Länderberichte
Im Jahr 1995 hatte Jacques Chirac völlig überraschend seinen Konkurrenten aus dem eigenen politischen Lager, Edouard Balladur, überflügelt und die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen erreicht. Diese zweite Runde gewann er dann gegen Lionel Jospin. Zentrales Thema der Wahlkampagne Chiracs war damals die "fracture sociale". In der Assemblée Nationale verfügten die bürgerlichen Parteien über eine satte Mehrheit von rund 80%. Ohne Not löste Chirac nur zwei Jahre nach seinem Amtsantritt die Assemblée auf. Die vorgezogenen Neuwahlen im Juni 1997 bescherten Chirac eine dramatische Niederlage und Jospin, wohl auch zu dessen eigener Überraschung, die Regierungsmehrheit. Während fünf Jahren wird die französische Politik nun von dieser Kohabitation geprägt; sie ist dem Land nicht gut bekommen, wie selbst engste Vertraute des Premierministers freimütig bekennen. Nun, nachdem die siebenjährige Amtszeit des Präsidenten Chirac und das fünfjährige Mandat der Assemblée Nationale fast abgelaufen sind, besteht die Chance, daß sich die französische Politik aus dieser selbst herbeigeführten Blockage wieder befreit. Die Präsidentenwahlen wurden auf den 21. April und den 5. Mai festgelegt. Erstmals wird der neue Präsident für eine Amtszeit von nur noch fünf Jahren gewählt werden. Die beiden Wahlgänge zur Assemblée Nationale werden am 9. und am 16. Juni stattfinden. Diese beiden Wahlen des Frühjahrs 2002 werden damit über die grundlegende politische Orientierung Frankreichs in den darauffolgenden fünf Jahren entscheiden. Mit dem Ende der Weihnachtspause hat die Vorphase des heißen Wahlkampfes begonnen. Der heiße Wahlkampf selbst dürfte dagegen erst recht spät beginnen, etwa Ende März, da die beiden Hauptkandidaten, Chirac und Jospin, ein Interesse daran haben, erst spät in diese heiße Phase einzutreten. Ab sofort bis zum zweiten Wahltag der Parlamentswahlen Mitte Juni sind Wirtschafts-, Innen-, Europa-, und Außenpolitik Frankreichs vom Wahlkampf geprägt. Das Land befindet sich gewissermaßen in einem sechsmonatigen Dauerwahlkampf und Ausnahmezustand. Französische Besonderheiten Die Ausgangssituation ist für beide politischen Lager nicht einfach. Zwar steht erst die Präsidentenwahl an und anschließend die Parlamentswahl (Die ursprüngliche Reihenfolge wurde von der linken Parlamentsmehrheit, unterstützt durch etwa ein Drittel der UDF-Abgeordneten, umgedreht). Letztlich focusiert sich aber alles zunächst auf die Präsidentenwahlen. Bei den Präsidentenwahlen kandidieren im ersten Wahlgang traditionell jeweils mehrere Kandidaten aus dem gleichen politischen Lager. Bisher haben aus dem linken wie aus dem rechten Lager je etwa fünf bis sechs Politiker ihre (ernst zu nehmende) Kandidatur erklärt. Die Vielzahl der Kandidaten dient einerseits dazu, das politische Spektrum für den jeweils aussichtsreichsten Kandidaten eines politischen Lager soweit wie möglich zu erweitern. Manche Kandidaturen werden auch lanciert, um gegnerische Kandidaten zu stören. Andererseits führt dies aber auch dazu, daß das jeweilige politische Spektrum in kleinste Stücke zersplittert wird und daß der aussichtsreichste Kandidat aus dem ersten Wahlgang eher geschwächt als gestärkt hervorzugehen droht. Ironischerweise haben die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, Chirac und Jospin, ihre Kandidatur überhaupt noch nicht erklärt. Jospin sprach gegen Ende vergangenen Jahres von seiner "candidature probable" und macht sich damit zum Gespött der Medien. Chirac wird wohl noch bis März mit seiner offiziellen Ankündigung warten. Aber natürlich besteht kein Zweifel, daß beide kandidieren werden. Während die Präsidentenwahl, zumindest im ersten Wahlgang, dazu führt, die politischen Lager zu parzellieren, Unterschiede zwischen Gruppierungen des gleichen Lagers eher zu akzentuieren und die Auseinandersetzung zwischen den Kandidaten des gleichen Lagers zu fördern, muß dann im zweiten Wahlgang und vor allem auch bei den später folgenden Parlamentswahlen jedes Lager möglichst geeint sein. Vor allem bei den Parlamentswahlen zwingt das Wahlrecht zu möglichst großer Geschlossenheit eines politischen Lagers. Es erfolgt Mehrheitswahl in zwei Durchgängen, wobei in den zweiten Wahlgang gelangt, wer im ersten 12,5% der Stimmen der stimmberechtigen Wähler erzielt hat. Es kommt infolgedessen auch vor, daß drei Kandidaten in den zweiten Wahlgang gelangen. Da diesmal die Präsidentenwahlen und Parlamentswahlen nur fünf Wochen auseinander liegen, wird es nicht einfach sein, den Wählern zu vermitteln, daß das jeweilige politische Lager zunächst äußerst zersplittert und kurz darauf weitgehend geschlossen in den Wahlkampf geht. Die Kandidaten Folgende Politiker haben bisher ihre Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen erklärt bzw. werden zweifellos kandidieren: Bürgerliche Parteien
Chirac nutzt die Schwäche der Regierung Während man in der ausländischen Presse in den letzten Monaten mitunter den Eindruck gewinnen konnte, Jacques Chirac sei wegen seiner angeblichen oder tatsächlichen Verstrickungen in Affären aus seiner Amtszeit als Bürgermeister von Paris und als Vorsitzender des RPR schon politisch am Ende, ist Chirac in Frankreich gegenwärtig populärer als noch vor einem Jahr. Die Affäre um die Finanzierung des RPR (Video-Kassette Méry) oder die Bezahlung seiner und seiner Familie Flugreisen mit Bargeld aus zweifelhafter Quelle konnten ihm nichts anhaben. Auch die Sozialisten und die Kommunisten profitierten von dem Finanzierungssystem, bei dem Auftragnehmer beim Bau und/oder der Renovierung von Wohnungen der Stadt Paris einen gewissen Prozentsatz in die Kassen der führenden Parteien einzahlen mußten. Die Barzahlung für Flugreisen nahmen die Franzosen ihrem Präsidenten ebenfalls kaum übel bzw. sie interessierten sich nur begrenzt dafür. Zumindest schadete die Affäre Präsident Chirac nicht. Zur gleichen Zeit war außerdem Premierminister Jospin in einigen Erklärungsnöten bezüglich der "fonds spéciaux", Barmittel in Höhe von rund 450 Millionen Francs, über welche der Premierminister nach Belieben verfügt, ohne dafür in irgendeiner Weise rechenschaftspflichtig zu sein.
Jospin in Schwierigkeiten Noch vor weniger als einem Jahr lag Premierminister Jospin in den Meinungsumfragen deutlich vor Präsident Chirac. Seitdem sah er sich mit immer wieder neuen politischen Schwierigkeiten konfrontiert, wodurch seine Wahlaussichten erheblich beeinträchtigt wurden.
Wahlaussichten
Quelle: Le Point, 11. Januar 2002. Le Figaro, 15. Januar 2002. Nach den Umfrageergebnissen deutet zur Zeit also alles auf einen Wahlsieg von Jacques Chirac bei den nächsten Präsidentenwahlen hin. Vorsicht ist jedoch angebracht.
Parlamentswahlen Für die Parlamentswahlen rund einen Monat nach den Präsidentenwahlen gibt es noch keine Umfrageergebnisse. Orientiert man sich an den Stimmungsbarometern der verschiedenen Umfrageinstitute, so deutet alles auf eine Mehrheit für die bürgerlichen Parteien hin. Aber auch da kann in den kommenden viereinhalb Monaten noch viel passieren. Einen entscheidenden Einfluß auf das Ergebnis der Parlamentswahlen wird naturgemäß das Ergebnis der Präsidentenwahlen haben. Gelingt es Präsident Chirac, sich im zweiten Wahlgang durchzusetzen, ist auch die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß die folgende Parlamentswahl zugunsten des bürgerlichen Lagers ausgeht. Gewinnt indes Jospin die Präsidentenwahlen, so ist auch damit zu rechnen, daß die Franzosen ihm auch eine Mehrheit in der Assemblée Nationale bescheren. Denn für beide Seiten gilt. Das politische Lager, dessen Kandidat die Präsidentenwahl verliert, dürfte infolge dieser Niederlage erheblich geschwächt werden. Sofort werden die internen Querelen und Schuldzuweisungen beginnen. Vor allem auf seiten der bürgerlichen Parteien werden alle Bemühungen, eine große, einige Partei nach dem Vorbild der Union zu gründen, kaum noch eine Erfolgsaussicht haben. Drei Szenarien Trotz der Gefahr, von der Wirklichkeit am Wahltag eines Falschen belehrt zu werden, seien folgend drei Szenarien durchgespielt, die nach heutiger Beurteilung einige Wahrscheinlichkeit besitzen. Weitere Szenarien sind natürlich denkbar, aber nur wenig realistisch: Szenario 1
Szenario 2
Szenario 3
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