Länderberichte
Die Situation vor den Präsidentschaftswahlen
Für den 14. März 2004 waren für ganz Russland Präsidentschaftswahlen angesetzt worden. Dies sind die 4. Präsidentschaftswahlen seit dem Zerfall der Sowjetunion. Der Präsident wird in Russland für 4 Jahre gewählt. 1992 und 1996 gewann die Wahlen Boris Jelzin, im Jahr 2000 Vladimir Putin. Zu den Wahlen waren insgesamt 7 Kandidaten zugelassen worden.
Niemand zweifelte in den letzten Monaten vor der Wahl daran, dass der nächste Präsident Russlands wieder Vladimir Putin heißen wird. Da man sich aber so sicher war, dass er die Wahlen gewinnen würde, bestand das Risiko, dass die erforderliche Wahlbeteiligung von 50% nicht zustandekäme. Umfragen der Agentur für soziale Information (ASI) im Januar ergaben, dass in St. Petersburg gerade einmal 52% der Wahlberechtigten vorhatten, am 14. März zu den Wahlen zu gehen. Nach Angaben der Agentur ASI wollten im Januar 2004 in St. Petersburg 74,4% der Wähler für Putin stimmen. Gemäß Umfragen des Soziologischen Instituts der Akademie für Wissenschaften erhielte Putin in St. Petersburg hierbei von praktisch allen Parteien Unterstützung: 95% der Wähler von Jedinaja Rossija wollten ihn wählen, aber auch 75% der Wähler von SPS und 72% der Wähler von 'Jabloko. Nur die Anhänger der KPRF hielten sich bei Putin zurück.
Die russlandweiten Umfragen der Stiftung „Öffentliche Meinung“ ergaben für Ende Januar etwas bessere Werte: eine mögliche Wahlbeteiligung von 64%.
Infolge des Wahlmarathons insbesondere der letzten 2 Jahre sind mittlerweile sogar die 20-30% aktiven „Berufswähler“ in Russland wahlmüde geworden. In vielen Regionen wurden daher, um die Wahlbeteiligung maximal auszureizen und sehr oft zum Leidwesen der Betroffenen, auch andere Wahlen auf den 14. März festgelegt. So fanden z.B. in Archangelsk und Pskov Gouverneurs- oder Bürgermeisterwahlen, die eigentlich im September oder Dezember hätten stattfinden sollen, jetzt ebenfalls am 14. März statt.
In St. Petersburg wurden an diesem Tag zusätzlich zur Präsidentenwahl Kommunalwahlen in der Hälfte der 111 Kreisparlamente (untere Bezirksebene) durchgeführt, fanden im Wahlkreis Nr. 207 Nachwahlen eines Direktkandidaten zur Staatsduma statt. Außerdem wurden zwei neue Abgeordnete für die Gesetzgebende Versammlung, das Stadtparlament St. Petersburgs, gesucht. All dies sollte der Wähler an einem Tag entscheiden. Viele waren daher von Anfang an der Meinung, dass aufgrund der Fülle von Kandidaten zu sehr unterschiedlichen Gremien der Wähler den Überblick verliert, Zufallsentscheidungen trifft oder einfach das Kreuz in dem beliebten Feld „Gegen alle“ macht.
Die Präsidentschaftskandidaten
Die politischen Parteien mit einer Fraktion in der Staatsduma hatten das Recht, einen Kandidaten für das Präsidentenamt zu nominieren, ohne dafür die ansonsten erforderlichen 2 Millionen Unterschriften vorlegen zu müssen.
Die KPRF konnte ihren Kandidaten daher bereits sehr früh registrieren lassen: Nikolaj Charitonow, Abgeordneter der Staatsduma und Mitglied der Agrarpartei Russlands.
Der Vorsitzende der KPRF, Gennadi Sjuganow, hatte auf dem Parteitag der Kommunisten am 28. Dezember 2003 bewußt die Zustimmung für einen bekanntermaßen schwachen Kandidaten herbeigeführt, damit das Risiko auf Beanspruchung einer Führungsrolle in der KPRF durch einen mehr oder weniger erfolgreichen Kandidaten auch in Zukunft gering bleibt.
Die Wahlplattform von Nikolaj Charitonow lautete: „Für die heimatliche Erde und den Volkswillen“. Er versprach, „die inländische Produktion zu entwickeln, die Armut zu bekämpfen, die Plünderung des Dorfes zu stoppen, Kriminalität und Terrorismus zu unterdrücken, die Verteidigungsfähigkeit Russlands zu stärken“.
Prominente Kandidatin für das Präsidentenamt und einzige Frau war Irina Chakamada, langjährige stellvertretende Dumapräsidentin und bis zum Parteitag der SPS (Union der Rechten Kräfte) am 25. Januar Co-Vorsitzende der Partei. Nach der verheerenden Wahlschlappe der SPS bei den Staatsdumawahlen suchte die Partei wochenlang nach Gründen und Erklärungen. Neben der Neuorientierung der Partei weg von einem elitärem Club, der generellen Frage nach einer Zustimmung oder Opposition zur Politik Putins und der Annahme einer gelenkten Fälschung der Wahlergebnisse wurde immer wieder auch der Ruf nach neuen Führungspersönlichkeiten in der Partei laut. Als Konsequenz aus der Wahlniederlage trat daher die gesamte Führungsriege der Union der Rechten Kräfte einschließlich Irina Chakamada und Boris Nemzow zurück, eine Neubesetzung der Ämter hatte vor den Präsidentschaftswahlen nicht mehr stattgefunden.
In dem Zusammenhang kam es auch zu der bizarren Entscheidung auf dem Parteitag, Irina Chakamada im Wahlkampf nicht als Kandidatin der Partei zu unterstützen, sondern den Wählern der SPS selbst zu überlassen, ob diese ihre Stimme dem amtierenden Präsidenten Vladimir Putin oder der ehemaligen Vorsitzenden geben möchten.
Bereits Mitte Dezember 2003 hatte Jabloko verkündet, dass ihre Partei die Präsidentenwahlen als politische Farce ansehe und daher grundsätzlich boykottieren, d.h. auch keinen Kandidaten aufstellen werde. In diesem Zusammenhang bekräftigte ihr Vorsitzender Grigorij Jawliniski nochmals im Januar, dass die Partei ihren Wählern daher auch nicht empfehlen könne und wolle, für die liberale Politikerin Irina Chakamada zu stimmen.
Irina Chakamada positionierte sich im Wahlkampf eindeutig als Alternative für demokratische Wähler und als Führungspersönlichkeit einer neuen demokratischen Bewegung auf dem Weg nach Europa unter Beibehaltung der nationalen Besonderheiten Russlands. Sie verstand ihre Kandidatur als einzige Möglichkeit der demokratischen Opposition, nicht in Vergessenheit zu geraten und bewies mit ihrer im demokratischen Lager stark angefeindeten Kandidatur sehr viel Mut.
Die LDPR hatte ihren Kandidaten ebenfalls noch Anfang Jahuar 2004 registrieren lassen: Oleg Malyschkin, seit 1991 Mitglied der LDPR und seit Dezember 2003 Abgeordneter der Staatsduma. Von Beruf Leibwächter des Vorsitzenden der LDPR. Während des Wahlkampfes zur Staatsduma war Malyschkin durch wüste Schlägereien im Umfeld von Veranstaltungen aufgefallen. Den Wahlkampf für Malyschkin leitete Vladimir Schirinowski persönlich und plante natürlich – sollte Malyschkin Präsident werden, seinen Posten zu übernehmen. Falls er auf diese Weise an die Macht käme, wollte er ein „autoritäres Regime persönlicher Macht“ einführen, um „mit harten Methoden alle inneren und äußeren Probleme des Landes zu lösen“. Nach seinen Vorstellungen sollte die Todesstrafe wieder eingeführt, der Föderationsrat aufgelöst und die Anzahl der Staatsdumaabgeordneten auf 300 reduziert werden.
Jedinaja Rossija hat als Partei und Fraktion keinen Kandidaten nominiert, sondern klargemacht, dass sie die Kandidatur des parteilosen Vladimir Putin unterstützen werde. Putin selber mußte also den Weg der Unterschriftensammlung gehen. Und schon Mitte Januar hieß es, er habe in ganz Russland an die 7 Millionen Unterschriften zusammenbekommen, am 2. Februar wurde er von der Zentralen Wahlkommission als unabhäniger Kandidat für das Präsidentenamt offiziell zugelasssen.
Anfang Februar wurde Sergej Mironow, als Vorsitzender des Föderationsrates drittwichtigster Mann in Russland und Vorsitzender der Russischen Partei des Lebens (RPZh), als Kandidat registriert. Warum er kandidierte, war schwer nachzuvollziehen, es hieß, „er wolle vor den nächsten Präsidentschaftswahlen 2008 etwas üben“. Seine Chancen wurden von Anfang an als sehr gering eingeschätzt, ohne eigenes Wahlprogramm demonstrierte er im Wahlkampf seine Zustimmung zum Kandidaten Putin.
Probleme mit der Nominierung eines Kandidaten gab es beim Wahlblock Rodina (Heimat). Als Folge blockinterner Differenzen und darausfolgender Querelen wurde kein Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen über die Partei- und Fraktionsliste zugelassen. Sergej Glasjew, Fraktionsvorsitzender von Rodina in der Staatsduma, entschied sich daraufhin für die Unterschriftenaktion und wurde noch am 8. Februar zusammen mit Irina Chakamada und Iwan Rybkin offiziell zur Wahl zugelassen.
Auch Iwan Rybkin war als klarer Opponent zum politischen Kurs von Vladimir Putin angetreten. Rybkin wurde für die Präsidentenwahl von der an sich unbedeutenden Beresowski-Partei „Liberale Partei Russlands“ aufgestellt und verhehlte in dem Zusammenhang auch nicht, dass seine Kandidatur im Wahlkampf von dem Ex-Oligarchen finanziert wurde. Wenige Tage vor der offiziellen Registrierung durch die Zentrale Wahlkommission verschwand er plötzlich spurlos und gab somit wilden Spekulationen über seinen Verbleib und die Gründe hierfür Raum. So wie er verschwand, tauchte er auch bald wieder auf mit der Begründung, er sei bei Freunden in Kiew gewesen. Niemanden hatte der Präsidentschaftskandidat darüber informiert, auch seine eigene Ehefrau nicht. Kurz nach einer Pressekonferenz in Moskau mit sehr widersprüchlichen Aussagen reiste er weiter zu seinem Geldgeber nach London. Von dort hieß es, er wolle den Wahlkampf über in London bleiben und mit seinen Wählern über das Fernsehen kommunizieren.
Wahlkampf 2004
Für die Zeit vom 12. Februar bis zum 12. März war die eigentliche offizielle Wahlkampfperiode angesetzt worden, im staatlichen Fernsehen erhielten die beteiligten Kandiaten und ihre Parteien kostenlose Sendezeit sowie die Möglichkeit zu Debatten mit den Gegenkandidaten. Putin hatte auf die Teilnahme an den Debatten von Anfang an verzichtet.
In den letzten vier Wochen vor dem 14. Maerz erlebten wir einen eher langweiligen Präsidentschaftswahlkampf mit verhaltenem Engagement der Beteiligten. In der Presse wurde höchstens am Rande der sonstigen Berichterstattung ein wenig vom Wahlkampf berichtet. Irina Chakamada beschäftigte sich öffentlichkeitswirksam damit, gegen Vladimir Putin zu klagen, da der offensichtlich seine Amtsstellung ausnutzte, um für sich Wahlkampf zu betreiben. Auf der anderen Seite gab es zwei Wochen vor der Wahl noch nicht einmal einen Wahlkampfstab der Kandidatin Chakamada in der liberalen Hochburg St. Petersburg, kein einziges Flugblatt oder Plakat von ihr oder den anderen Kandidaten war in der Stadt zu sehen. Erkennbar aktiv wurde Frau Chakamada erst in den letzten 10 Tagen vor den Wahlen, so richtete sie z.B. eine stark frequentierte Hotline für Wähler ein und zog gegen Sergej Mironow wegen Verleumndung vor Gericht.
Iwan Rybkin blieb den ganzen Wahlkampf über in London und bekam von der Zentralen Wahlkommission nicht das Recht zugesprochen, bei den Fernsehdebatten zugeschaltet zu werden. Am 6. März zog er, ohne seinen Geldgeber Boris Beresowksi vorher zu informieren, seine Kandidatur für das Präsidentenamt zurück.
Die Fernsehdebatten wirkten insgesamt aufgesetzt und belanglos, da ohnehin klar war, wer als Sieger aus den Wahlen hervorgehen würde. Sehr spärlich gingen die Kandidaten mit ihrer vordergründig kostenlosen Sendezeit um, da bei einem Wahlergebnis unter 2% die Kandidaten die Kosten der Fernsehgesellschaft zurückerstatten müssen.
Sergej Glasjew mußte mit seinem Wahlblock Rodina einen Rückschlag nach dem anderen einstecken und die Führung der neugegründeten Partei „Rodina“ seinem Widersacher Dmitri Rogosin überlassen. Am 4. März mußte er nach einer Abstimmung dann auch noch seinen Fraktionsvorsitz in der Staatsduma an Dmitri Rogosin abtreten. Der Wähler wurde zunehmend über die Person Glasjew verunsichert.
Aber auch den Wahlkampfmanagern des Kandidaten Putin gingen zwei Wochen vor den Wahlen zunehmend die Ideen aus. So mußte sich der aufmerksame Fernsehzuschauer an mehreren Tagen während der Hauptnachrichten die Geschichte von der Aufzucht der Labrador-Welpen in der Putin-Familie anhören, die – wie bekannt – am Tag der Staatsdumawahlen das Licht der Welt erblickt hatten. Auch der U-Boot-Ausflug des Präsidenten gab nicht viel her, da er mit zwei Raketen-Fehlzündungen eher unrühmlich endete.
Erst der Paukenschlag mit der Entlassung der Regierung Kasjanow und der Ernennung einer neuen Regierung am 9. März unter der Leitung von Michail Fradkov hatte spürbare Bewegung in die Vorwahlzeit gebracht.