Länderberichte
Ursachen für den Wahlerfolg der AKP
In Europa waren die Reaktionen auf den Wahlsieg der AKP skeptisch und zurückhaltend. Die einen sprachen von der AKP als islamistischer Partei, manche von einer gemäßigt islamistischen Partei und wieder andere von einer islamisch-demokratischen Partei. Die Unsicherheit war und ist in Europa groß, wie diese Partei politisch einzuschätzen ist, wenngleich durch den Besuch des AKP-Vorsitzenden Tayyip Erdogan in den wichtigsten europäischen Hauptstädten einige der Vorbehalte und Unsicherheiten abgebaut werden konnten.
Als islamistisch bezeichne ich eine Partei, wenn sie der Bevölkerung die Gebote und Verbote des Koran (z. B. Scharia) vollständig oder teilweise mit Hilfe der Politik und des staatlichen Machtapparats aufzwingen will, manchmal sogar unter Anwendung von Gewalt. Der türkische politische Islam hat Gewalt nicht propagiert oder benutzt - im Gegensatz zum politischen Islam in den arabischen Ländern, der sich im Kampf gegen die Kolonialmächte radikalisierte. Der politische Islam hat sich in der Türkei dagegen in einem Umfeld entwickelt, das durch Säkularismus und parlamentarische Demokratie bestimmt war.
Auf diesem Hintergrund bleibt es die entscheidende Frage, wie die AKP politisch einzuordnen ist und was der Wahlsieg dieser Partei, die nunmehr fünf Jahre alleine regieren kann, für die Weiterentwicklung der türkischen Demokratie und die türkische EU-Mitgliedschaftsperspektive bedeuten wird. Dazu soll zunächst einmal auf den Wahlkampf und die politische Ausgangslage vor der Wahl eingegangen, die Entwicklung der verschiedenen islamistischen Parteien vor Gründung der AKP beschrieben werden und dann eine erste Bewertung der AKP-Politik und ihrer Zukunftsperspektiven versucht werden.
Im Gegensatz zu Europa, wo die politischen Einschätzungen der AKP sehr stark variierten, wurde ihr sensationelle Wahlerfolg in der Türkei erstaunlich gelassen und ruhig aufgenommen. Es gab keinerlei Protestaktionen oder Kampfansagen. Wirtschaft und Medien bewerteten das AKP-Ergebnis eher positiv, das kemalistische Establishment und das Militär hielten sich bemerkenswert zurück, wenngleich sie aus ihrer Skepsis und ihren Zweifeln hinter vorgehaltener Hand keinen Hehl machten; so war anfangs Abwarten die Devise.
Das Wahlergebnis vom 3. November ist nur im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung vor der Wahl und den Vorschriften des türkischen Wahlsystems zu verstehen. Die Türkei befindet sich seit fast zwei Jahren in einer der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrisen ihrer Geschichte mit der Folge, dass Hunderttausende von kleinen und mittelständischen Unternehmen Pleite gingen, Millionen von Menschen arbeitslos wurden und die Regierung Milliarden-Kredite beim Internationalen Währungsfonds aufnehmen musste, um die finanzielle Lage überhaupt halbwegs stabilisieren zu können. Erst langsam beginnt sich die Lage zu stabilisieren und die Wirtschaftsproduktion nimmt wieder zu, zumal der marode Banken- und Finanzsektor inzwischen halbwegs geordnet wurde.
Den drei Regierungsparteien Demokratische Linkspartei (DSP), Nationalistische Bewegungspartei (MHP) und Mutterlandspartei (ANAP) unter Führung von Ministerpräsident Bülent Ecevit wurde von den Bürgern diese Wirtschafts- und Finanzkrise allerdings angelastet, weshalb sie jedes Ansehen und Vertrauen verloren. Hinzu kam, dass die Regierung durch zahlreiche Korruptionsvorwürfe belastet war. Von daher war die Parlamentswahl eine Protestwahl gegen die etablierten Parteien, die seit beinahe 20 Jahren das politische Geschehen in der Türkei bestimmt hatten. Als Folge dieser Wahl sind die betroffenen Parteivorsitzenden Bülent Ecevit, Devlet Bahçeli, Mesut Yilmaz und Tansu Çiller von der politischen Bühne abgetreten - ein bisher einmaliger Vorgang in der Türkei.
Wegen des türkischen Wahlsystems, das seit 1982 die 10%-Klausel vorschreibt, um dadurch die pro-kurdische Partei im Südosten des Landes, die landesweit in der Regel zwischen 6 und 7% erhält, den Einzug in das Parlament zu verwehren, sind auch die genannten Parteien aus dem Parlament verschwunden. Ob eine dieser Parteien bei der nächsten Wahl noch einmal im Parlament vertreten sein wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die 10%-Klausel gesenkt und v.a. wie erfolgreich die AKP-Regierung sein wird.
Angesichts dieser Ausgangslage waren die Aussichten für die Oppositionsparteien, die mit der Wirtschaftskrise nicht in Verbindung gebracht werden konnten, eigentlich gut. Trotzdem hat es auch die oppositionelle DYP knapp nicht geschafft, weil sie ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen in Verbindung gebracht wurde und ihr die neu gegründete Genç Partei (Jugend Partei) Stimmen abgenommen hat.
Außerdem war durch die veröffentlichten Wahlumfragen sehr bald klar geworden, dass Parteien wie z.B. die DSP, die kurdische DEHAP, die konservative ANAP, die islamistische Saadet Partei, aber auch die neu gegründete Neue Türkei Partei des früheren Außenministers Cem, keine Chance haben würden, die 10%-Hürde zu überspringen. Deshalb haben sich viele Wähler je nach politischer Position entweder für die AKP oder die CHP entschieden, um zu verhindern, dass ihre Stimme durch die Wahl einer aussichtslosen Partei wegfallen würde. Als Folge der 10%-Klausel sind aber immer noch 45% aller abgegebenen Stimmen im Parlament nicht berücksichtigt.
Obwohl die AKP erst im August 2001 gegründet wurde und insofern eine Oppositionspartei war, ist ihr Wahlerfolg damit alleine nicht zu erklären. Wesentlich ist, dass die AKP mit ihrem Vorsitzenden Tayyip Erdogan einen seit langem sehr angesehenen, populären Politiker an ihrer Spitze hatte. Im Gegensatz zu allen übrigen Spitzenpolitikern ist er der einzige, der aus kleinen Verhältnissen im Stadtteil Kasimpasa in Istanbul stammt und deshalb glaubwürdig die Sorgen, Probleme und Nöte der „kleinen Leute“, die durch die Wirtschaftskrise gebeutelt waren, artikulieren konnte.
Außerdem war Erdogan von 1994 bis 1998 als Oberbürgermeister von Istanbul außerordentlich erfolgreich, was ihm große Popularität und Unterstützung im ganzen Land einbrachte. Dass er wegen eines Gedichtzitats in einer politischen Rede für 4 Monate ins Gefängnis musste und deshalb sein OB-Amt und die Betätigungsmöglichkeit als Politiker verlor, hat ihm bei der Mehrheit der Bevölkerung sicherlich nicht geschadet, sondern wahrscheinlich sogar eher genützt.
Erdogan wurde von seinen Wählern als ein Politiker eingeschätzt, der im Gegensatz zu allen übrigen ihre Situation kennt und versteht und dem sie zutrauten, die Probleme des Landes lösen zu können. Insofern war Erdogan, der als einziger Spitzenpolitiker ein bekennender und praktizierender Muslim ist, der Sprecher der ländlichen anatolischen Bevölkerung und der Gecekondu-Bewohner in den Grosstädten, der sich von der Inkompetenz, Korruption und Eigensucht der Politiker in der Ankaraner Zentrale glaubwürdig absetzen konnte.
Obwohl Erdogan in der islamistischen Bewegung unter Necmettin Erbakan politisch groß geworden ist, hat er im Gegensatz zu Erbakan bei seinen Veranstaltungen im Wahlkampf ganz bewusst auf alle islamischen Symbole (z.B. grüne Fahnen, Kopftücher, Vollbärte) verzichtet und hat auch keines der heiklen Themen im Zusammenhang mit der Interpretation laizistischer Prinzipien, wie z.B. die Benutzung des Kopftuches an den Hochschulen, aufgegriffen. Er hat von Anfang an betont, dass er eine konservative und demokratische Mitte-Rechts-Partei aufgebaut habe, die sich nicht als religiös verstehe, wenngleich sie die Themen gläubiger Muslime aufgreifen wolle. Er hat auf jede Provokation gegenüber dem laizistischen, kemalistischen Establishment verzichtet und betont, dass sich seine Partei an die Prinzipien der Türkischen Republik halte und diese nicht in Frage stelle.
Dieses in Inhalt und Stil moderate Auftreten von Erdogan und seiner Partei hat es sicherlich einer größeren Zahl von Wählern erleichtert und ermöglicht, die AKP zu wählen. Immerhin hatte die islamistische Fazilet Partei (Tugendpartei) bei der letzten Wahl 1999 noch 14,8% der Stimmen erhalten, wovon bei der aktuellen Wahl die Saadet Partei von Erbakan nur noch 2,5% auf sich vereinigen konnte. Von den ca. 34%, die die AKP erhalten hat, sind also maximal 10% frühere Fazilet-Wähler; 2/3 der AKP-Wähler sind demnach Wähler, die die AKP von anderen Parteien oder von Erstwählern hinzu gewonnen hat.
Vom Milli Görüs zur AKP
Die konservative, islamisch-demokratische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP ist die sechste Partei in der Geschichte des politischen Islam der Türkei, die1969 begann. Seit Gründung der Türkischen Republik im Jahre 1923 ist das Spannungsverhältnis zwischen dem laizistischen republikanischen System mit seiner Bindung an die französische Aufklärung einerseits und der islamischen Tradition mit den verschiedenen Koran-Interpretationen andererseits bis auf den heutigen Tag zunächst unterschwellig und dann immer offener ein beherrschendes Thema der politischen Auseinandersetzung gewesen.
Die Gründer der Türkischen Republik haben den Islam im allgemeinen und die islamischen Gruppen, Sekten und Stiftungen im besonderen als fortschritts- und republikfeindlich eingeschätzt. Sie haben deshalb in den Anfangsjahren der Republik alle islamischen Sekten, Orden und Stiftungen verboten, die Moscheen und deren Prediger unter staatliche Kontrolle gestellt (Diyanet), traditionelle Kopfbedeckungen wie z.B. den Fez verboten und das Kopftuch aus dem staatlichen Protokoll und aus den Amtsstuben verbannt. Die neue Türkei sollte modern, aufklärerisch und westlich sein, und dem stand der Islam entgegen. Also musste er möglichst aus dem öffentlichen Leben verbannt und in seinen politischen Wirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden.
Schon im Osmanischen Reich hatte der Islam in der Türkei ein sehr differenziertes, widersprüchliches und keineswegs einheitliches Erscheinungsbild. Er lebte in der Türkischen Republik im Untergrund oder verkümmerte. Es ist naheliegend, dass die erstmalige Gründung einer Partei des politischen Islam, nämlich der Milli Nizam Partisi (MNP, Nationale Ordnungspartei) im Jahre 1969 unter Necmettin Erbakan eine neue Phase des türkischen Parteiensystems einleitete. Seine Partei setzte sich zum Ziel die Wiederherstellung einer islamischen Ordnung nach osmanischem Vorbild (Neo-Osmanismus). Sie wurde sehr stark beeinflusst von den Ideen des Naksibendi-Sheyhs Mehmet Zahit Kotku, der eine moralische Gemeinschaft nach islamischem Wertemaßstab wiedergründen wollte. Die MNP beschwor den „Milli Görüs“, den „nationalen Blick“, der der einzig richtige und gerechte politische Weg für die Türkei sei.
Die MNP verstand sich als politische Bewegung, die als einzige Partei den gemeinsamen nationalen Willen der Türken repräsentierte. „Wir werden ganz sicher an die Macht kommen, ob dies jedoch mit Blutvergießen oder ohne geschieht, ist eine offene Frage“; dieses Zitat von Erbakan demonstriert die Radikalität dieser Bewegung. Dass seine Anhänger in Konya beim Spielen der Nationalhymne demonstrativ sitzen blieben, bringt ebenfalls ihre Distanz gegenüber der Türkischen Republik zum Ausdruck. 1970 wurden als Folge der Machtübernahme durch das Militär alle Parteien, darunter auch die MNP, verboten. Deren Nachfolgepartei, die Milli Selamet Partisi (die Nationale Heilspartei) wurde ebenfalls vom Verfassungsgericht verboten, wie auch die nachfolgende Refah (Wohlfahrtspartei) und Fazilet Partisi (Tugendpartei).
In den 30 Jahren seit Gründung der ersten Partei des politischen Islam im Jahre 1969 und ihrer Nachfolgeparteien, die alle von Erbakan geführt wurden, haben sich diese Parteien trotz der personellen Kontinuität politisch durchaus geändert. Die ursprünglich antiwestlichen, antisemitischen, antilaizistischen und islamistischen Äußerungen wurden von mal zu mal moderater oder gänzlich getilgt. Insbesondere setzte sich auch die prinzipielle Anerkennung des Laizismus durch, wenngleich es über die Interpretation und Anwendungen dieses Prinzips immer wieder zu Auseinandersetzungen kam. So hatte z.B. die Militärregierung von 1982 offensichtlich die Strategie verfolgt, islamische Gruppen und Institutionen zu stärken als Gegengewicht zu den linksextremen Gruppen. Unter Verantwortung des Militärs wurden die Imam-Hatip-Schulen (Predigerschulen) stark ausgeweitet. Dagegen wurden im Februar 1997 – wiederum auf Betreiben des Militärs - im Nationalen Sicherheitsrat restriktive Beschlüsse zur Bekämpfung des islamistischen Fundamentalismus gefasst, die letztlich im Juni 1997 zum Scheitern und Rücktritt von Erbakan als Ministerpräsident führten. Dazu gehörten u.a. das strikte Verbot des bis dahin tolerierten Kopftuchs an den Universitäten und die Beschränkung der Imam-Hatip-Schulen durch eine Verlängerung der Schulpflicht auf 8 Jahre.
Nachdem Erbakan durch ein Gerichtsurteil ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot auferlegt bekommen hatte, wurde noch vor dem Verbot der Refah Partei unter Kutan, dem Platzhalter von Erbakan, die Tugend-Partei (Fazilet) gegründet. Hatte die Refah 1995 noch 20,5% der Stimmen erhalten, erreichte die Fazilet 1998 nur noch 14,8%. Auf dem ersten Parteikongress der Fazilet Partei trat Abdullah Gül überraschend gegen den von Erbakan unterstützten Kandidaten Kutan für den Parteivorsitz an. Gül verlor ganz knapp die Wahl, deren Ergebnis von Erbakan-Anhängern angeblich manipuliert worden sein soll.
Diese Gegenkandidatur von Gül wurde von den Traditionalisten unter Erbakan als Verstoß gegen die guten Sitten und als Infragestellung von Erbakans Autorität aufgefasst. Sie warfen den innenparteilichen Kritikern vor, sie würden der Partei durch offene Kritik, Anpassung an den Zeitgeist und Verrat an den Prinzipien der islamischen Bewegung schaden. Die Reformisten dagegen warfen Erbakan vor, er habe als Regierungschef in der abgelösten Refahyol-Regierung den Susurluk-Skandal nicht aufgeklärt, die Konfrontation mit dem Militär gesucht, den Dialog mit der Gesellschaft vernachlässigt und nur islamische Themen aufgegriffen. Er habe mit dem Besuch in Lybien zu Beginn seiner Amtszeit die falschen außenpolitischen Akzente gesetzt und den Eindruck zugelassen, dass die Refah einen geheimen Plan besitze zur Veränderung des laizistischen Systems. Die Reformer um Gül – Erdogan war noch kein offizielles Parteimitglied – forderten eine Abkehr vom streng praktizierten Führerprinzip in der Partei zu mehr Pluralismus und Teamarbeit, die Betonung von Ideen und Prinzipien anstelle von Personen und die Abkehr von der islamistischen Ausrichtung der Partei.
Die ser Streit zwischen den beiden Parteiflügeln war nicht zu schlichten. Die Reformer um Erdogan und Gül waren innerhalb und außerhalb der Partei außerordentlich populär und angesehen. Es war daher nicht verwunderlich, dass erstmalig in der über 30-jährigen Geschichte des politischen Islam dieser sich in zwei Parteien spaltete, nämlich die Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei) unter Erbakan/Kutan und die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) unter Erdogan/Gül. Damit war der Bruch vollzogen, wobei die Saadet Partei bei den letzten Wahlen nur 2,5% erhielt und damit Erbakan und seine politische Richtung eine schwere Niederlage erlitt.
Die neue Partei unter Erdogan und Gül betonte von Anfang an, dass sie eine Mitte-Rechts-Partei und nicht in erster Linie eine islamische Partei sei. Sie versteht sich als „Volkspartei“, die alle Menschen, Schichten und Regionen der Türkei in ihren Reihen vereinigt. Sie betont die Notwendigkeit von Teamarbeit und Transparenz mit der Folge, dass die AKP als einzige Partei ihre Einnahmen und Ausgaben im Internet veröffentlicht. Die AKP beschreibt sich als Vertretung der unteren und mittleren Schichten der Gesellschaft, die außerhalb der großen Ballungsgebiete oder in den Gecekondus der Grosstädte leben. Sie mobilisiert die Ressentiments der ländlichen Bevölkerung gegen die zentralistische Verwaltung und deren Elite in der Hauptstadt Ankara.
Die AKP bekennt sich zu den tragenden Prinzipien der Verfassung und der Republik, einschließlich des Laizismus. Sie vermeidet jede Provokation gegenüber dem kemalistischen Establishment, das der AKP von Anfang an misstrauisch gegenüber stand. Die AKP und Erdogan befürworten den Laizismus, kritisieren aber dessen praktische Handhabung mit dem Vorwurf, der Laizismus werde von den Kemalisten „wie eine Religion“ interpretiert. Deshalb will die AKP möglichst im Konsens mit allen übrigen Gruppen der Gesellschaft die laizistische Praxis liberalisieren, wobei dies sicherlich keine vorrangige Aufgabe für sie ist. Die AKP betont stark ihren Willen, mit der Opposition und den Nichtregierungsorganisationen eng zusammenzuarbeiten.
Die früheren Parteien unter Erbakan haben das international arbeitende „imperialistische System“ für die wirtschaftlichen Rückschritte und Misserfolge der Türkei verantwortlich gemacht, das westliche Ausland als feindlich interpretiert und die Integration der Türkei in die EU abgelehnt. Erst in den letzten Jahren hat sich auch in dieser politischen Bewegung ein langsamer Meinungsumschwung abgezeichnet. Dieser ist klar und eindeutig von der AKP vollzogen worden, obwohl auch Erdogan früher ein Kritiker und Gegner der EU-Mitgliedschaft war. Der Meinungsumschwung ist darauf zurückzuführen, dass Erdogan offensichtlich erkannt hat, dass er die erforderlichen Reformen zur Stabilisierung und zum Ausbau von Demokratie und Rechtstaat ohne EU-Unterstützung nur schwer oder zu langsam durchsetzen könnte. Wesentliche Defizite, die von der EU gegenüber der Türkei angeprangert wurden, kritisierte auch Erdogan.
Während Erbakan die Globalisierung noch ablehnte und als Unterdrückungsinstrument des westlichen Kapitalismus gegenüber den Ländern der 3. Welt verstand, beurteilt die AKP die Globalisierung prinzipiell positiv und betont die Notwendigkeit, dass auch die Türkei sich an die internationalen Entwicklungen anpassen müsse. Deshalb sieht die AKP auch keine prinzipiellen Probleme bei einer Zusammenarbeit mit dem IMF und der Weltbank.
Das große Engagement der neuen türkischen Regierung zur Erreichung eines Termins für den Beginn der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen war daher schlüssig und glaubwürdig. Widerstand gegen die Reformen zur Aufnahme in die EU und gegen die türkische EU-Mitgliedschaft kommt eher von jenen Kreisen, die dem Ausland nach wie vor misstrauisch gegenüber stehen und ihre eigene Macht und ihre Privilegien gefährdet sehen.
Die Parteien unter Erbakan waren bis zur Refah Partisi sicher eher islamistische Parteien, zumal ihnen unterstellt werden kann, dass sie nicht alle ihre politischen Ziele offen legten. Eine islamisch-demokratische Partei dagegen respektiert die Freiheit und Autonomie des einzelnen und überlässt in Glaubensfragen dem Bürger die Entscheidung. Schon die Fazilet war erheblich weniger islamistisch als ihre Vorgänger-Parteien, und die AKP scheint endgültig Abschied genommen zu haben von islamistischen Zielen.
Ganz bewusst hat sich die AKP von der Saadet Partei abgegrenzt, in dem sie ihre innerdemokratische Struktur betont hat.
Noch im August hatte Erdogan erklärt: „Niemals wird sich in unserer Partei eine Führerdiktatur herausbilden“. Allerdings beschloss Anfang Februar die Parteiführung der AKP weitgehende Satzungsänderungen, die ihren eigenen Einfluss wesentlich stärkten und Zweifel an der innerparteilichen Demokratie der AKP aufkommen ließen.
So kann z.B. ein vom Vorsitzenden benanntes Vorstandmitglied künftig Parteimitgliedschaften aufheben. Die Wahl in Delegierten- und sonstige Parteiämter soll nur über Listen erfolgen, und die Vorsitzenden der Parteigliederungen haben künftig entscheidenden Einfluss auf die Auswahl ihrer Vorstandsmitglieder. Damit führt die AKP wieder Regularien ein, die auch bei den übrigen türkischen Parteien praktiziert werden, aber von AKP in der Vergangenheit kritisiert worden waren.
Tayyip Erdogan - ein neuer Politikertyp?
Tayyip Erdogan wurde 1954 im Istanbuler Stadtteil Kasimpasa (Arbeiterviertel) geboren. Um ein wenig Geld zu verdienen, arbeitete er als Straßenverkäufer in seinem Stadtteil. Mit 16 Jahren begann er seine Karriere als Fußballspieler mit dem Spitznamen „Imam Beckenbauer“. Mit 20 Jahren wurde er Berufsspieler in dem Fußballclub der Istanbuler Verkehrsbetriebe. Den angebotenen Wechsel in den von ihm verehrten Profiverein Fenerbahçe lehnte er ab, weil er auf seinen Backenbart verzichten sollte und sein Vater ihn zum Abschluss seines Studiums drängte. Er besuchte die Imam-Hatip-Schule (Predigerschule), wie dies auch seine vier Kinder getan haben. Sein Lehrer an der Grundschule hat ihn ebenso stark beeinflusst wie sein Vater, das enge Zusammenleben mit den Nachbarn in seinem Stadtteil und der islamische Religionsunterricht. Nach Abschluss der Predigerschule besuchte Erdogan die Marmara-Universität in Istanbul und schloss mit einem BA-Grad ab, um anschließend als Manager in verschiedenen privaten Firmen zu arbeiten. Er spricht arabisch und ein wenig englisch.
Vor Eintritt in die Universität hat Erdogan das Iskender Pasa-Seminar des Naksibandi-Scheyhs Kotku besucht. Er liebte es, Gedichte zu rezitieren und griff in seinen Reden gerne auf islamische Themen und Zitate zurück. Noch in seiner Wahlkampfrede in Diyarbakir im Jahre 1992 sprach er die Zuhörer mit „Meine lieben Brüder“ an und wiederholte den Slogan: „Einer für alle und alle für einen, für Allah“. In dieser Rede berief er sich auch auf verschiedene berühmte islamische Denker und Religionsphilosophen. Und im AKP-Programm endet der Grundsatzteil mit dem Satz: „Mit Allahs Hilfe wird mit uns alles besser werden.“
Bereits mit 15 Jahren begann Erdogan, politisch aktiv zu werden, zunächst in der erwähnten MNP, dann MSP und später in der Refah, in der er in der Jugendorganisation aufstieg. 1986 wurde er in das zentrale Exekutiv-Komitee dieser Partei gewählt. 1989 war Erdogan Kandidat seiner Partei für das Bürgermeisteramt im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Bei dieser Wahl verdreifachte er seinen Stimmenanteil in Vergleich zu seinem Vorgänger. 1994 war er Spitzenkandidat für das OB-Amt in Istanbul und wurde mit 25% der abgegebenen Stimmen zum Oberbürgermeister gewählt. Dabei kam ihm das türkische Wahlsystem zugute, wonach im ersten Wahlgang derjenige gewählt ist, der die meisten Wählerstimmen erhält. Da sich die Stimmen auf die miteinander konkurrierenden zwei konservativen und zwei linken Parteien mit ihren jeweiligen Kandidaten verteilten, erhielt Erdogan die Mehrheit.
Als Oberbürgermeister von Istanbul, einer Metropole mit ca. 12 Millionen Einwohnern, schuf er sehr schnell aus einer maroden, korrupten Stadtverwaltung eine leistungsfähige, kompetente, sachorientierte und weitgehend korruptionsfreie Verwaltung. Er legte von Anfang an größten Wert auf engen Kontakt zu seinen Bürgern und schuf daher für sie die Möglichkeit, Beschwerden und Anregungen per Telefon, durch E-Mail, dem „weißen Tisch“ mitzuteilen. Er stellte seine Mitarbeiter nach Fachkompetenz und nicht nach Glaubensintensität ein, investierte in moderne Techniken und praktizierte Teamarbeit.
Er hat in Istanbul das modernste Busticket der Türkei eingeführt, einen Chip, der in allen öffentlichen Verkehrsmitteln benutzt werden kann. Er hat für eine bessere Wasserversorgung und Müllentsorgung in den einzelnen Stadtteilen gesorgt, die vorher Anlass zu ständigen Klagen waren. Er hat in kreuzungsfreien Verkehr investiert und in Parkhäuser. Er hat aber auch zahllosen Bürgern zu einer Wohnung verholfen, indem er z.B. die Mietzahlungen genutzt hat für die Rückzahlung der erforderlichen Kredite. Wohnungs- oder Hauskauf ist in der Türkei ein noch immer ungelöstes finanzielles Problem, weil als Folge der hohen Inflation die Zinsen so hoch sind, dass kaum jemand einen Kredit zum Kauf einer Wohnung aufnehmen kann. Nach dem Vorbild des deutschen Bausparkassensystems will Erdogan jetzt im gesamten Land ein vergleichbares Modell anbieten.
Für den Bau der ersten Istanbuler Metro und für die Säuberung des völlig verschmutzten Goldenen Horns hat er einen Weltbankkredit aufgenommen. Die privaten Heizsysteme wurden von Braunkohle auf Gas umgestellt, wodurch sich die Luftqualität in Istanbul entscheidend verbesserte. Von 1994-1998 ließ Erdogan über 2 Mio. Quadratmeter neue Grünanlagen schaffen und 600.000 neue Bäume pflanzen. Die Beseitigung der chronischen Wasserknappheit in Istanbul wurde ihm möglich, weil er die Menge des zur Verfügung gestellten Wassers verdreifachte. Die Korruption in der Stadtverwaltung wurde drastisch reduziert, wenn auch nicht völlig beseitigt.
Gegen Erdogan persönlich eingeleitete Korruptionsverfahren haben bisher keinen der Vorwürfe bestätigt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass selbst Istanbuler Bürger, die anderen Parteien als der Erdogans zuneigen, seine Leistungen als Oberbürgermeister uneingeschränkt loben. Dies gilt auch die meisten Bürgermeister.
Obwohl Erdogan seine OB-Tätigkeit ausgesprochen pragmatisch, effizient und erfolgreich wahrgenommen hat, begegnet er unter Angehörigen des kemalistischen Establishments nach wie vor erheblichen Zweifeln, weil sie auf seine politischen Aussagen verweisen, die er während seiner aktiven Zeit als Repräsentant des politischen Islams gemacht hat. Dazu gehört sein Versuch, die Vergabe von Alkohollizenzen an Restaurants und Lokale in Istanbul drastisch einzuschränken, was er jedoch angesichts des Widerstandes der Betroffenen nur teilweise durchsetzen konnte. Auch sein Vorschlag, zur Vergabe von Alkohollizenzen eine Volksabstimmung durchzuführen, stieß auf starken Widerstand, so dass er diesen Vorstoß nicht wiederholt hat.
Die früher von ihm geforderte Schließung der Bordelle und der Versuch, eine für Jungen und Mädchen getrennte Sitzordnung in den Schulbussen durchzusetzen, zeigte ihn ebenfalls auch eher als Moralisten oder Islamisten und weniger als einen Politiker, der dem Bürger den notwendigen Freiraum für seine individuellen Entscheidungen lässt.
Die Forderung nach Überführung der Hagia Sofia von einem Museum in eine Moschee und die nach dem Bau einer großen Moschee am Taxim-Platz in Istanbul, der als Zentrum der republikanischen Tradition angesehen wird, wurde von kemalistischen Kreisen als besonders provokant empfunden. Auch die scharfe Kritik Erdogans in seinen früheren Reden an der NATO, den USA und an der EU sowie seine Aussage, dass Demokratie nicht ein Ziel, sondern lediglich ein Mittel sei, sind Aussagen, auf die sich Kritiker Erdogans gerne beziehen.
Erdogan selbst hat sich bis in den aktuellen Wahlkampf hinein als „schwarzen Türken“ bezeichnet, worunter die kleinbürgerlichen, ländlichen Türken verstanden werden. Er setzt sich damit eindeutig von den „weißen Türken“ ab, der gebildeten kemalistischen Elite, die bis dahin in Politik, Bürokratie, Militär und Kultur den Ton angab. Gerade dieses Image eines „schwarzen Türken“ ist ihm bei der Wahl zugute gekommen. Offensichtlich scheinen sehr viele Wähler dem gläubigen Muslim Erdogan mehr Korrektheit und Zuverlässigkeit zuzutrauen als allen Politikern der übrigen Parteien. Ihm glaubt man und an ihm schätz man, dass der Islam die moralische Grundlage seiner Politik ist, nicht mehr und nicht weniger.
Letztlich muss Erdogan aber in den nächsten fünf Jahren der Regierungszeit seiner Partei beweisen, dass er kein Islamist ist, sondern ein konservativer, islamisch- demokratischer Politiker, der die tragenden politischen Prinzipien der Türkei akzeptiert und verteidigt. Das durch das Wahlergebnis geschockte kemalistische Establishment wird mit Argus-Augen seine Politik überwachen und jeden Anlass gerne zur Ergreifung von Maßnahmen gegen ihn nutzen, falls er z. B. das laizistische Prinzip aufheben sollte.
Aber dies weiß auch Erdogan. Ein erstes deutliches Warnsignal hat Generalstabchef Hilmi Özkök der Regierung gegeben mit der öffentlichen Kritik an Ministerpräsident Abdullah Gül. Dieser hatte anlässlich der Entlassung einiger islamistischer Offiziere aus der Armee durch den Hohen Militärrat intern kritisiert, dass dessen Entscheidungen nicht gerichtlich überprüfbar seien. Hilmi Özkök hatte dies als Unterstützung der fundamentalistischen Kräfte interpretiert.
Die AKP als Regierungspartei
Die Regierungsbildung nach der Wahl am 3. November erfolgte zügig. Staatspräsident Sezer ernannte den stellvertretenden AKP-Vorsitzenden Abdullah Gül zum Ministerpräsidenten, da Tayyip Erdogan als Folge eines früheren Gerichtsurteils nicht Abgeordneter ist und damit auch nicht Ministerpräsident werden kann. Auch die Berufung der Minister erfolgte im Einvernehmen zwischen Gül und Sezer, wobei dieser offensichtlich bei der Berufung der politisch sensiblen Ministerposten verhinderte, dass konservative AKP-Politiker in solche Positionen rückten. Sowohl der Innenminister wie auch der Erziehungsminister und der Justizminister sind frühere ANAP-Politiker. Der Außenminister ist ein früherer Botschafter und der Verteidigungsminister war ein sehr angesehener hoher Beamter.
Erster Schwerpunkt der neuen Regierung war der Versuch, eine gute politische Ausgangsbasis für die Türkei im Hinblick auf den EU-Gipfel in Kopenhagen zu schaffen, auf dem über den Beginn der EU-Beitrittsverhandlung mit der Türkei entschieden werden sollte. Dazu machte Erdogan eine Rundreise durch alle wichtigen europäischen Hauptstädte und stellte die geplanten Reformmaßnahmen der Regierung vor.
Von der Regierung wurde parallel dazu ein umfangreiches Reformpaket zur Stärkung der Demokratie und des Rechtstaates ins Parlament eingebracht. Dazu gehören unter anderem: Erleichterungen für die Verfolgung von Folter, Abschaffung der Bewährungsstrafen und der Amnestie von verurteilten Folterern, Erschwerung des Verbots von Parteien, Erlaubnis für türkische Stiftungen, fremde Sprachen zu benutzen, (einschließlich kurdisch), Amnestie für Studentinnen, die wegen Kopftuchtragens von der Universität ausgeschlossen wurden, Einschränkung der Immunität von Beamten bei der Verfolgung von Straftaten, Erlaubnis für die Wiederaufnahme von Prozessen als Folge von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (Leyla Zana), Erlaubnis für kommunale Stiftungen, ohne Genehmigung des Innen- und Außenministeriums Immobilien zu erwerben.
Ein weiterer Schwerpunkt der künftigen Regierungsarbeit wird die Reform der Staatsverwaltung sein, die bisher immer noch absolut zentralistisch organisiert ist und den Städten, Gemeinden und Provinzen kaum eigenständige Handlungsmöglichkeiten oder Einnahmequellen zur Verfügung stellt. Die Dezentralisierung der Verwaltung wäre ein ganz entscheidender reformpolitischer Fortschritt, weil damit die unterschiedlichen Regionen sowie Städte und Gemeinden des Landes unabhängiger von der Zentralverwaltung in Ankara wären. Der bereits vorliegende Gesetzentwurf dazu wird noch vor der Sommerpause im Parlament verabschiedet.
Kurz nach der Wahl hat der Hohe Wahlrat die Wahl in der Provinz Siirt wegen Formfehlern für ungültig erklärt. Durch eine Verfassungsänderung sowie eine Änderung im Parteien- und Wahlgesetz hat die AKP die Möglichkeit geschaffen, dass im Februar/März eine Nachwahl in dieser Provinz stattfinden kann. Da damit gleichzeitig die Vorschriften beseitigt wurden, die Erdogan bisher an einer Parlamentskandidatur gehindert haben, besteht jetzt für ihn die Chance, bei dieser Nachwahl zum Abgeordneten und anschließend zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Abdullah Gül könnte dann zum Außenminister berufen werden.
Die Belebung der türkischen Wirtschaft wird für die neue Regierung vorrangig sein. Dazu sollen den kleinen und mittelständischen Unternehmen zinsgünstige Kredite angeboten werden, was in der Vergangenheit immer am Widerstand der Grossunternehmen gescheitert war. Die neue Regierung hat sich zwar für die Fortsetzung der engen Zusammenarbeit mit dem IWF ausgesprochen, aber in den bevorstehenden Verhandlungen will sie einige Veränderungen und Ergänzungen vornehmen. Insgesamt beurteilt die Wirtschaft die bisherige Regierung eher positiv. Die Verbraucherpreise sind im Monat November nur um 2,9% gestiegen, so dass zum Ende des Jahres mit einer Inflationsrate von ca. 30% gerechnet wird. Der Dollar- und Eurokurs ist in Relation zu der türkischen Lira gefallen. Die Wirtschaftsproduktion und der Export sind in den letzten Monaten des Jahres erheblich angestiegen.
Erdogan hatte in seinen Wahlkampfreden angekündigt, dass seine Regierung 15.000 Kilometer Landstraßen zweispurig bzw. vierspurig ausbauen werde, was auch Gül in seiner Regierungserklärung ankündigte. Die Finanzierung dieses gigantischen Bauprojekts soll über die Einnahmen aus einer beschleunigten Privatisierung erfolgen. Gül kündigte außerdem die Senkung von Steuern und Sozialabgaben sowie der Stromkosten und Zinsen an.
Im AKP-Parteiprogramm gibt es auch ein eigenes Kapitel zur Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs im Südosten des Landes, wo nach Abschaffung des Ausnahmezustandes in den letzten beiden Provinzen Diyarbakir und Sirnak nunmehr die Chance besteht, dass sich die Lage normalisiert. Allerdings ist das Problem der von der Regierung bezahlten „Dorfschützer“, die die Armee im Kampf gegen die PKK unterstützt hatten, noch ungelöst. Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass sich die allgemeine Aufbruchstimmung und die wirtschaftliche Erholung auch im Osten des Landes positiv auswirken. Ein Krieg gegen den Irak würde gerade in dieser Region zu Rückschlägen führen.
Während seiner Europarundreise hat Erdogan zur Verblüffung des türkischen Außenministeriums öffentlich festgestellt, dass die Frage der türkischen Beitrittsverhandlungen mit der EU, die Lösung des Zypern-Problems sowie die Europäische Verteidigungsinitiative als politisches Gesamtpaket gesehen werden und auch gemeinsam gelöst werden müssten. Die Türkei hat nunmehr für Ende 2004 von der EU den Beginn der Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt bekommen. Die Türkei hat ihre bisherige Blockade gegen die Europäische Verteidigungsinitiative aufgegeben. Beim Zypern-Problem ringt die neue Regierung noch mit den nationalistischen Kräften in der Beamtenschaft und im Militär sowie mit Denktas um eine einvernehmliche Lösung bis Ende Februar. Da sich das Militär auf die Seite von Denktas geschlagen hat, dürfte eine Lösung sehr schwer zu erreichen sein.
In der Irak-Frage hat sich die Regierung festgelegt, nur nach einer zweiten UN-Resolution einen Angriff der USA gegen den Nachbarn Irak zu unterstützen. Die Regierung hat nicht sofort alle amerikanischen Forderungen erfüllt, und PM Gül hat durch eine Konferenz mit den arabischen Nachbarstaaten und dem Iran versucht, die Chancen für eine friedliche Lösung des Konflikts auszuloten, allerdings ohne Erfolg.
94 % der türkischen Bevölkerung lehnen einen Krieg gegen das muslimische Nachbarland Irak ab, auch wenn niemand Saddam Hussein unterstützt. 78% wollen nicht, dass sich türkische Soldaten an dem Krieg beteiligen oder den Amerikanern die entsprechenden Basen und Häfen zur Verfügung gestellt werden. Das erklärt das Zögern der türkischen Regierung, die aber andererseits am 6. Februar erfolgreich die Vorlage im Parlament einbrachte, wonach die Modernisierung türkischer Häfen und Flugbasen durch Amerikaner für 3 Monate genehmigt wurde.
Nach dem Opferfest werden in der Woche ab 17.02. die notwendigen Beschlüsse im Parlament gefasst werden müssen, die den Einsatz der türkischen Armee auf fremdem Territorium und die vorübergehende Stationierung amerikanischer Truppen ( ca. 20 000 Mann) sowie deren Durchmarsch in den Nordirak genehmigen. Obwohl die oppositionelle CHP und die Bevölkerung diese Maßnahmen ablehnen und die AKP selbst in ihren eigenen Reihen Widerstand dagegen fährt, werden Regierung und Parlament die Amerikaner nicht vor den Kopf stoßen. Popularität und Unterstützung haben die AKP sowie Erdogan und Gül trotz all dieser Probleme bisher nicht verloren.
Schon jetzt ist absehbar, dass trotz aller Probleme und auch möglicher Rückschläge der Reformprozess in der Türkei von der AKP-Regierung beschleunigt vorangetrieben werden wird. Die europäischen Türkei-Gegner werden es künftig nicht mehr so leicht haben, ihre Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft zu begründen, denn die Türkei wird alles tun, um bis zum Jahresende die von der EU geforderten Reformen vor Beginn der Beitrittsverhandlungen im Parlament zu beschließen.