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Länderberichte

Die Frage nach der Kastenzugehörigkeit

von Dr. Helmut Reifeld
Derzeit entbrennt in Indien eine Debatte darüber, ob in der bevorstehenden Volkszählung im Jahre 2001 Daten erhoben werden sollen, die Rückschlüsse auf die Kastenzugehörigkeit der Befragten zulassen. Diese Fragen sind in Volkszählungen seit 70 Jahren nicht mehr gestellt worden. Angesichts der weitreichenden politischen Konsequenzen und staatlichen Verpflichtungen, die an den jeweiligen Kastenstatus bestimmter Bevölkerungsgruppen geknüpft sind, ist es nicht sehr verwunderlich, daß diese Frage zu den politisch sensibelsten in Indien gehört.

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Offiziell hat Mitte Mai dieses Jahres die indische Bevölkerung die Milliardengrenze überschritten. Weitaus wichtiger als die absolute Zahl der Menschen, die zur Zeit die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt ausmachen, ist jedoch deren soziale, ethnische und religiöse Zusammensetzung. Wie ist die indische Bevölkerung demographisch strukturiert und welche politischen Konsequenzen sind daraus für die kommenden zehn Jahre zu ziehen? Dies ist eine der Kernfragen der gesamten indischen Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Eines der wichtigsten Instrumente in diesem Zusammenhang sind seit langem die Volkszählungen ("Census"), die seit 1881 regelmäßig landesweit alle zehn Jahre durchgeführt worden sind. Die Gestaltung dieser Volkszählungen hatte in der Vergangenheit erhebliche Auswirkungen auf die Bestimmung der Zugehörigkeit zu Kasten und religiösen Gemeinschaften. Während allerdings bis 1991 stets nach der religiösen Zugehörigkeit gefragt wurde, ist die Frage nach der Kastenzugehörigkeit seit dem Census von 1931 bei dieser Gelegenheit nicht mehr gestellt worden. Die Sensibilität dieser Frage liegt auf der Hand, da sie unkontrollierbare Folgeprobleme aufzuwerfen droht.

Es gehört zu den Grundrechten der indischen Verfassung (Artikel 15 und 16), daß die Bürgerinnen und Bürger der Republik Indien unter anderem wegen ihrer Kastenzugehörigkeit nicht ungleich behandelt werden dürfen. Hinzu kommen die in den Artikeln 341 und 342 ermöglichten Sonderrechte. Die drei wichtigsten Gruppen, denen diese Sonderrechte zugute kommen, sind die sogenannten "Scheduled Castes" (SCs), die "Scheduled Tribes" (STs) und die "Other Backward Classes" (OBCs). Zwar steht das "C" in der dritten Abkürzung für "Classes" und nicht für "Castes" doch sind es immer häufiger Kasten, die beantragen, in die Liste der dritten Gruppe aufgenommen zu werden.

Aus dem Kastenstatus resultieren weitreichende Rechte, ökonomische Ansprüche und soziale Zugangsberechtigungen. Das Ausmaß dieser in Indien quotenmäßig garantierten Ansprüche ist weltweit einzigartig. Es wurde schließlich 1990 für das indische Verfassungsgericht (Supreme Court) sogar zum Anlaß für die Grundsatzentscheidung, daß die Summe der von vornherein durch Quoten vergebenen Zugangsberechtigungen zu öffentlichen Positionen 50% nicht übersteigen dürfe. Vor diesem Hintergrund erscheint es um so dringender, die Gewährung dieser Sonderrechte auch empirisch zu legitimieren.

Das Kastenwesen in Indien ist weniger ein religiöses oder gar ideologisches Phänomen als vielmehr ein soziales, und seine sozialen Erscheinungsformen lassen bis heute eine unglaubliche Regenerationskraft erkennen. Trotz ungezählter Forschungsprojekte zu diesem Thema fehlt es jedoch vielfach an verläßlichen, repräsentativen und aktuellen Daten, die unter anderem durch einen Census gewonnen werden könnten.

Kastenstrukturen waren noch nie statisch. Sie ändern sich ständig analog zu den sich verändernden Machtverhältnissen. Wandeln sich die ökonomischen Ordnungskategorien, ergeben sich direkte Auswirkungen auf die soziale Geltung und Akzeptanz der Kastenzugehörigkeit der involvierten Bevölkerungsgruppen. Es finden sich noch immer Beschreibungen, die versuchen, dem Kastenwesen eine Ideologie zugrundezulegen, die es aus sich heraus nie gehabt hat, sondern die ihm allenfalls von außen zugeschrieben worden ist. Zudem beschränken sich viele ältere Darstellungen auf eine brahmanisch geprägte Perspektive von oben.

Wie dem Phänomen des Kastenwesens in Zukunft begegnet werden sollte, ist äußerst umstritten. Es gibt ernst zu nehmende Stimmen, die sich dagegen aussprechen, eine an Kastenunterschieden orientierte Sozialpolitik weiterzuentwickeln. Für sie sind Volkszählungen ein Instrument und ein Erbe kolonialer Herrschaft, das lediglich dazu beiträgt, die soziale, ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes zu unterstreichen und damit gleichzeitig die Einheit der Nation in Frage zu stellen. Nach Einschätzung des General-Registrators für Census-Fragen, J. K. Bantia, sollte deshalb die Frage nach der Kastenzugehörigkeit auch bei der nächsten Volkszählung nicht gestellt werden, da nur so Statusunterschiede abgebaut und die Politik der Ungleichbehandlung einzelner Bevölkerungsgruppen revidiert werden könne.

Allerdings war es in der Vergangenheit häufig gerade der Census, der dazu beigetragen hat, unter der intellektuellen Elite in Indien das Bewußtsein der eigenen Lebensbedingungen zu schärfen und die Unterschiede zum Westen deutlicher vor Augen zu führen. Die Volkszählungen verstärkten unter breiten Bevölkerungskreisen nicht nur die Wahrnehmung dessen, was überhaupt ein Dorf ist, sondern eben auch, was eine Kaste ist oder eine Religionsgemeinschaft. Dabei war die Reflexion über die Kastenzugehörigkeit sowohl die komplizierteste als auch die folgenreichste.

Die Argumente, die gegen die Frage nach der Kastenzugehörigkeit im Rahmen der Volkszählung angeführt werden, sind teils moralischer, teils pragmatischer Art. Das moralische Argument lautet, daß hierdurch die bestehenden Kastenstrukturen verstärkt und festgeschrieben werden. Die bisherige Politik habe es nicht geschafft, Kastenunterschiede abzubauen und die daraus resultierende soziale Ungleichheit zu verringern. Die pragmatischen Bedenken lassen Zweifel aufkommen an der Verläßlichkeit und damit der Brauchbarkeit der erfaßten Daten. Gerade weil diese Frage so sensibel ist, sind viele Antworten nicht ehrlich. Ansprüche, die auf den eigenen Kastenstatus zurückgeführt, aber von anderen nicht akzeptiert werden, provozieren tagtäglich überall in Indien Reaktionen der Gewalt.

Diejenigen hingegen, die Fragen nach der Kastenzugehörigkeit in die kommende Volkszählung aufgenommen wissen wollen, berufen sich vor allem auf den derzeitigen Rechtszustand. Eine Politik, die darauf angewiesen ist, aus den aktuell bestehenden Kastenstrukturen Konsequenzen zu ziehen, sei auf Daten angewiesen, die der realen Dynamik Rechnung tragen. Rechtsansprüche an die Zukunft können nicht allein mit historischen Kastenunterschieden begründet werden, die sich unter anderem auf die extrapolierten Daten von 1931 berufen, obwohl sich diese in dem heutigen Kastenstatus der jeweiligen Gruppe gar nicht mehr widerspiegeln.

In den vergangenen 70 Jahren haben sich nicht nur die Namen vieler Kasten geändert, einige sind verschmolzen, andere ganz verschwunden. In einigen Gebieten Indiens basieren heute noch Verwaltungsentscheidungen auf Daten aus der Volkszählung von 1881, in der rund 2.000 Kasten unterschieden wurden. Damals gehörten den meisten dieser Kasten weniger als 1.000 Menschen an, phonetische Ähnlichkeiten hatten zur Folge, daß völlig unterschiedliche Kasten als gleich kategorisiert wurden, und der Status bestimmter Berufskasten kann 500 Kilometer weiter ein ganz anderer sein.

Unter den heutigen Bedingungen ist es jedoch schwieriger denn je, gesetzliche Vorgaben für eine kasten-orientierte Sozialpolitik umzusetzen. Ein sich ständig verändernder Arbeitsmarkt, starke Migrationsbewegungen und die rasch fortschreitende wirtschaftspolitische Öffnung Indiens führen dazu, daß Statusunterschiede nivelliert und Kastenhierarchien geradezu umgekehrt werden. Im Bereich der "Information Technology" und in vielen anderen modernen Wirtschaftsbereichen können ohne weiteres Nieder-Kastige oder auch Kastenlose, die früher als "unberührbar" galten, Karriere machen und Dienstvorgesetzte von Höherkastigen werden.

Die Teilnehmer an einem Seminar in Mysore im Juli d. J., zu dem das "Madras Institute of Development Studies" nicht nur Akademiker, sondern vor allem auch Politiker und höhere Verwaltungsbeamte eingeladen hatte, sprachen sich überwiegend dafür aus, die Volkszählung 2001 zu nutzen, um differenzierte Daten der nach wie vor bestehenden Kastenunterschiede zu erhalten.

Insbesondere die Vertreter der jeweils bundesstaatlich organisierten "Backward Classes Commissions" argumentierten, daß die nach wie vor bestehenden Gesetzesvorgaben nur erfüllt werden könnten, wenn umfassende und regional spezifizierte Daten verfügbar sind. Nur auf der Grundlage dieser Kenntnis sei es möglich, Kastenstrukturen abzubauen, argumentierte zum Beispiel Prof. Ravivarma Kumar, der Präsident der Karnataka Backward Classes Commission.

Es wurden jedoch in Mysore auch Alternativen der Datenerfassung diskutiert. Der Präsident der Andhra Pradesh Backward Classes Commission, K. S. Puttaswamy, präsentierte einige der Ergebnisse einer unabhängigen Studie, die er selbst 1994 in Auftrag gegeben hatte. Den Anlaß hierfür bildete seinerzeit der Hungerstreik eines führenden Vertreters der Gemeinschaft der "Kappus", die beanspruchten, in die Liste der "backward classes" aufgenommen zu werden.

In den folgenden Jahren wurden soziale und ökonomische Daten aus insgesamt 75.000 Haushalten des Bundesstaates Andhra Pradesh erhoben und ausgewertet. Damit handelt es sich um eine der umfassendsten und aussagekräftigsten Analysen dieser Art, die bisher in Indien durchgeführt worden sind. Leider wird diese Studie, die lediglich der o.g. Kommission vorliegt, weder der Regierung von Andhra Pradesh noch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, da die "primären" Daten nur unter dem Versprechen erhältlich waren, daß sie (zumindest vorläufig) nicht veröffentlicht werden.

Die wissenschaftliche Leitung dieser Studie lag in der Verantwortung von Dr. T. N. Hanurav, dem früheren Dekan des Indian Statistical Institute in Calcutta, der von einem großen Beraterteam unterstützt wurde. In einem Interview (Frontline, 15. September 2000) erläuterte Hanurav, daß sein Hauptinteresse auf den Fragen nach dem sozialen Status lag. Indem einige seiner Fragen indirekt darauf abzielten, das Verhältnis zwischen den Kasten auszuleuchten, gelang es ihm, zwischen insgesamt 369 Kasten zu differenzieren. Interessant sei vor allem, daß höhere und niedrigere Kasten sich zunehmend vermischen. Ferner deutet Hanurav an, daß einige seiner Daten für die Regierung des Bundesstaates Andhra Pradesh "peinlich" seien, da sie eine Revision der bisherigen Kastenpolitik erzwingen würden.

Die "Kappus" jedenfalls, deretwegen diese Studie durchgeführt worden war, können nicht als "benachteiligt" eingestuft werden, da 77% der Bevölkerung schlechter gestellt sind als sie. Ungünstig ist allerdings auch das Ergebnis für die Christen, die zahlreiche Sonderrechte genießen. Wie Hanurav nur am Rande erwähnt, geht es ihnen in Andhra Pradesh im Durchschnitt besser als 81% der übrigen Bevölkerung. Es ist unwahrscheinlich, daß unter diesen Umständen die Sonderrechte für Christen auf Dauer erhalten bleiben werden.

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