Länderberichte
„Danke, Berlusconi“, so Matteo Salvini, der die Einheit des Mitte-Rechts-Bündnisses (Forza Italia, Lega und Fratelli d’Italia) durch seinen Alleingang nicht gefährdet sieht und politische Verrenkungen in dieser Kombination offensichtlich in Kauf nimmt. Staatspräsident Sergio Mattarella hat der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und der Lega bis Sonntag Zeit gegeben, um eine politische Choreographie zu kreieren.
Nach über 60 Tagen und drei Runden vergeblicher Konsultationen hatte der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella anfang der Woche alle Versuche für vergeblich und die Regierungsbildung für gescheitert erklärt. Er schlug den politischen Kräften vor, eine „neutrale“ Übergangsregierung bis maximal Dezember 2018 zu etablieren.
Für Italien stehen in den kommenden Monaten wichtige politische Entscheidungen an - dazu gehört die Verabschiedung des Staatshaushalts für das Jahr 2019 – diese sollten durch eine „Expertenregierung“ gesichert werden. Von Neuwahlen im Sommer oder Herbst riet der Staatspräsident dringend ab.
Nur wenige Minuten nach der ernsten und kritischen Ansprache Mattarellas verkündeten die Wahlgewinner, Fünf-Sterne-Bewegung und Lega, dass man den Vorschlag des Staatspräsidenten ablehne. Stattdessen schlugen sie den 8. Juli 2018 als möglichen Termin vor, die Italiener erneut an die Urne zu rufen.
Beginn des Reigens
Alles begann bereits wenige Tage nach dem 4. März 2018, als die Wahlen ein ernüchterndes Wahlergebnis zeigten. Die Anti-System und europakritischen Kräfte im Land konnten mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen (M5S 32%, Lega knapp 18% und Fratelli d’Italia 5%). Die traditionellen, moderaten und pro-europäischen Kräfte hatten die Wahl in Italien klar verloren. Keine politische Kraft und kein Bündnis hatte alleine eine Mehrheit von 42 Prozent erreicht, die es erlaubt hätte, eine stabile Regierung zu bilden. Man war also auf eine Koalition angewiesen.
Die Fünf-Sterne-Bewegung wurde mit 32 Prozent stärkste politische Kraft. Das Mitte-Rechts-Bündnis erhielt mit 37 Prozent die meisten Stimmen. Allerdings kam es innerhalb des Bündnisses zu einer Kräfteverschiebung: Mit gut vier Prozentpunkten überholte die Lega die EVP-Mitgliedspartei Forza Italia. Fortan sah sich die Lega als Sprachrohr von Mitte-Rechts und nicht mehr Silvio Berlusconi, sondern Matteo Salvini hatte das Sagen. Salvini war es gelungen, ein historisches Bestergebnis für die Lega einzufahren.
Der Spitzenkandidat Luigi Di Maio beanspruchte für sich die Führungsrolle und das Amt des Premierministers, da seine Bewegung als einzige politische Kraft die meisten Stimmen erhalten hatte. Matteo Salvini beanspruchte jedoch auch die Führungsrolle für sich, da das Mitte-Rechts-Bündnis mit 37 Prozent, fünf Prozentpunkte vor den Sternen lag und damit seiner Ansicht nach klar gewonnen hatte.
Schnell kam es zu einer Annäherung zwischen Lega und Movimento 5 Stelle und die einstigen „Erzfeinde“ im Wahlkampf einigten sich auf Maria Elisabetta Alberti Casellati (FI) als neue Senatspräsidentin und Roberto Fico (M5S) als Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer. Beide wurden mit einer breiten Mehrheit in diese Ämter gewählt.
Nach der ersten Runde der Regierungskonsultationen war klar, dass es zwischen Lega und M5S offensichtlich Sympathien und Anknüpfungspunkte gäbe, die bis zu diesem Zeitpunkt weniger offensichtlich zu Tage getreten waren. Der Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung, Beppe Grillo, lobte Lega-Chef Matteo Salvini Ende März als Persönlichkeit, die ihr Wort zu halten wisse.
Nicht ohne Grund wurde die Liaison zwischen Di Maio und Salvini in Italien mit der berühmten Tragödie von William Shakespeare verglichen: Lega und M5S wollten gemeinsame Sache machen – ihre Familien waren jedoch dagegen. Die Fünf-Sterne-Bewegung bangte um ihre Stammwähler, sollten sie eine Koalition mit Silvio Berlusconi eingehen – schließlich war die Bewegung doch gerade aus der großen Abneigung auf eben diese „alte“, „korrupte“ und „verkrustete Politikerkaste“ entstanden, die „politische Techtelmechtel“ (inciucio) vorspielten, um an der Macht zu bleiben.
Für Forza Italia war die Fünf-Sterne-Bewegung im Wahlkampf ein rotes Tuch und für Berlusconi „schlimmer als die Kommunisten“. Eine Regierung unter der Beteiligung von Forza Italia schloss die M5S stets vehement aus und befürwortete lediglich eine „Unterstützung von außen“. Ende April reagierte Berlusconi dann mit harten Worten und Bildern: M5S sei eine „Gefährdung der Demokratie“ und eine „Partei der Arbeitslosen“, die er in seiner Firma Mediaset höchstens mit dem Toilettendienst beauftragen würde. Mit diesen Worten waren wohl auch die letzten Zweifel ausgeräumt, dass eine Koalition zwischen dem gesamten Mitte-Rechts-Bündnis und M5S unmöglich sei.
Nach Wochen vergeblichen Verhandelns beauftragte der Staatspräsident die neue Senatspräsidentin zu eruieren, ob eine Regierung möglich wäre – ohne Erfolg. Danach setzte Mattarella den Präsidenten der Abgeordnetenkammer ein, um zu vermitteln, der jedoch ebenso wenig bewegen konnte. Experten sprachen von einer maximalen Bewegungsfreiheit der Parteien, ohne dabei einen Schritt aufeinander zuzugehen.
Die ehemalige Regierungspartei Partito democratico (PD) nahm ebenfalls Gespräche mit der Fünf-Sterne-Bewegung auf und kurzzeitig kam es auf Wählerseite zu Protesten - sowohl bei der PD als auch bei M5S. Die ideologischen Gräben seien zu tief - hier fühlte sich auch der ehemalige Premierminister Matteo Renzi in der Pflicht, vor einer Allianz zu warnen.
Was wollen die Wähler?
Die Politiktalkshow „Porta a Porta“ gab am 30.04.18 eine Umfrage in Auftrag um herauszufinden, was die Wähler tatsächlich wollen: Mehr als 20 Prozent sprachen sich für eine Regierung aus M5S und Lega aus; 18,4 Prozent bevorzugten Neuwahlen. Unter den Fünf-Sterne-Wählern hingegen unterstützen knapp 52 Prozent eine Koalition aus Lega und M5S. Nur 10,4 Prozent der Befragten sprachen sich für eine Expertenregierung aus.
Zwar hatte man in der Vergangenheit vor allem beim Thema Migration immer wieder Gemeinsamkeiten zwischen Lega und M5S feststellen können – den politischen Einklang beider Kräfte hätte man so jedoch nicht vermutet. Das liegt insbesondere an einem Transformationsprozess innerhalb der Fünf-Sterne-Bewegung. Experten sprechen davon, dass 60 Prozent der M5S-Mitglieder Ansichten vertreten, die rechts bzw. Rechtsaußen anzusiedeln sind.
Andererseits zeigte Luigi Di Maio auch bei den Verhandlungen mit der PD große Beweglichkeit und für einen Moment schienen die Differenzen gar nicht so groß. Das liegt vor allem daran, dass sich M5S zu einer Art „Franchising-Bewegung“ entwickelt hat, mit minimalstem gemeinsamen Nenner der es möglich macht, mit allen politischen Kräften zu verhandeln. M5S lässt sich einerseits nicht in das klassische Spektrum rechts-links einordnen, da die Wählerbasis kein gemeinsames Wertefundament vertritt. Andererseits zeigen die vergangenen 60 Tage, dass M5S regieren will – und das um jeden Preis.
Wende im Reigen
Eine derartige Regierungskrise hat es in Italien bislang noch nicht gegeben. Als beispiellos kann wohl auch das Verhalten von Lega und M5S bezeichnet werden – die Mattarellas Vorschlag, eine „neutrale“ Regierung zu etablieren, ungeprüft abgelehnt und über ihre Kompetenzen hinweg unrealistische Terminvorschläge für Neuwahlen unterbreitet haben. Mit diesem Verhalten zollten sie dem Staatspräsidenten wenig Respekt.
Traditionell genießt das italienische Staatsoberhaupt hohe Anerkennung bei politischen Entscheidungsträgern und in der Bevölkerung. Und auch in dieser schwierigen Phase kann Mattarella mit über 70 Prozent auf das Vertrauen der italienischen Bevölkerung zählen. Der Umgang und die Reaktion von M5S und der Lega dem Staatspräsidenten gegenüber deuten darauf hin, dass sich diese politischen Kräfte nicht notwendigerweise an fest etablierte politische Gepflogenheiten halten.
Der Vorschlag des Staatspräsidenten, eine neutrale Regierung einzusetzen, hat die Parteien offensichtlich dazu animiert, neu zu verhandeln. Es wurde an die „Verantwortung“ Berlusconis appelliert, eine Regierung zwischen M5S und Lega durch das zur Seite treten von Forza Italia zu ermöglichen.
Nun scheint es, als habe man sich friedlich auseinandergelebt: Berlusconi hat angekündigt, einer Koalition zwischen Lega und M5S nicht im Wege zu stehen, eine Regierung beider Kräfte jedoch auch nicht aktiv zu unterstützen und ihr das „Vertrauen“ bei der Abstimmung im Parlament zu verweigern. Themenbezogen werde man nach dem „Gewissen“ handeln und dementsprechend abstimmen. Auf Führungspositionen wird man bei der Forza Italia ganz klar verzichten.
Experten gehen davon aus, dass Berlusconi dies nicht ohne politische Zusagen oder Versprechen getan habe. Vor allem scheint für ihn die Wahl des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung relevant zu sein. Ganz von der Bildfläche wird Silvio Berlusconi sicherlich nicht verschwinden, sondern die politischen Entwicklungen in Italien mit gestalten, wenn auch nicht aus der ersten Reihe.
Für das „neue Regierungsmodell“ gelb (M5S) und grün (Lega) haben sich u.a. die Forza-Exponenten wie Giovanni Toti, Präsident der Region Ligurien, und Senator Paolo Romani, ehemaliger Minister für wirtschaftliche Entwicklung in der Berlusconi-Regierung, eingesetzt. Vielleicht lohne es sich, dies einmal auszuprobieren, hieß es.
Regieren um jeden Preis?
Die Tatsache, dass politisches Taktieren und nicht die inhaltlichen Ziele im Vordergrund stehen, zeigen erneut die jüngsten Entwicklungen. Allein in den letzten drei Tagen hat die Lega dreimal ihren Standpunkt gewechselt: Erst monierte Matteo Salvini, dass ihm nicht der Regierungsauftrag von Staatspräsident Sergio Mattarella erteilt wurde. Dann proklamierte er möglichst schnelle Neuwahlen vor der Sommerpause, um sich nach der Ablehnung des Mattarella-Vorschlags wieder in letzter Minute den Fünf-Sternen zuzuwenden, denen er noch vor wenigen Wochen wegen übler Nachrede angedroht hatte, sie zu verklagen.
Das ist nun vorbei. M5S und Lega wollen beide an die Macht. Mit dem Segen von Berlusconi steht dem Projekt nun offensichtlich nicht mehr viel im Wege. Da sich beide politischen Kräfte als Gewinner sehen und sich weder Di Maio noch Salvini durchsetzen können, will man sich auf eine „dritte Person“ einigen, die das Amt des Premierministers übernehmen soll.
In diesen Tagen kursieren unterschiedliche Namen für das Amt des Regierungschefs: Genannt wird der Fraktionsvorsitzende der Lega in der Abgeordnetenkammer, Giancarlo Giorgetti, enger Vertrauter von Matteo Salvini, der für das Amt des Premierministers aber auch als Finanzminister in Frage käme. Die bekannte Anwältin Giulia Buongiorni, die bereits Premierminister Giulio Andreotti in einer Gruppe von Anwälten als junge Frau verteidigte und für die Lega nun in den Senat gewählt wurde, wird ebenfalls als mögliche Premierministerin genannt, ebenso Alfonso Buonafede, Exponent der Fünf-Sterne-Bewegung, der auch an den Regierungskonsultationen beteiligt ist. Auf die Frage, ob er tatsächlich als Premier zur Verfügung stünde, sagte er am späten Donnerstagabend, man suche eine „dritte Person“, die weder von der Lega noch von den Sternen gestellt werde.
In diesem Zusammenhang werden zwei mögliche Namen genannt: Enrico Giovannini, der bereits in der Regierung von Enrico Letta (PD), 2013 bis 2014 als Arbeitsminister diente. Es heißt, dass auch Mattarella mit dieser Wahl zufrieden wäre aber schon wenige Stunden nach Bekanntgabe des Namens hieß es, Giovannini habe abgelehnt. Auch der ehemalige Außenminister Franco Frattini (FI) ist im Rennen, ebenso wie Giampiero Massolo, langjähriger Diplomat, Präsident des Insituts für politikwissenschaftlichen Studien (ISPI) und ehemaliger Hauptkoordinator des italienischen Geheimdienstes.
Di Maio und Salvini werden sich wahrscheinlich beide als Vizepremierminister mit einem Ministeramt begnügen müssen. Di Maio werden Ambitionen nachgesagt das Außenministerium übernehmen zu wollen und Salvini könnte Innenminister werden. Als möglicher Finanzminister wird Armando Siri genannt, Exponent der Lega und „Vater“ der Flat-Tax.
Es ist bemerkenswert, dass die Inhalte eines gemeinsamen Regierungsprogramms von M5S und Lega weniger im öffentlichen Diskurs im Fokus stehen, sondern vor allem die „Köpfe“ diskutiert werden. Die Frage, ob diese beiden Kräfte mit ihren politischen Prioritäten zusammenpassen, tritt somit fürs Erste stärker in den Hintergrund.
M5S und Lega sind sich einig, dass sie prioritär die aktuelle Rentenreform (Fornero-Reform) abschaffen wollen. Für M5S ist die Einführung eines Grundeinkommens essentiell, um ihre Wähler zufriedenzustellen. Migration und innere Sicherheit stehen ebenfalls auf der gemeinsamen Agenda.
Die Einführung der Flat-Tax kostet nach Angaben von ISTAT 15 Milliarden Euro – nach Einschätzung des Nationalinstituts für Soziale Fürsorge (INPS) kostet sie doppelt so viel. Das Grundeinkommen würde den Staat mind. 15 Milliarden kosten, so die Experten. Noch fehlen 12 Milliarden, um den Haushalt 2019 zu decken und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 22 auf 25 Prozent zu verhindern. Der finanzielle Spielraum scheint sehr eng zu sein.
Mattarella übt sich in Geduld
Mattarella zeigte in den vergangenen Wochen eine unglaubliche Geduld. Auch die Bitte des „Time-Out“ von Seiten der Fünf-Sterne und der Lega gab er nach und gewährte ein Ultimatum bis Sonntag. Eine weitere Verlängerung der Gentiloni-Regierung, die weiterhin ad interim im Amt ist, hatte der Staatspräsident aus demokratischen Gründen abgelehnt – schließlich hatte das Volk die PD buchstäblich abgewählt. Und auch die „neutrale Regierung“ sah er ganz klar als Übergang: sobald man eine politische Lösung gefunden hätte, würde sie „eine Minute später zurücktreten“, so Mattarella. Eine politische Lösung scheint demnach auch in seinem Sinne zu sein – er möchte den Wählerwillen respektiert sehen.
Allerdings sprach sich Mattarella im Rahmen einer Europa-Konferenz in Fiesole unmissverständliches für Europa aus: Kein Land könne es alleine schaffen, so der Staatspräsident. Wer glaube, dies seinen Wählern dennoch weismachen zu wollen, betrüge sie.
In den vergangenen Tagen hatte Beppe Grillo abermals die Frage eines Referendums zur Euro-Zone aufgeworfen. In einem Interview mit der französischen Monatszeitschrift „Putsch“ sagte der Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung: „Ich möchte, dass das italienische Volk seine Meinung kundtut. Sind sie einverstanden? Gibt es einen Plan B? Sollen wir aus Europa aussteigen?“.
Außerdem wird Mattarella vermutlich bei der Wahl der Minister „ein Wörtchen“ mitreden und vor allem bei der Besetzung von Schlüsselministerium, etwa im Falle der Finanz-und Außenministerien, um exzessive Staatsausgaben und eine übertriebe Russlandfreundlichkeit in Schach zu halten und die auß enpolitische Verortung Italiens in der NATO und der EU nicht zu gefährden. Mattarella ist sich der europäischen und internationalen Verantwortung Italiens bewusst und will hier kein Risiko eingehen. Das wäre nicht unüblich – auch in der Vergangenheit haben Staatspräsidenten bereits Ministervorschläge abgelehnt.
Fazit
Sollte es zu einer M5S-Lega Regierung kommen, wäre diese ein „Novum“ in der EU. Erstmalig würde eine Koalition aus populistischen Kräften eine Regierung stellen. Alle Augen würden auf Italien blicken.
Etablierte Parteien (FI, PD) machen sich bereits Gedanken um ihre politische Zukunft, auch insbesondere im Hinblick auf die Europawahlen 2019. Das Ende des Reigens ist womöglich nur der Anfang.