Länderberichte
Yukio Mishima und Onoda Hiro
Zwei historische Ereignisse im Japan des vorigen Jahrhunderts - der rituell vollzogene Selbstmord des Schriftstellers und kaisertreuen Putschisten Yukio Mishima 1970 und das Ausharren von Leutnant Onoda Hiro bis 1974, d.h. 29 Jahre nach Beendigung des Krieges, in seinem Dschungelversteck auf den Philippinen - zeigen vielleicht mehr als theoretische Texte und Analysen das in Japan traditionell anders als im Westen bewertete Scheitern, Schuldeingeständnis und die kompensatorische Aufblähung von Nation und Rasse; bis in unsere Tage hinein. Gleichzeitig belegen sie aber auch eine Besonderheit: dass eben jene vom Schicksal bedrohten Menschen zu unvergessenen Gestalten der japanischen Geschichte wurden, die es gerade wegen - und nicht trotz - ihres Scheiterns und spezifischen Versagens zu überliefertem lokalen Nachruhm oder doch einiger Bekanntheit gebracht haben. Es sind jedoch selten imposante Verlierer, die sich gegen ein unabänderliches Schicksal aufbäumten, sondern Menschen, die das Pech eher ereilte als das Glück, und die auf tragische, dramatische Weise versagt haben, nie aber auf blamable (im asiatischen Kontext: gesichtsverlorene) Art.
Mythos Yasukuni
Nicht Wenigen von ihnen wird im umstrittenen Yasukuni-Schrein in Tokio gedacht, dessen Seelenhort der spirituellen Erinnerung an Helden, Wagemutige und Verlierer gewidmet ist. Deren Scheitern repräsentiert zwar Erfolglosigkeit, allerdings angesichts einer unmöglich zu bewältigenden Aufgabe und wird dadurch erst zum eigentlichen Mythos stilisiert.
Die jungen, anscheinend todesmutigen Selbstmordpiloten der verzweifelten Kamikaze-Verbände im Zweiten Weltkrieg gehören dazu, deren Flugzeuge meist nur eine Tankfüllung bis zum finalen Sturzflug auf feindliche Ziele hatten, eine Rückkehr somit ohnehin ausschließend.
Unzählige Sagen ranken sich um den waffentragenden Kleinadel der Samurai (12. bis 19. Jahrhundert) und die psychologischen Zentralbegriffe von Treue und Pflichterfüllung, notfalls bis zum letzten Augenblick und mit allen Konsequenzen.
Tod und Sterbepoesie
Es mutet seltsam und auch etwas schaurig an, dass es darüber hinaus eine japanische Literaturgattung der sog. Sterbepoesie gibt, deren weltabgewandte Gedichte, im Angesicht des eigenen Endes verfasst, als Abschiedsverse in höchster Konzentration Zeugnis ablegen von dem, was zwischen Leben und Tod empfunden und meist in diesem Augenblick lyrisch niedergeschrieben wurde.
Dass der Selbstmord (besser: die Selbsttötung) in Japan seit alters her eine besondere Rolle gespielt hat, ist hinlänglich bekannt.
Durch das ritualisierte Hand-an-sich-legen konnte und kann man sich vom früheren Missetaten läutern und die verletzte Sozialordnung wieder herstellen, auch wenn der eigens gewählte Tod als Zeichen des individuellen Aufbegehrens gegen die Gesellschaft und deren unbarmherzige Gesetze zu sehen ist (in jüngerer Geschichte vor allem die Verzweiflungstaten japanischer Angestellter, die die körperlichen Folgen unentwegter Arbeitsüberlastung nicht mehr ertragen). Scheinbar ausweglose Situationen bieten somit immer noch eine, wenn auch irreversible Lösung.
Obwohl die düstere Sicht der Welt als flüchtiger Illusion (symbolisch durch die kurze Pracht der Kirschblüten verewigt) heute nicht mehr kultiviert wird: die Philosophie von Vergänglichkeit, Fatalismus und unbedingter Einordnung in konnektive gesellschaftliche Strukturen („Zwänge“) gehören zu den wiedererkennbaren Mustern japanischer sozialer Identität.
Das Narrativ der latenten Bedrohung
Den besonderen Umgang Japans mit kollektiven Ängsten und Bedrohungen führen einheimische Theorien u.a. auf die amerikanische Dominanz seit Öffnung japanischer Häfen durch Commodore Perry in der Bucht von Yokohama 1853/54 zurück, dessen kompromisslose Bedingungen das bis dahin tresorisch abgeschottete Land einer beispiellosen Transformation unterwarf und Vergangenheitsbezüge und Traditionsbildungen zäsurierte, in neue Begrifflichkeiten ummünzte und doch insgeheim weiter vom früheren identitätsstiftenden Autismus zehrte.
Der Abwurf zweier Atombomben im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki, die bedingungslose Kapitulation des Kaiserreiches, die folgende amerikanische Besatzungszeit unter dem „weißen Shogun“ General MacArthur und die gleichfalls nahezu ausschließlich von US-Militärs entworfene japanische Verfassung bedeuteten tiefgreifende Einschnitte in das japanische Selbstbewusstsein.
Nippon oszilliert bis heute zwischen dem kulturellen und politischen Adaptionsversuch einer fremden westlichen Herrschaft über das älteste Kaiserhaus der Welt (Fanal der Gedemütigten) und kompensatorischer Nation- und Rassenverherrlichung (moralische Wiederaufrüstung durch erzkonservatives Gedankengut).
Der Rahmen des kollektiven Gedächtnisses aber brach nie ganz zusammen, und die latente Bedrohungsangst eines schutz- und hilflos dem Willen anderer Mächte ausgelieferten Staates schwebt auch gegenwärtig über den Politikentscheidungen Japans.
Dies erklärt zum Teil die rechtsnationalistischen Nostalgiewellen sowie die hektischen Versuche des Premierministers, den Schulterschluss mit den USA nicht zu verpassen; dazu die schmerzlich empfundene Verunsicherung anlässlich der an Tokio nun vorbeirauschenden rasanten Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel unter maßgeblichem Einbezug der Vereinigen Staaten.
Japan verdankt es einer tief eingewurzelten konservativen Haltung, dass sich Kultur und Identität über viele Jahrhunderte derart homogen bewahren konnten. Die innere Stabilität blieb gewährleistet, solange die Sozialbezüge „stimmten“ und eine kontinuierliche Erinnerungskultur positiv beeinflussten.
In gleichem Masse negativ wirken sich tragisch reflektiertes Scheitern und nationale Überhöhung auf das soziale Bewusstsein aus, wenn gesellschaftliche Fraktionen (auch der Regierung) versuchen, die als Brüche in der glorreichen Entwicklung eines Staates empfundene Schuld durch Wiederherstellung traditionaler Vergangenheitsbezüge zu überwinden.
Shinzo Abes „Pflicht“
Für Premierminister Shinzo Abe wäre die Novellierung des umstrittenen „Friedensparagrafen“ ein autonomer Akt souveräner nationaler Gesetzgebung, und die oftmals in Erwägung gezogene Umbenennung der japanischen Streitkräfte, deren bislang verfassungsgemäße Selbstverteidigungsbeschränkung dann auch im Namen aufgehoben würde, ein Zeichen gewonnener Selbstbehauptung gegenüber Amerika.
Man mag dies Unterfangen und die Energie des Premiers, die dahintersteckt, anachronistisch und auch sinnlos nennen - Japan hat gutausgerüstete Streitkräfte und eines der höchsten Militärbudgets der Welt - doch allein die Einbettung Abes in die eigene Familiengeschichte zeigt die loyale Pflicht, das von Großvater, Großonkel und Vater geerbte Mandat zu einem würdigen, ja heldenhaften Abschluss zu bringen. Dazu trat er 2012 an, dafür ist er bereit, alles zu geben.
Die Selbstbehauptungsdiskurse in Regierung, Parlament und japanischer Öffentlichkeit zielen entweder auf Beibehaltung des Status quo oder intendieren die baldige Behebung von Emanzipationsdefiziten, um endlich eine offensivere nationale Selbstbehauptung zu erreichen.
Erzogen, bewacht, bevormundet
Japan hatte seine Helden, jahrhundertelang; es hat sie, seit den „schwarzen Schiffen der Amerikaner“ vor 165 Jahren, nicht mehr.
Obwohl das Land mit dem Friedensvertrag von San Francisco 1951 seine volle Souveränität formal wiedererlangte, bleiben die USA alleinige militärische Schutzmacht Nippons.
US-erzogen im Sinne westlicher Demokratievorstellungen, bewacht von amerikanischen Marines auf Okinawa und bevormundet in allen entscheidenden außenpolitischen Belangen durch Washington – so sieht sich Nippon heute. Was Viele, nicht nur Ultrakonservative nur hinter vorgehaltener Hand sagen: Amerika steht in diesen Tagen als Symbol für die nationale Desintegration Japans innerhalb der Staatengruppe, die sich mit der ostasiatischen Atomabrüstungsfrage maßgeblich auseinandersetzt. Das sind neben den beiden Koreas die USA und China. Japan nicht mehr, wenn es denn je wirklich dabei war.
Bedrohtes Ideengerüst
Über Jahrzehnte hinweg ist das bilaterale japanisch-amerikanische Bündnis Teil der Tokioter Staatsräson gewesen; denn multilaterale Sicherheitsstrukturen waren und sind praktisch nicht vorhanden. Plötzlich aber gibt es gewichtige Gründe, diese einst sakrosankte Allianz zu hinterfragen und möglicherweise auf eine neue Grundlage zu stellen.
In Kürze wird Japan gezwungen sein, seine eigene Rolle in der Region eigenständiger als bisher zu bestimmen und wahrzunehmen. Dazu gehört auch die konventionelle Verteidigungsbereitschaft unterhalb der Schwelle nuklearer Bewaffnung.
Die sich seit dem 27. April 2018 abzeichnenden Machtverschiebungen bei strategischer Ungewissheit im erratischen Vakuum eines isolationistisch eingestellten US-Präsidenten haben das bisherige Ideengerüst Japans verändert und könnten das Land in einen nationalistischen Rückfall zwingen, dessen ideologische Unterfütterung erneut in der großen Geschichte Nippons, seiner Helden, deren würdevollem Scheitern und einer aufgeblähten Staatsverherrlichung bestehen könnte.
Wieder einmal scheint es, als gehorche die Entwicklung in Japan und die Mentalität, die sie stützt und duldet, dem Gesetz der Niederlage, das durch aktuelle Ereignisse Tag für Tag bestätigt, erneuert und vertieft wird.
Selbstviktimisierung
Das Niederlage-(Ge)Denken wurde beherrschend und für Staat und Nation konstituierend. Aber die Kapazität Japans, sich scheinbares Wohlwollen anderer Länder durch ausschließlich finanzielle Nachgiebigkeit zu erkaufen, könnte bald an ihre Grenzen stoßen und mit ihnen ein grundlegendes außenpolitisches Konzept Nippons.
Seit Beginn der überraschend wirtschaftsstarken Konsolidierung in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts verstand es Japan, außen- und fiskalpolitisch eine Atmosphäre der Schonung zu verbreiten, um die Welt von der eigenen (modernen) Gutartigkeit zu überzeugen. Doch die japanische Vergangenheitspolitik, d.h. der Umgang mit unrühmlicher Geschichte, imperialen Exzessen und die Unfähigkeit zu überzeugenden Entschuldigungsgesten bspw. gegenüber China und Korea widersprachen dem und wiesen Japan im innerasiatischen Moralstreit stets und einhellig die Rolle des Sünders ohne Beichte zu.
Heute erscheint Nippon immer weniger als Akteur der Weltpolitik, sondern als ihr Objekt, und, wenn man so will, gelegentlich als ihr Opfer. Doch auch die inszenierte Selbstviktimisierung eines Staates, der zu glauben scheint, dass ein friedlich-wehrloses Land nur noch Freunde habe, lässt wichtige geschichtliche Tatsachen und außenpolitische Zusammenhänge verloren gehen.
Fazit
Die aktuelle Koreafrage zeigt: Japan ist ein Land, das auf der Suche nach Selbstvergewisserung, Sicherheit und Verlässlichkeit bündnispolitisch immer neue Krisen erlebt hat und erfahren wird, und dem seine moderne Selbstbestimmung vermutlich so lange vorenthalten bleibt, wie es die eigene geschichtliche Wirklichkeit kritiklos oder darüber hinaus nationalistisch überhöht darstellt.