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Die Palästinensische Autonomiebehörde in tiefer Krise

Die palästinensische Autonomiebehörde befindet sich in einer tiefen Krise. Sie hat nicht nur die politische Kontrolle verloren, sondern auch ihre Fähigkeit zur Initiative. Die Folge: innen- und außenpolitisches Chaos.

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Konkurrierende Sicherheitsoffiziere entführen sich gegenseitig, Fatah-Aktivisten bekämpfen einander, Premier Qurei droht mit Rücktritt, Hunderte protestieren offen gegen den Führungsstil des Palästinenserpräsidenten Arafat. Sogar seine eigene Fatah-Organisation geht auf Distanz zu ihm. An den jüngsten Ereignissen lässt sich eine innere Anarchie ablesen, in der die Autonomiebehörde ihre Kernaufgaben schwerlich wahrnehmen kann. Der Kontrollverlust hat mancherorts einen „Staat im Staat“ entstehen lassen. Verstärkt wird dieser Prozess durch den internen Zerfall der Fatah-Bewegung, der sich u.a. in den Machtkämpfen zwischen der Nomenklatura Arafats und den Unterstützern Mohammed Dahlans im Gaza-Streifen widerspiegelt. Gelingt es der Autonomiebehörde nicht, die Krise unter Kontrolle zu bringen und eine Strategie zur politischen Befriedung zu entwickeln, ist ihr Überleben mittelfristig nicht mehr gesichert.

Arafats Behörde krankt an der Inkompetenz zur politischen Führung und der Unfähigkeit, ernsthaft Reformen durchzuführen. Dem Legislativrat fehlt es an Willen und Fähigkeit das Oberhaupt der Autonomiebehörde und dessen exekutive Akteure zur Rechenschaft zu ziehen. In den PA-Institutionen herrscht ein Zustand der Depression und der politischen Erstarrung, dessen Ursachen sowohl im Gefühl des Legitimitätsverlustes, als auch im fehlgeschlagenen Friedensprozess liegen.

Arafat ist es aufgrund Nichtkönnens oder Nichtwollens nicht gelungen durch die Erfüllung der in der Road Map festgelegten Verpflichtungen an einem seriösen Friedensprozess teilzunehmen. Dies hat dazu geführt, dass sowohl politische als auch sicherheitsbedingte Initiativen Israel und anderen außenstehenden Parteien überlassen blieben. Die Scharon-Regierung, die sich nun in unilateralen Initiativen gestärkt fühlt, wird den Rückzug aus Gaza im Alleingang ohne Koordination mit der Autonomiebehörde durchziehen, was zur Folge haben kann, dass andere potentielle Rivalen der Autonomiebehörde auf deren Kosten als Partner in die Verhandlungen mit Israel involviert werden. Dies wird die internen Machtkämpfe verstärken und den Zerfall der Autonomiebehörde vorantreiben.

Dieses Mal ist es nicht der Druck von Außen, der Arafat zur Handlung drängt, sondern es ist die Unzufriedenheit innerhalb der palästinensischen Bevölkerung und vor allem innerhalb Arafats eigener Fatah-Bewegung, die immer mehr um sich greift. Sie richtet sich gegen die weit verbreitete Korruption in der palästinensischen Führung, gegen die Vetternwirtschaft Arafats, gegen die fehlende Transparenz und gegen den Stillstand der palästinensischen Politik. Derzeit äußert sich die Enttäuschung über Arafats vermeintliche Reform noch in verträglichem Ausmaß. Ein organisierter Aufstand gegen Arafat und seine Behörde, eine Art Intifada gegen Korruption, ist allerdings nicht undenkbar, auch wenn es den Opponenten an organisierten Strukturen fehlt.

Jedoch scheint Arafat die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Denn der Bürgerkrieg in Gaza ist vorläufig abgesagt und Premier Achmad Qurei hat - nachdem Arafat ihm ernsthafte Reformen versprochen hat - zugesagt, nun doch noch im Amt zu bleiben.

Kernfrage ist jetzt, ob Arafat und seine Gefolgsleute den Vertrauensverlust im Innern und nach Außen wiederherstellen wollen und können, oder ob es Arafat wieder einmal - wie so häufig in der Geschichte - geschafft hat, sich vorläufig aus der Krise herauszumanövrieren.

Arafats Reformversprechungen

Premier Qurei und ein 15-köpfiges Komitee aus dem PLC konnten Arafat überreden, Konzessionen zu machen und sich auf die Forderungen einzulassen. Der Premier soll nun die Kompetenzen, die ihm das Grundgesetz zuspricht, auch erfüllen können. Laut Qurei ist es dem Präsidenten „dieses Mal ernst, den Worten werden Taten folgen“:

  • Arafat und Qurei verständigten sich auf die Wiederaufnahme des bereits 2002 vom PLC abgesegneten „Reformplans“
  • Arafat wird den palästinensischen Generalstaatsanwalt damit betrauen, Korruption auf höchster Ebene zu untersuchen
  • Arafat stimmte zu ein Dekret zu erlassen jedem durch das Spezialkomitee unter Mohammad Hourani vorgebrachten Korruptionsfall nachzugehen
  • Klare Kompetenzabgrenzungen für das Amt des Präsidenten und des Premierministers werden in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz geschaffen
  • Reform der Sicherheitsdienste:
    • Die Sicherheitsdienste werden zusammengelegt und ihre Befugnisse und Aufgaben im Einklang mit dem Grundgesetz gesetzlich geregelt
    • Konkret werden per Präsidentendekret zehn Sicherheitsdienste zu den folgenden drei Diensten zusammengelegt:
      • Nationaler Sicherheitsdienst
      • Allgemeiner Sicherheitsdienst
      • Nachrichtendienst
    • Arafat wird hierbei die Kontrolle über den Nachrichten- sowie den Nationalen Sicherheitsdienst behalten
    • Zum ersten Mal wird jedoch dem Kabinett Weisungsbefugnis gegenüber der Polizei und dem präventiven (Inlands-)Sicherheitsdienst zugesprochen
    • Qurei wird ermächtigt, diese Sicherheitsdienste über das Innenministerium zu reorganisieren
    • Die Amtszeit eines Sicherheitsdienstchefs wird auf max. vier Jahre begrenzt
    • Sämtlichen Angehörigen der Dienste werden politische Aussagen und öffentliche Einmischung untersagt
    • Der Nationale Sicherheitsrat, d ecurity Committees, welches die Dienste unter Vorsitz von Arafat überwachen soll, ist vorgesehen
Die vielbeschworene Reform des palästinensischen Sicherheitsapparats, zu der Arafat nun einen ersten Schritt getan hat, ist noch unvollkommen. Selbst wenn Ministerpräsident Qurei nicht nur in Theorie, sondern auch in der Praxis die Kontrolle über die Sicherheitskräfte bekommt bedeutet dies nicht, dass diese nicht weiterhin als Instrumente zur Sicherung der Macht einer Person oder einer Clique eingesetzt werden. Außerdem soll der Nationale Sicherheitsrat, dem Arafat vorsteht, die Sicherheitsdienste überwachen. Auch wenn der Premier meint, dass es diesmal ernst sei erwarten politische Beobachter in Palästina keine wesentlichen Veränderungen in den verkrusteten PA-Strukturen. Eines jedoch ist klar: Arafat wird immer unpopulärer.

Arafats Machtposition

Die Mehrheit des palästinensischen Volkes im Autonomiegebiet stützt zwar unverändert den PLO-Chef, jedoch halten 90 Prozent die Autonomiebehörde unter seiner Führung für korrupt. Es sind Sentimentalität, nationaler Stolz und seine Symbolfunktion für den palästinensischen Kampf, sicher aber auch schlicht der Mangel an Alternativen, die Arafat noch zu einem beliebten Politiker machen. Dass es niemanden gibt, der sich in den vergangenen Jahren profilieren konnte, ist Ergebnis der Strategie Arafats.

Auch wenn der Mythos Arafat in den Autonomiegebieten noch immer verfängt fragen sich junge Palästinenser, was ihnen Arafat innen- und außenpolitisch eigentlich gebracht hat - außer der blutigen Intifada, der völligen Isolierung, der Zerstörung der Wirtschaft und einer ausufernden Korruption. Da erwacht inmitten von Chaos und Gesetzlosigkeit plötzlich so etwas wie ein demokratisches Selbstbewusstsein. Nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Fatah-Organisation gehen Gruppen auf Distanz zu ihrem Anführer. Sie betonen zwar, dass Arafat noch immer als "Symbol des palästinensischen Kampfes" respektiert wird, prangern allerdings seinen politischen Führungsstil an. Öffentliche Kritik an Arafat ist kein Tabu mehr, bleibt aber dennoch gefährlich.

Der Angriff auf Nabeel Amr, Informationsminister unter der Abu Mazen Regierung, markiert die innere Zerstrittenheit in der Fatah. Amr sitzt für Arafats Fatah-Bewegung im Parlament und gehört zu der sogenannten Jungen Garde, die Arafats Führungsstil öffentlich kritisiert. Politische Beobachter glauben, dass die Tat aus dem Kreise der Arafat-Loyalisten heraus verübt wurde und als Botschaft auch an andere Opponenten gerichtet ist. Niemand geht davon aus, dass die Täter die Amr beschossen haben je gefasst werden. Bereits vor zwei Jahren wurde sein Haus beschossen. Die Täter konnten nie ermittelt werden.

Es ist ein bitterer Machtkampf der derzeit den Gazastreifen und die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah erschüttert. Ein Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen der Fatah-Bewegung Präsident Arafats. Ein Generationenkonflikt zwischen der alten Führung um Arafat, die nach dem Beginn des Osloer Friedensprozesses aus dem tunesischen Exil in die palästinensischen Gebiete gekommen ist, und jungen, aufstrebenden Politikern, die aus der ortsansässigen Bevölkerung selbst erwachsen sind. Es ist auch ein Kampf um Politikinhalte und -methoden: Reformen anstatt des Status Quo und eine politische Lösung anstatt der blutigen Intifada.

Einen enormen Auftrieb erhielt der Machtkampf mit dem Disengagementplan Scharons, wonach Israel seine Armee und seine Siedler aus dem Gazastreifen abziehen will. Es stellt sich nämlich die Frage, wer denn dann den übervölkerten Gaza-Streifen sichern und verwalten soll.

Um diese Frage geht es bei dem Machtkampf der derzeit in Gaza und Ramallah ausgefochten wird. Bislang war vor allem befürchtet worden, Arafat und seine Leute würden sich in Gaza nicht gegen die militanten Islamisten behaupten können. Jetzt fordern auf einmal frühere Weggefährten aus der von ihm geführten Fatah-Organisation den alternden Präsidenten heraus.

In dem politischen Chaos das aus der Isolation Arafats, der Führungslosigkeit der Hamas und dem Rückzugsplan Scharons resultiert will sich Mohammed Dahlan als Retter in der Not anbieten. Dahlan ist in der gegenwärtigen Krise im Hintergrund geblieben, doch viele Beobachter glauben, dass die Entführungen und Schiessereien der letzten Tage auf das Konto seiner Leute gehen. Er droht Arafat mit Großdemonstrationen, sollte dieser die zugesagten Reformen nicht umsetzen. Dahlan war Offizier in Arafats Sicherheitsapparat und Sicherheitsminister im Kabinett des ersten palästinensischen Ministerpräsidenten, Mahmud Abbas (Abu Mazen). In den letzten Wochen hat er die optimistische Botschaft verkündet, dass ein israelischer Rückzug den Palästinensern im Gazastreifen die Gelegenheit geben würde, ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen und damit für die Schaffung eines palästinensischen Staates zu werben.

Dahlan steht Qureis Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten Mahmud Abbas (Abu Mazen) nahe. Politische Beobachter sehen in Abu Mazen einen Ersatz für Arafat. Dieser ist allerdings noch zu zurückhaltend, um den Griff nach der Macht zu wagen. Zweifelsohne aber bemüht er sich - langsam und verdeckt - seinen Einfluss in der Autonomiebehörde zu vergrößern.

Reformorientierte Kreise versuchen sich langsam um den öffentlichkeitsscheuen Abu Mazen zu scharen. Er überzeugt politisch, ist allerdings für den palästinensischen Geschmack zu wenig populistisch. Entsprechend niedrig fällt seine Popularität in Umfragen aus.

Hoffnung erwecken die etwa 15 unabhängigen und Fatah-nahen Mitglieder des palästinensischen Legislativrats. Darunter sind u.a. Nabeel Amr, Mohammad Hourani, Azmi Shuabi, Hanan Ashrawi, Marwan Kneifani und die beiden Kabinettsmitglieder Qaddura Fares und Jamal Shobaki wie auch der ehemalige Parlamentspräsident Rafik Natsheh. Sie distanzieren sich nicht nur von Arafats Führungsstil, sondern auch von Dahlans Methoden und ergreifen immer mehr die Initiative, Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Es waren auch Personen aus dieser Gruppe die Arafat einen Forderungskatalog vorlegten, auf die nun der „Rais“ reagieren will. Sie erklären sich auch bereit, den ehemaligen palästinensischen Premierminister Abu Ala zu unterstützen, damit dieser Arafat offen entgegentreten kann. Maradonna - so nennen sie Arafat - ist für sie nicht mehr der Unverzichtbare, sondern vielmehr der Mann der alle Taktiken beherrscht um das Spiel des Machterhalts zu gewinnen.

Ausblick

Solange sie bloß mit der Umverteilung von Posten bekämpft wird, wird die gegenwärtige Krise wird weiterschwelen,. Entführungen und bewaffnete Auseinandersetzungen greifen inzwischen in die Städte des Westjordanlands über. Eine Auflösung der Autonomiebehörde birgt etliche Gefahren in sich: politische Anarchie und wirtschaftliches Chaos im Inneren, Verlust der Verhandlungsfähigkeit im Konflikt mit Israel und damit die Marginalisierung der Rolle der Palästinenser bei der Selbstbestimmung über ihre Zukunft.

Die Palästinensische Autonomiebehörde muss nach Wegen zur Erneuerung ihrer Legitimität suchen. Der einzige echte Ausweg aus der Krise der palästinensischen Institutionen bestünde deshalb darin, den Palästinensern die Gelegenheit zu geben, in freien Wahlen ihre politischen Vertreter neu zu bestimmen. Zweifelsohne würde Arafat als Präsident wiedergewählt werden. Aber ihm würde dann ein anderes Parlament gegenüberstehen - eines, das seine Macht besser balancieren kann. Geht man nach Meinungsumfragen würde Fatah 40 %, die unabhängigen Nationalisten und moderaten Islamisten 25 % und Hamas und Islami Jihad den Rest der Sitze erhalten. Damit würde die Legitimität der Palästinensischen Autonomiebehörde wiederhergestellt und sie könnte ihre Fähigkeit wiedererlangen, politisch zu führen und Risiken zu tragen. Das gegenwärtig herrschende Machtvakuum, das militante Gruppen zu füllen suchen, könnte überwunden werden. Arafat müsste sich mit einer Fatah anderer Qualität - vornehmlich jungen reformorientierten Mitgliedern - arrangieren und nach Bündnispartnern umsehen. Doch solange die israelische Besetzung anhält ist an freie Wahlen nicht zu denken und ein Ende der palästinensischen Krise nicht in Sicht.

„So unfähig die palästinensische Führung auch war und ist, kann Israel von Mitschuld an den gegenwärtigen Verhältnissen nicht freigesprochen werden“, schreibt Uzi Benziman in Haaretz. Während des Friedensprozesses in den neunziger Jahren hätte die israelische Politik den palästinensischen Spitzen in Arafats Umgebung bei der Etablierung ihrer wirtschaftlichen Monopole und der Konsolidierung ihrer Macht geholfen.

Gleichzeitig erlegte Israel der palästinensischen Bevölkerung umfassende Mobilitätsbeschränkungen auf; mit unzähligen Checkpoints und einem System von Passierscheinen behinderte Israel die wirtschaftliche Entwicklung. Und schließlich verdoppelte Israel die Zahl der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten - für die Palästinenser das sichtbarste Zeichen, dass der Friedensprozess nicht mit dem ersehnten Ziel der Staatsgründung enden würde.

Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst 2000 begann Israel mit der Zerschlagung der Palästinenserbehörde und der Zerstörung ihrer Infrastruktur - stets mit dem Hinweis darauf, dass man nur so den Terror wirksam bekämpfen könne. Für das sich immer weiter ausbreitende Machtvakuum ist Israel also zu einem erheblichen Teil mitverantwortlich.

Die gegenwärtige Krise benutzt der israelische Min isterpräsident Ariel Scharon auch dazu, seine Politik der unilateralen Initiativen zu stützen: Die jüngsten Ereignisse seien ein weiterer Beweis dafür, dass es auf der anderen Seite keinen Partner für Verhandlungen gebe. Es sei nicht möglich, in nächster Zukunft ein Abkommen zu erzielen. Deswegen müsse Israel unilaterale Maßnahmen ergreifen.

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