Länderberichte
Nach langem Zögern hat Arafat dem Druck entsprochen und der Ernennung eines Premiers zugestimmt. Vielleicht nur aus taktischen Gründen. Er befürchtet, dass Israel ihn im Schatten eines Irak-Krieges außer Landes schaffen und/oder in den Autonomiegebieten die Transferpläne vorantreiben könnte. Zugleich ist die Schaffung des Premierministerpostens von strategischer Bedeutung, da die Bush-Administration angekündigt hat, ihre Vermittlungen nach einem Irak-Krieg im Rahmen der Neuordnung des Nahen Ostens zu intensivieren.
Nach langandauernden Spekulationen hat sich der Palästinenserpräsident dazu durchgedrungen, den Generalsekretär der PLO Mahmud Abbas – genannt auch Abu Mazen – zum Ministerpräsidenten zu nominieren. Dieser wurde dann vom Zentralrat der PLO, dem zweithöchsten parlamentarischen Gremium der Palästinenser, zum Ministerpräsidenten vorgeschlagen und vom Palästinensischen Legislativrat, dem Parlament, bestätigt. Arafat soll angeblich einen schwächeren Kandidaten als Ministerpräsidenten bevorzugt haben. Doch seine eigene Fateh-Fraktion wie auch die internationale Gemeinschaft drängten auf Abbas, der als relativ gemäßigt gilt. In den vergangenen Monaten hat er sich immer wieder für die Beendigung palästinensischer Gewalttaten gegen israelische Zivilisten ausgesprochen und die „Entmilitarisierung“ der Intifada gefordert.
Das palästinensische Parlament in Ramallah hat inzwischen in langen Sitzungen über die konkreten Befugnisse des künftigen Premiers entschieden. Umstritten ist, ob der gemäßigte Politiker Abu Mazen auch mit den Kompetenzen ausgestattet wird, die er fordert. Er will nicht nur sein Kabinett ernennen und entlassen können, sondern auch in eigener Regie Friedensverhandlungen mit Israel führen. Hinter dieser Diskussion steht die Kernfrage, ob Abu Mazen Entscheidungsgewalt erhält und damit Arafat auf die Rolle eines symbolischen Volksvaters verdrängt wird. Das Parlament hat sich für die Entmachtung Arafats entschieden.
Der Kampf um Kompetenzen
Die Diskussion um die notwendigen Änderungen, die im palästinensischen Grundgesetz zur Schaffung eines Ministerpräsidentenamtes gemacht werden mussten, offenbarten den vielfach vorausgesagten Machterhaltungskampf Arafats. Während das Parlament an den künftigen Kompetenzen des Ministerpräsidenten arbeitete, versuchte Arafat durch Gesetzesinitiativen seine Rolle als Chef der Exekutive zu wahren, indem er sich weigerte, gewisse Machtbefugnisse auf den Ministerpräsidenten zu übertragen.
Der ersten debattierten Version des Grundgesetzes zufolge sollte der Ministerpräsident Minister ernennen und entlassen dürfen, was bislang Arafats Aufgabe gewesen war. Auch sollte Arafat nicht mehr an Kabinettssitzungen teilnehmen dürfen. Im Kompetenzbereich des Ministerpräsidenten sollte die Vorgabe der Richtlinien in der Innenpolitik und damit auch für die verschiedenen Sicherheitsdienste liegen. Arafat sollte dagegen für die Vertretung der Autonomiebehörde nach außen sowie für Verhandlungen mit Israel zuständig sein. Damit zeichnete sich die Aufteilung in einen inneren und einen äußeren Aufgabenbereich ab. Für das Innere mit dem Sicherheits- und Finanzapparat sollten Kabinett und Premier verantwortlich sein. In außenpolitischen Fragen sollte Arafat den Vorsitz des "Führungsrates" mit Ministern der Autonomieverwaltung und PLO-Führern behalten.
Der Palästinenserpräsident hat nicht lange gewartet, um durch Änderungsvorschläge seinen Widerwillen zum Ausdruck zu bringen. Bereits einige Tage vor der Parlamentssitzung wurde von „Unmut“ unter den Abgeordneten gesprochen. Sie befürchteten Versuche seitens des Präsidenten, die Befugnisse des künftigen Premiers einzuschränken. Aus palästinensischen Quellen verlautete, Arafat verfolge das Ziel, einen Ministerpräsidenten nach jordanischem und ägyptischem Vorbild zu installieren – diese haben in Sicherheitsfragen und außenpolitischen Belangen nichts zu sagen.
Bei den von Arafat geforderten „Verbesserungen" ging es neben der Ernennung zweier Vizeministerpräsidenten durch ihn um die Berichterstattung an ihn sowie seiner Teilnahme an Kabinettssitzungen. Zudem forderte er, dass der Präsident, und nicht der Premierminister als "Chef der exekutiven Abteilung in der Regierung" definiert wird. Dem Gesetzentwurf a la Arafat zur Aufgabenteilung zwischen Präsident Arafat und dem künftigen Regierungschef zufolge würde der palästinensische Ministerpräsident lediglich Kabinettssitzungen leiten, für die „öffentliche Ordnung“ zuständig sein und die Minister kontrollieren. Entgegen der Erwartungen der internationalen Gemeinschaft, aber auch der palästinensischen Öffentlichkeit, den Ministerpräsidenten mit weitreichenden Vollmachten auszustatten, versuchte Jassir Arafat offenbar, in allen anstehenden Entscheidungen insbesondere hinsichtlich der Hoheit über die Sicherheitsdienste und Friedensverhandlungen mit Israel die oberste Autorität zu behalten.
Die Mitglieder des palästinensischen Parlaments erteilten den Ambitionen Arafats eine klare Absage, indem sie mit großer Mehrheit gegen den Machterhaltungsversuch des Präsidenten stimmten. Noch am selben Tag gab Arafat seinen Widerstand gegen einen machtvollen Ministerpräsidenten auf und zog seine Änderungsvorschläge zurück, mit denen er sich entscheidenden Einfluss auf die Tagespolitik sichern wollte.
Das palästinensische Parlament konnte dann mit nur einer Gegenstimme der Einführung des mit umfangreichen Vollmachten ausgestatteten Amts eines Ministerpräsidenten zustimmen. Präsident Arafat hat die Gesetzesänderung mit seiner Unterschrift in Kraft gesetzt. Damit ließ er sich auf eine Kompromisslösung ein, wonach jedes neue Kabinett auch dem Chef der Autonomiebehörde vorgestellt wird. Ob Arafat damit wie zunächst von ihm gefordert das Recht auf Entlassung und Berufung von Ministern hat, wird in dem Gesetz nicht präzisiert. Einigen PLC-Mitgliedern zufolge wird die von Arafat geforderte Klausel zwar nicht in das Grundgesetz aufgenommen, aber ihm wurde mündlich Mitspracherecht bei der Regierungsbildung zugesichert. Unklar bleibt, ob Arafat die Hoheit über Sicherheitsfragen und Friedensverhandlungen mit Israel behält. Vieles deutet darauf hin, dass auch hier eine „elegante“ Lösung zur Umgehung Arafats gefunden wurde.
Reaktionen auf Abu Mazen
Der gemäßigte palästinensische Politiker – Abu Mazen – wird von den USA, Israel und Großbritannien, die Arafat als Verhandlungspartner ablehnen und für ihn nur mehr symbolische Funktionen vorsehen, explizit als künftiger Ministerpräsident begrüßt.
Die USA haben das neu geschaffene Amt eines Regierungschefs in den palästinensischen Gebieten als Beginn eines dringend erforderlichen Reformprozesses begrüßt. US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice stellte sogar einen Besuch des künftigen palästinensischen Premiers im Weißen Haus in Aussicht. Mit dem Amtsantritt Abu Mazens wollen die USA auch den sog. Nahostfahrplan des Quartetts den Israelis und den Palästinensern offiziell vorlegen.
Die Reaktionen in Israel auf die Schaffung eines Ministerpräsidentenamtes waren gebremst optimistisch. Israelische Politiker wie Shimon Peres (Arbeitspartei) oder Meir Shitrit (Likud) begrüßten zwar die Ernennung Abu Mazens als Zeichen des Reformwillens. Der neue israelische Außenminister Silvan Schalom sowie der Verteidigungsminister Shaul Mofas rechneten nicht damit, dass Abu Mazen tatsächlich die notwendigen Befugnisse übertragen bekommt. Bislang habe Palästinenserpräsident Jassir Arafat "noch immer alle wirklichen Reformen unterlaufen". Premier Sharon machte klar: Die Einstellung Israels zum neuen palästinensischen Ministerpräsidenten werde von seiner Fähigkeit abhängen, den Terror zu stoppen.
Während die Reformen international und auch in Israel überwiegend positiv aufgenommen wurden, hat die islamische Hamas-Organisation noch vor der Ernennung des neuen palästinensischen Ministerpräsidenten Mahmud Abbas jede Kooperation mit diesem abgelehnt. Ihr Sprecher Abdel Asis Rantisi erklärte in Gaza, seine Bewegung könne diesen Schritt nicht hinnehmen, weil er «als Ergebnis des Drucks der Zionisten und der Amerikaner zustande kam, die die Intifada und unseren Widerstand zerstören wollen». Auch die übrigen, als radikal eingestuften Palästinensergruppen lehnten die Reform ab. Abu Mazen leitete die Fateh-Delegation bei den vorerst gescheiterten Gesprächen der palästinensischen Organisationen in Kairo über einen vorläufigen Stopp der Anschläge gegen Israel. Die Hamas und die Islamische Jihad müssen sich mit Abu Mazen nicht nur als Fateh-Führer, sondern nunmehr als Ministerpräsident arrangieren.
Die Reaktionen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft variieren. Während einige reformorientierte PLC-Mitglieder Abu Mazen für den richtigen Mann für eine Übergangszeit bis zu Neuwahlen ansehen, halten Teile der Öffentlichkeit die Ernennung eines Ministerpräsidenten unter dem Druck der Amerikaner und Israelisch für wenig sinnvoll. Wenig Respekt genießt der 67-jähriger PLO-Führer unter den jungen Palästinensern, die seine Ernennung als eine Aktion zur Zufriedenstellung der USA sehen. Akademiker vermuten gar, dass durch die Ernennung eines Premiers auf Druck von außen die Kluft zwischen der palästinensischen politischen Führung und der Gesellschaft größer wird. Dennoch ist eines klar, eine Ein-Mann-Show will in Palästina niemand.
Ausblick
Wie Arafat in seiner Eröffnungsrede zur Sitzung des Palästinensischen Legislativrates betonte, sieht Palästina dem Beginn einer neuen politischen Ära entgegen. Mit diesen Worten hat der Palästinenserpräsident das Ende seiner Alleinherrschaftszeit verkündet. Die Entscheidung des palästinensischen Parlaments ist in diesem Sinne als historisch zu bezeichnen, da die Gesetzesänderungen eine drastische Schwächung von Arafats Position bedeuten.
Palästina ist auf dem Weg, ein neues politisches System zu etablieren, in dem die Machtverteilung institutionalisiert wird. Bei der jetzigen Regelung handelt es sich noch um eine Zwischenlösung. Die Änderungen im Grundgesetz legen nicht unbedingt die Grundlagen für eine wirkliche parlamentarische Demokratie, genauso wenig kann von einem Präsidialsystem gesprochen werden. Vielmehr handelt es sich um eine Lösung zur Überbrückung der Arafat-Ära. Erst die tatsächliche Ablösung Arafats wird eine Entscheidung über das zukünftige politische System Palästinas bringen. Noch gibt es keinen gewählten, sondern nur einen ernannten Premier, wenn auch mit weitreichenden Befugnissen.
Entsprechend groß sind die Herausforderungen, denen sich der erste palästinensische Ministerpräsident stellen muss. Eine der ersten Hürden des künftigen Regierungschefs ist es, ein Kabinett mit gleichgesinnten Ministern zu bilden, die ihm helfen sich innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde und in der palästinensischen Gesellschaft durchzusetzen. In Zusammenhang damit steht die nächste Herausforderung. Gelingt es Abu Mazen nicht, ein gewisses Maß an Dialog mit oppositionellen Gruppen wie Hamas zu etablieren, ist er zum Scheitern verurteilt. Schließlich ist Hamas die stärkste politische Bewegung nach Fateh. Der Erfolg des Premiers wird auch von seiner Fähigkeit abhängen, die seit Oslo kontinuierlich geschwächte Fateh-Bewegung zu rehabilitieren.
Eine der wichtigsten Herausforderungen Abu Mazens ist es ohne Zweifel, mit seinem israelischen Kontrapart erneut in Verhandlungen zu treten. Auf der Agenda steht der von dem Nahostquartett (USA, EU, UNO und Russland) erarbeiteten "Fahrplan", ein mehrere Stufen umfassender Vorschlag, der unter anderem die Errichtung eines Palästinenserstaats in temporären Grenzen vorsieht. Die israelische Regierung hat inzwischen mehr als einhundert Veränderungswünsche vorgebracht. So will die Regierung den Terminus "unabhängig" in Verbindung mit dem zu gründenden Staat gestrichen haben. D.h. Ministerpräsident Ariel Sharon will den Palästinensern nur begrenzte Autonomie gewähren. Jeder Fortschritt soll ferner an die komplette Einstellung von Gewalt und Terror gebunden sein.
Ist die israelische Regierung tatsächlich am Erfolg Abu Mazens interessiert, so muss sie ihn durch Einstellung zumindest aller Aktionen, die seiner Amtsführung schaden könnten, unterstützen. Sollte Israel im Namen von Verhandlungen nur auf ein Friedensdiktat nach eigener Vorstellung hinarbeiten, wird nicht nur Abu Mazen, sondern der gesamte Reformprozess in Palästina kläglich scheitern.