zu distanzieren. Durch den mangelnden Grad an Organisation und Struktur der „Gelbwesten“ – auch nach drei Monaten hat sich immer noch kein Sprecher der Bewegung herausgebildet – werden antisemitische Tatbestände nicht klar verurteilt und innerhalb der Bewegung isoliert.
Im Gegenteil: Auch nach dem Angriff auf Alain Finkielkraut am 16. Februar 2019 kamen eher abwiegelnde Erklärungen: Finkielkraut sei als zuspitzender, mitunter aggressiv auftretender Gesprächspartner aus dem Fernsehen bekannt, er habe an einem Protest-Samstag ja nicht auf die Straße gehen müssen. Gleichzeitig machen Verschwörungstheorien die Runde: Der antisemitische Auftritt der „Gelbwesten“-Träger sei von der Regierung initiiert, um die Protest-Bewegung zu schwächen. Die Toleranzschwelle für Hass wurde dadurch deutlich gesenkt und es besteht die Gefahr, dass dies auch Auswirkungen auf die französische Gesellschaft insgesamt haben könnte.
Gegen die neue Antisemitismus-Welle wollen die demokratischen Parteien Frankreichs ein deutliches Zeichen setzen. Rund 20 000 Pariser versammelten sich am 19. Februar 2019 auf der Place de la République zu einer Demonstration gegen Antisemitismus, zu der die Parteien aufgerufen hatten. Erst am Vorabend waren auf einem jüdischen Friedhof im Elsass Gräber geschändet worden. Nach der Versammlung bleibt jedoch auch ein bitterer Nachgeschmack. So waren zwar viele Minister und Abgeordnete anwesend, es konnten jedoch nur vergleichs-weise wenig Bürger mobilisiert werden. Eine Generation zuvor – im Jahre 1990 – hatten rund 200 000 Franzosen am selben Ort gegen Antisemitismus demonstriert. Staatspräsident Emmanuel Macron hatte sich im Vorfeld bewusst gegen eine Teilnahme entschieden, besuchte jedoch den geschändeten Friedhof im Elsass und versprach „starke“ Maßnahmen gegen den neuen Antisemitismus. Einer möglichen Gesetzes-initiative, die Antizionismus als Straftat an-erkennen würde, erteilte er vorerst eine Absage. Premierminister Edouard Philippe stellt hierzu fest, dass Gesetze das Problem nicht lösen würden.
[1] « Qui sont les Juifs de France ? », La Croix, 22 février 2017.
[2] „CNN poll reveals depth of anti-Semitism in Europe”: https://edition.cnn.com/interactive/2018/11/europe/antisemitism-poll-2018-intl/.
[3] „Y a-t-il 60 000 Français juifs qui ont déménagé pour cause d'antisémitisme ? D'où sort ce chiffre?“ : https://www.liberation.fr/checknews/2018/04/27/y-a-t-il-60-000-francais-juifs-qui-ont-demenage-pour-cause-d-antisemitisme-d-ou-sort-ce-chiffre_1653590.
[4] „Manifeste «contre le nouvel antisémitisme“: http://www.leparisien.fr/societe/manifeste-contre-le-nouvel-antisemitisme-21-04-2018-7676787.php