Länderberichte
Zum ersten Mal seit Jahren, so Guterres, sei Vollbeschäftigung als ein zentrales Ziel europäischer Politik definiert worden. Die Europäische Union soll, so will es die portugiesische Präsidentschaft, auf der Grundlage von Innovation und Wissen in zehn Jahren zum dynamischsten und wettbewerbfähigsten Raum der Welt werden. Europa soll sein Wirtschaftswachstum ankurbeln, mehr und bessere Arbeitsplätze schaffen und den sozialen Zusammenhalt stärken.
Zu den herausragenden Ergebnissen zählen die Festlegung der 15 Mitgliedsländer auf ein jährliches wirtschaftliches Wachstum von 3% sowie die geplante Heranführung der Beschäftigungsquote in der EU von derzeit durchschnittlich 61% auf ungefähr 70% (aktuelle Beschäftigungsquote in den USA) bis zum Jahr 2010. Des weiteren will man darauf hinwirken, dass der Anteil der erwerbstätigen Frauen von derzeit durchschnittlich 51% im gleichen Zeitraum auf 60% ansteigt.
Die Erfüllung der festgelegten Kriterien, sei jährlich im Rahmen eines europäischen Gipfels zu überprüfen, der ein Follow-up vornehmen und auch "strategische Impulse" für die Zukunft liefern sollte. In diesen Gipfel seien die Ministerräte zu involvieren, die ebenfalls an der Vorbereitung des aktuellen Sondergipfels beteiligt waren. Dies sind die Ratsformationen: "Allgemeine Angelegenheiten", "Arbeit und Soziales", "Wirtschaft und Finanzen", "Binnenmarkt", "Forschung" und "Bildung".
Um die genannten Ziele zu erreichen, wurden für verschiedene Bereiche europäischer Politik konkrete Massnahmen beschlossen. Insgesamt standen 35 Einzelvorschläge auf der Tagesordnung. Allein davon hatten 20 Massnahmen das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit Europas auf den expandierenden Technologie-Märkten zu verbessern.
Einige Beschlüsse des Sondergipfels im Überblick:
- Informationgesellschaft
Der Telekommunikationsmarkt soll bis Ende 2001 vollständig liberalisiert werden. Die Kosten für den Zugang zum Internet sind bis Ende 2000 zu verringern. Alle Schulen in der Europäischen Union sollen bis Ende 2001 an das Internet angeschlossen sein (Initiative e-Europe).
- Europäischer Forschungsraum
Geplant ist die Vernetzung nationaler Forschungsprogramme und die Schaffung eines transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes für wissenschaftliche InformationstransfersMitteilungen. Hindernisse für die Mobilität europäischer Forscher sind bis zum Jahr 2002 zu beseitigen. Ein Gemeinschaftspatent soll bis Ende 2001 verfügbar sein.
- Wirtschaft und Finanzen
Für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) soll eine europäische Charta ausgearbeitet werden. Geplant ist ausserdem die Schaffung eines Überprüfungsinstruments (Benchmarking) für die nationalen Wirtschaftspolitiken. Bis zum Jahr 2002 ist eine Strategie zur Beseitigung von Hemmnissen im Dienstleistungsbereich zu definieren. In den Bereichen Transport und Energie soll eine weitere Vertiefung des Binnenmarkts erfolgen.
Für eine volle Integration der Finanzmärkte, einschliesslich des Risikokapitalmarktes, soll bis Ende dieses Jahres eine Strategie formuliert werden. Im europäischen Auftragswesen soll es vor Ende 2002 neue und offenere Regelungen geben.
Ein Knackpunkt war jedoch die Forderung der portugiesischen Präsidentschaft nach der Liberalisierung der Sektoren Gas, Strom, Postdienste und Verkehr. Aufgrund von massiven Vorbehalten Frankreichs gibt es dafür keine Zeitvorgaben. Diese soll lediglich beschleunigt werden.
- Bildung
Partnerschaften zwischen Schulen, Ausbildungszentren, Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind anzustreben. Lebenslanges Lernen ist zu fördern. In diesem Zusammenhang soll ein europäisches Diplom für grundlegende Fertigkeiten im Bereich Informationstechnologie ins Leben gerufen werden.
- Soziales
Zur weiteren Entwicklung des Sozialschutzes soll eine eingehende Studie in Auftrag gehen. Besondere Aufmerksamkeit sei dabei den Altersversorgungssystemen zu widmen.
Für die Finanzierung dieser Initiativen soll, so teilte die portugiesische Präsidentschaft etwas vage mit, der gesamte Haushalt der EU genutzt werden. Für konkrete Projekte haben die Europäische Zentralbank (EZB) und vor allem die Europäische Investitionsbank (EIB) Unterstützung bereits zugesagt. Vor allem der neue Präsident der EIB, der ehemalige belgische Finanzminister Phillipe Maystadt, hat Ende Januar gegenüber dem Rat erklärt, dass die EIB die Ziele des Gipfels nach besten Kräften unterstützen werde.
Einige Bereiche, in denen die EIB nach eigener Einschätzung in der Lage sein wird, zur Verwirklichung der Ziele beizutragen, sind die Finanzierung von Projekten bezüglich Humanressourcen (z.B. Verkabelung der Schulen), die Förderung von Innovation in den KMU sowie die Förderung im Bereich Forschung und Entwicklung (z.B. durch die Finanzierung von Forschungslabors). Hierfür kann die EIB beispielsweise Darlehen mit festzulegenden neuen Instrumenten vergeben oder Risikokapital für KMU bereitstellen.
Insgesamt stehen nach Angaben von Phillipe Maystadt 10 bis 15 Milliarden Euro an Darlehen für die kommenden drei Jahre zur Verfügung, womit Gesamtinvestitionen in Höhe von 40 Milliarden Euro unterstützt werden könnten. Ebenfalls vorhanden sei ein Risikokapital in Höhe von einer Milliarde Euro aus EIB-Eigenmitteln.
Reaktionen aus Deutschland
Die derzeitige Bundesregierung zeigt sich zufrieden mit den Ergebnissen des Sondergipfels, obwohl sich Bundeskanzler Schröder vor dessen Beginn noch skeptisch über die Festlegung quantifizierbarer und nachprüfbarer Ziele zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums geäussert hatte.
Die deutschen Unionsparteien haben insgesamt eine kritische Haltung zu den Ergebnissen von Lissabon eingenommen. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, bezeichnet die Ergebnisse des sogenannten "Internet-Gipfels" als "oberflächlich, widersprüchlich und von begrenzter Wirkung für die Beschäftigung". Wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung liessen sich nicht verordnen, sondern müssten durch Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen erreicht werden.
Dennoch begrüsse die Union beispielsweise die Initiative, die europäischen Schulen an das Internet anzuschliessen. Europäische Programme und Aktionen könnten aber nicht die in Deutschland nur halbherzig begonnenen Strukturreformen ersetzen. Ohne durchgreifende Steuerreform und ohne weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte bestünde die Gefahr einer zweigeteilten Wirtschaft: einerseits eine moderne, zukunftsgewandte Industrie mit Fachkräftemangel, andererseits eine Traditionsindustrie mit hoher Dauerarbeitslosigkeit.
Mit der Liberalisierung der Netzwerkindustrien, der konsequenten Marktöffnungspolitik und einem einfachen Zugang zu den neuen Kapitalmärkten seien, so Merz weiter, richtige Ansätze erfolgt. Doch ohne die gleichzeitige Liberalisierung und Deregulierung auf den EU-Arbeitsmärkten blieben diese Massnahmen unvollständig, wie die vorherigen Beschäftigungsgipfel gezeigt hätten.
Die Vorbereitungen
Das im Vorbereitungsdokument der portugiesischen Präsidentschaft angekündigte Thema: "Wachstum, Beschäftigung und sozialer Zusammenhalt - auf dem Weg zu einem auf Innovation und Know-How gegründeten Europa" rief viele wichtige europäische Akteure auf den Plan, die einen Beitrag zu den Inhalten des Gipfels leisten wollten.
Die meisten europäischen Arbeits- und Sozialminister haben sich aktiv bemüht, Beiträge zu den Komponenten Beschäftigungspolitik und sozialer Zusammenhalt zu leisten, was dazu führte, dass eine wahre Flut von Kommentaren bei der portugiesischen Präsidentschaft einging.
Auch die Europäische Vereinigung der Arbeitgeber, UNICE, der Europäische Gewerkschaftsbund, EGB, sowie die Vereinigung der öffentlichen Unternehmen, CEEP, haben ihre Vorstellungen zu den Ergebnissen eines solchen Gipfel dargelegt.
Die Kommission hat daraufhin auf der Basis der Reaktionen aus den Mitgliedstaaten ein Dokument, "Die Agenda der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung", verfasst, das eine Grundlage für die Schlussfolgerungen des Gipfels bieten und die zahlreichen Beiträge in eine kohärente Form giessen sollte.
Kommentare
Gehörten in früheren Jahren deutsch-französische Initiativen zum Gipfelalltag der EU, lancierten dieses Mal Grossbritanniens Premierminister Tony Blair und sein spanischer konservativer Amtskollege José María Aznar einen gemeinsamen Appell an die Versammlung, sich auf konkrete Zeitpläne für wirtschaftspolitische Reformen zu einigen.
Der spanische Regierungschef Aznar hatte zum Thema ein Dokument verfasst, das einen Plan mit drei Etappen und einen Zeitplan für eine europäische Strategie enthält, die in zehn Jahren Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und sozialen Zusammenhalt erzielen soll. Dieses Dokument fand auf europäischer Ebene viel Beachtung. Teile davon sind in den Kommissionsvorschlag eingegangen.
Zur Vorbereitungsphase des Gipfels ist anzumerken:
Das Vorbereitungsdokument der Präsidentschaft gab zwar die Richtung vor, doch war die Anzahl der Ziele überzogen und es wurden keinerlei Angaben über den Zeitplan gemacht.
Das Dokument der Europäischen Kommission zum Thema "Informationsgesellschaft für alle" ging völlig unter, da dessen Vorstellung auf dem vorherigen Europäischen Gipfel zeitgleich mit dem Beschluss erfolgte, die EU-Beitrittsverhandlungen mit den sechs Ländern der sog. 2. Phase zu beginnen. Im Anschluss entglitt den Europäischen Institutionen die Initiative völlig und ging in die Hände der Regierungen über.
Die Art und Weise, in der sich die nationalen Beiträge anhäuften, vermittelte im Vorfeld den Eindruck eines institutionellen Wirrwarrs und hat nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Gemeinschaftskreise irritiert.
Im Nachhinein bleibt der Eindruck, dass EU-Präsidentschaft und Europäische Kommission die Vorbereitungen des Gipfels nicht wirklich geleitet, sondern dass vielmehr einige Regierungschefs, von Aznar bis Blair, die Entwicklung gelenkt haben. Es steht die Frage im Raum, ob die Initiativen zum Europäischen Integrationsprozess in Zukunft völlig in die Hände der Regierungschefs übergehen werden und die Europäische Kommission sich zum ausführenden Sekretariat des Rates entwickelt.