Länderberichte
Die Regierung Chávez hat eine qualitative Veränderung erfahren. Sie bezeichnet sich selbst jetzt als "Revolutionäre Regierung der Bolivarianischen Republik von Venezuela“. Die OAS dringt auf Neuwahlen und stärkt der Verhandlungsmission ihres Generalsekretärs eindeutig den Rücken.
Die Regierung versucht mit Notplänen und unter dem Einsatz regulärer Einheiten der Streitkräfte die Streikfront im Ölsektor und im Transportgewerbe zu brechen. Angeheizt wird das politische Klima durch den Versuch einer Durchsuchung der Parteizentrale der Oppositionspartei „Proyecto Venezuela“.
Die Opposition reagiert mit verstärkten Protesten in allen Teilen des Landes und sperrt wiederum für Stunden wichtige Verkehrsknotenpunkte in Caracas und im Inland.
Venezuela richtet sich auf eine Ausnahmeweihnacht ein.
Präsident Chávez ist offensichtlich entschlossen, seine „Bolivarianische Revolution“ mit allen Mitteln durchzusetzen. Anders lassen sich seine Anordnungen an die Armee, dass präsidiale Dekrete über richterlichen Entscheidungen stehen, nicht erklären. Seit 15. Dezember hat daher die Revolution eine andere Qualität.
Die Botschaft von Heereschef Montoya hat ähnlichen Charakter, Durchsetzen der Macht mit allen Mitteln. Die Einstufung des Ausstandes im Ölsektor als „Sabotage“ gibt zudem die Möglichkeit, „legal“ gegen die Streikenden vorzugehen. Die Streitkräfte werden in den Dienst der Revolution gestellt. Wenn wichtige und mächtige Heeresführer sich so wie General Montoya in dieser Situation öffentlich an die Seite des Präsidenten stellen, dann sind sie sich sicher der Konsequenzen bewusst und auch bereit, diese zu tragen.
Das Chávez die Realisierung der Revolution mit Hilfe der Armee bitterernst ist, zeigen auch „kleine“ protokollarischen Vorkommnisse bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an Simón Bolívar am 17. Dezember sowie offizielle Anzeigen des Arbeitsministeriums. Durch das offizielle Protokoll aufgerufen als Vertreter der „revolutionären“ Regierung der Bolivarianischen Republik geht Präsident Chávez zum Sarkophag und erweist dem Befreier Venezuelas im Pantheon der Hauptstadt die Ehre. Als die Delegation der Streitkräfte später seinen Stuhl grüßend passieren, beeilt sich Chávez aufzustehen und scherzt demonstrativ lange mit den hohen Militärs. Den längsten und herzlichsten Gruß erhält der Botschafter Kubas, der an diesem Tag das Diplomatische Corps vertritt. Die offizielle Anzeige des Arbeitsministeriums trägt die Überschrift „Gobierno Revolucionario de la República Bolivariana de Venezuela“ (Revolutionäre Regierung der Bolivarianischen Republik von Venezuela), eine Bezeichnung, die durch die gültige Verfassung nicht gedeckt ist.
Die Lage für die „Coordinadora“ wird immer prekärer. Es geht nicht nur um die Frage, wie lange sie den (Öl-)Streik durchhalten kann. Es geht auch um die Frage, wie lange sie noch das Spiel der Regierung bei der OAS-Vermittlung mitmacht. Die „Coordinadora“ hat ihre Verhandlungsangebote „ausgereizt“. Sie hat alle möglichen Lösungsvorschläge für die Krise vorgetragen und immer größere Schwierigkeiten, ihre Geduld ihren Anhängern zu erklären und zu verhindern, dass extreme Flügel wieder die Meinungsführerschaft in der Streikleitung übernehmen. Aber die „Coordinadora“ weiß auch, wer als erster vom OAS-Verhandlungstisch weggeht, hat verloren.
So hofft sie auf den diplomatischen Druck, der durch die OAS-Resolution zu Venezuela entstehen könnte. Anders als von Venezuela gewollt, hat die OAS kein persönliches Wort der Unterstützung für Präsident Chávez gefunden. Vielmehr gehört zum OAS-Kanon der Lösungsmöglichkeiten vor allem die von Chávez ungeliebten und bislang beständig abgelehnten „Wahlen“. Auch andere Passagen hat die OAS in erster Linie an die Regierung Venezuelas gerichtet. Respekt vor der Meinungsfreiheit und den Medien, Gewaltverzicht in der Politik und Einhaltung des Rechtsstaats.
Verlangt hatte Venezuelas OAS-Botschafter, Jorge Varelo, die persönliche Unterstützung von Präsident Chávez. In der OAS-Resolution wird lediglich die „Bolivarianische Republik, deren Regierung Präsident Chávez vorsteht“ erwähnt. Dies aber wird ihm genügen, um kommenden Sonntag in „Aló Presidente“ –und besonders vor der internationalen Presse- diese eher zurückhaltende OAS-Erklärung als „Solidarität“ zu seiner Person und zu „seinem Venezuela“ umzudeuten. Dabei wird ihn nicht stören, dass sich die OAS wiederum und ausdrücklich hinter ihren Generalsekretär Gaviria gestellt hat, der eindeutig Wahlen als Verhandlungsergebnis will und auch bei den Angriffen auf die Medien durch die Anhänger des Präsidenten eine klare Sprache der Verurteilung dieser Aggression gefunden hatte.
Gaviria hält an seiner besorgniserregenden Einschätzung der Lage und an ausbleibenden schnellen Erfolgen der OAS-Vermittlung fest, auch wenn er als relativen Fortschritt feststellt, dass beide Seiten jetzt schriftliche Materialien zu ihren Positionen austauschen.
Der Druck der amerikanischen Staatengemeinschaft hält an. US-Botschafter Shapiro bewertet die Lage als zunehmend ernster. Ecuadors nächster Präsident, Exoberst Lucio Gutíerrez empfiehlt Präsident Chávez aus Berlin, wo er sich zu politischen Gesprächen aufhält, ernsthafte Gespräche, weil man nicht „auf dem Rücken des Volkes“ regieren kann.
General Raúl Baduel, Kommandeur der kampfstarken 4. Division in Maracay und derjenige, der Präsident Chávez im April die Rückkehr zur Macht ermöglichte (es war in erster Linie die Armee und nicht das Volk), hat sich für die strikte Anwendung der Verfassung ausgesprochen und erklärt, dass „Richter eine Institution sind, die zu respektieren ist“. Alle öffentlichen und nichtöffentlichen Aufrufe an ihn, in dieser Staatskrise einzugreifen, lehnte und lehnt er ab. Baduel verurteilte die Aktionsformen der Opposition. Er warnte, dass angesichts der eskalierenden Konfrontation zunächst die Armee abschreckend wirken sollte, wies aber gleichzeitig auf die Möglichkeiten des Waffeneinsatzes hin, wenn es die Situation erfordert. Sein dringender Appell richtete sich an beide Konfliktparteien, die Aggressionen zu vermindern und er zitierte Gandhi mit dessen Aussage, dass drei Viertel aller Konflikte gelöst werden könnten, wenn man sich die Schuhe des Gegners anziehen würde.
Gleichzeitig wies er auf den Konflikt als Essenz der Demokratie hin. Notwenig aber sei es, diesen Konflikt friedlich und gewaltlos auszutragen. Ausdrücklich verweigert er einen Kommentar zur Priorität von Wahlen vor Notstandsmaßnahmen mit den Worten, dass dieses keine Angelegenheit der Streitkräfte ist. So wird jede Seite, wie auch bei der OAS-Resolution, seine Politik bestätigt sehen und es bleibt die Frage, wie tatsächlich die Armee in der Zukunft handeln wird, denn die Erklärungen von General Baduel sind wesentlich differenzierter als die uneingeschränkte Treueerklärung des Heereschefs vom Montag der Woche.
Heftige Reaktion der Repräsentanten des Oficialismo zur Frage ihrer Dollarkonten in den USA
Unternehmerpräsident Carlos Fernández hatte am 16. Dezember in der öffentlichen Konferenz der Streikleitung über Dollarkonten wichtiger Repräsentanten des Oficialismo in den USA mit Namen und Zahlen berichtet.
Die Reaktion blieb nicht aus. Empört weisen die Bezichtigten die Anschuldigung zurück und verlangen hieb- und stichfeste Beweise. Sie werden Strafanzeige gegen Carlos Fernández stellen. Abgeordneter Tarek William Saab, der Poet der Revolution, hat zudem die Bank um Auskunft ersucht und will am Mittwoch ihre Antwort veröffentlichen.
Sollte Carlos Fernández seinen Vorwurf ohne eindeutige Beweise vorgetragen haben, hat er nicht nur sich selbst geschadet. Ungleich größer wird der Imageverlust für die Unternehmer und vor allem für die „Coordinadora Democrática“ sein. Nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland, wo die Coordinadora mühsam ihr Image verbessert hatte.
Carlos Fernández verweist mit Unschuldsmine darauf, dass er „lediglich eine Zeitungsquelle“ (Reporte – diario de la economía) verbreitet und selbst keinerlei „Beschuldigung“ gegen die Abgeordneten ausgesprochen habe.
Landesweite Proteste halten unvermindert an, Regionen Schwerpunkte der Demonstrationen
Jeden Tag erlebt Venezuela die massiven Proteste der Opposition in Caracas und in allen Regionen des Landes. Etwa 40.000 Menschen wollten am Todestag von Simón Bolívar den Pantheon erreichen. Doch wie bereits zuvor herrscht im historischen Zentrum der Stadt zweierlei Recht. Die Anhänger des Oficialismo feierten am Vormittag vor diesem für das Selbstverständnis Venezuelas wichtigen Ort. Dem Zug der Opposition wurde der Zugang verwehrt. Nur eine kleine Delegation konnte unter massivem Polizeischutz Blumengebinde ablegen.
Angesichts der zu erwartenden Konfrontation entschied die „Coordinadora“ verantwortungsvoll, die Demonstration oberhalb des historischen Zentrums abzubrechen und –wie zuvor- keinerlei gewaltsame Konfrontation mit den Chávez-Anhängern zu suchen. Eine Entscheidung, die schwierig war, in der eigenen Anhängerschaft durchzusetzen, weil die Menschen aufgebracht auf die offensichtliche Doppelmoral der Regierung reagieren.
Am Rande der Demonstration kam es zu keinen Vorfällen, obwohl ein Teil des Zugweges durch „Hochburgen des Chavismo“ führte. Mit Fotos des Präsidenten, Sprechchören und Klatschmarsch protestierten seine Anhänger gegen die Spitze der Opposition. Nachdem aber deutlich wurde, wie viel Tausende gegen die Regierung auf die Straße gingen, verstummten die Reihen entlang des Demonstrationszuges. Erst nach Abschluss und Rückkehr der Demo, eroberten die Chávez-Anhänger wieder ihr angestammtes Terrain und skandierten „Chávez ganó“ (Chávez siegte).
Der Spalier für den Massenprotest war teilweise bunt gemischt. Chávez-Anhänger und –Gegner riefen gemeinsam mit dem „V“-Zeichen „se va, se va“ (er geht, er geht). Auf die Frage, wer den gehen soll, war die gleichzeitige Antwort je nach Zugehörigkeit, „Chávez“ bzw. „die Faschisten“. Chávez-Anhänger baten eindringlich, der Weltöffentlichkeit zu übermitteln, „dass das venezolanische Volk ihren Präsidenten liebt und bereit ist für ihn zu sterben“. Mit gleicher Leidenschaft entgegnet die Nachbarin „Chávez hat uns verraten, er muss weg“. Auf die Frage, wie denn eine Lösung des Konflikts möglich ist, antworten beide Lager gleichermaßen „Sofortige Neuwahlen“ und jede Seite gibt sich überzeugt, diesen Wahlgang mit einem großen Sieg krönen zu können.
In solchen Momenten lebt die sprichwörtliche venezolanische Toleranz auf. Heftige Wortgefechte von Menschen, die sich alle kennen und mit Spitznamen lachend anreden und sich dabei härteste Argumente „an den Kopf werfen“, aber zu keinem Zeitpunkt körperliche Gewalt. Vielmehr zum Schluss der Tipp eines bekennenden Chavisten, die Querstraße nicht zu benutzen, weil die voller Circulos sei, die nicht aus dem Viertel stammen und die zu fürchten seien, denn „wir wollen keine Gewalt“ und mit einem Segenswunsch und dem jetzt üblichen „Feliz Navidad“ (Fröhliche Weihnachten) biegt der Tippgeber um die Ecke.
Aber nicht alle Konfrontationen zeugen von der politischen Kultur der Toleranz. Vier Schwerverletzte durch Schusswaffen und eine Vermisste fordern die „Cacerolazos“ des 16. Dezember. Aus einem vorbeifahrenden Auto wurde in die protestierende Menge der Opposition gefeuert. Präsident Chávez selbst spricht gegenüber ausländischen Medien vom „Bürgerkrieg“, der in dem Moment ausbrechen wird, wenn er ermordet wird.
Hausdurchsuchung bei Oppositionspartei und Beschuldigung der Polizei von Chacao
Zeitgleich mit dem Ende der Demonstration der Opposition versuchten Spezialeinheiten der Geheimpolizei (DISIP) und anderer Sicherheitsorgane, die Parteizentrale von „Proyecto Venezuela“ in Caracas zu durchsuchen. Als Grund wird auf dem Durchsuchungsbefehl die Suche nach vier Gewehren genannt, die in der Parteizentrale gelagert sein sollen.
Unverzüglich begann der Schutz der Nachbarn und Demonstranten gegen die Durchsuchung. Im Nu waren die Sicherheitsorgane von Menschen umringt. Groteske Bilder, die Sicherheitsorgane ausgerüstet wie in einem kriegerischen Spezialeinsatz, Bilder die von den Kommandos in Afghanistan bekannt sind, konfrontiert mit Frauen und Männern, die ihre „Waffen“ in der Hand halten, Fahnen, Topfdeckel, Kameras.
Mehrere hundert Menschen umringen die DISIP und verhinderten zunächst die Durchsuchung, Politiker aller demokratischen Parteien eilen hinzu und erklären ihre Solidarität. Nach mehr als zweistündiger Verhandlung, gestattet schließlich der Parteivorsitzende von „Proyecto Venezuela“, Jorge Sucre –einer der bislang unzweifelhaft besonnenen Führer der Opposition -, dass nur die Sicherheitskräfte die Parteizentrale betreten dürfen, die namentlich im Durchsuchungsbefehl genannt sind. In Gegenwart von Medien und fünf Zeugen, finden die Sicherheitskräfte vier kugelsichere Westen und die Beweismittel (Materialien für Sprengsätze), die Abgeordnete von Proyecto Venezuela am Nachmittag der Öffentlichkeit gezeigt hatten, um zu beweisen, dass Gewaltakte gegen sie geplant werden.
Ein Angehöriger der Polizei des Bezirks von Chacao hat öffentlich Bürgermeister Leopoldo López (Primero Justicia) beschuldigt, geheime Pläne zu entwickeln, die eine Einnahme des Präsidentensitzes „Miraflores“ um jeden Preis zum Ziel haben und erhebliche Blutopfer billigend in Kauf nehmen sollen. Außerdem klagt er an, dass nahe „Plaza Francia“ und im Hauptquartier der Polizei von Chacao, erhebliches Waffenpotential für diesen Zweck gelagert ist.
Bürgermeister López weist alle Vorwürfe als „durchsichtiges Manöver“ zurück. Er befürchtet, dass Gründe geschaffen werden sollen, damit die Polizei von Chacao in gleicher Weise vom Militär interveniert wird, wie bereits Ende November die „Policia Metropolitana“. Alle der Regierung „unbequemen“ und selbständig operierenden Ordnungskräfte, sollen „legal eliminiert“ werden, damit die Regierung freie Hand zum Handeln in allen Stadtbezirken von Caracas hat.
Paralysierung von Verkehr und Ölsektor
Die Opposition hat ab den Morgenstunden des 17. Dezember wiederum wichtige Verkehrsknotenpunkte in Caracas und den Regionen gesperrt. Anhänger beider Seiten versammeln sich und die Frage ist, ob die Sperraktionen bis zum Ende friedlich durchgeführt werden.
Der Ölsektor des Landes bleibt schwer getroffen. Zusätzlich beginnen Teile der Schwerindustrie, ihren Betrieb auf die Notversorgung umzustellen. Die Regierung hält an ihrem Vorhaben fest, notfalls mit Waffengewalt den Ausstand in den Schlüsselsektoren, im Transport und bei der Lebensmittelversorgung zu brechen. Weitere Schiffsbesatzungen der fes tliegenden Tanker wurden ausgetauscht und Ersatzpersonal in Ölinstallationen gebracht. Mit aufgebrachten Schleppern versuchen Armeekräfte die Tanker zu bewegen. Alle diese Aktionen zeigen bislang keinen durchschlagenden Erfolg. Vielmehr verschlechtern sie die Einstufung des Landes in den Sicherheitskriterien der internationalen Versicherungen und Schiffahrtsaufsichten. Nach deren Meinung bedeuten die Aktionen ein einziges Sicherheitsrisiko.
Wie auch in den Vortagen auch, erfolgen die Raffineriebesetzungen mit aktiver Unterstützung der Chávez-Anhänger. Allerdings bleibt fraglich, ob Fremdkräfte Tanker und Raffinerien führen können. Vor allem dann, wenn die Behauptung von Experten aus dem Ölsektor zutreffen, dass Chávez-Anhänger selbst die Leitzentralen der Ölinstallation in „Catia la Mar“ (Zone des Litoral nahe des internationalen Flughafens von Caracas) zerstört haben sollen.
Private Transportkapazitäten wurden beschlagnahmt und Lebensmittellager der Kette „Polar“ untersucht. Die Versorgung mit Treibstoff verschlechtert sich täglich. Engpässe werden bei Brotgetreide gemeldet, weil dieses überwiegend importiert werden muss. Und wenn noch Bierwagen an Verkaufsstellen ankommen, bilden sich längere Schlangen als an den Tankstellen. Hamsterkäufe bei Haushaltsgas haben die Lager teilweise bereits leergefegt.
Venezuela richtet sich auf eine traurige Ausnahmeweihnacht (triste navidad) ein.