Das schwedische Modell - Vertrauen in den Staat
Das schwedische Modell des Wohlfahrtsstaates prägte seit den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Begriff „Volksheim“ die Gesellschaft, es erreichte seinen Höhepunkt in der staatlichen Daseinsvorsorge der 70-er Jahre. Von der Mehrheit der Bevölkerung werden staatliche Autoritäten bis heute nicht in Frage gestellt, das Vertrauen in die Institutionen ist generell sehr hoch. Es ist selbstverständlich, dass Mann und Frau in Vollzeit arbeiten und jeder individuell ohne Berücksichtigung der familiären Situation hohe Steuern zahlt. Denn der öffentliche Sektor sorgt für eine meist tadellos funktionierende Infrastruktur, ein kostenloses umfangreiches Betreuungs-, Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die Versorgung mit günstigem Wohnraum auf Berechtigungsschein.
Freiheit in Verantwortung
Das Vertrauen der Menschen in die öffentlichen Institutionen und die allumfassende Daseinsvorsorge ist offensichtlich stärker als in anderen Ländern Europas. So zumindest beschreiben es in diesen Wochen Historiker und Gesellschaftswissenschaftler wie Lars Trädgårdh. Und dieses Vertrauen ist beidseitig, denn auch der Staat hat Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein der Bürger.
Zumindest ist dies heute einer der Gründe dafür, dass auch in Zeiten einer schweren Krise die Regierung keine Vorschriften erteilt, sondern lediglich Empfehlungen ausgesprochen werden. ”Freiheit in Verantwortung” (frihet under ansvar) wäre der klassische Begriff für dieses schwedische Zusammenspiel aus freier Lebensart und Pflichtgefühl.
Experten als Wortführer - die Zustimmung zur Regierung steigt
Auch die lange Tradition von staatlichen Expertisen (Statens offentliga utredningar) als Basis für die Arbeit von Parlament und öffentlichen Institutionen spielt beim Umgang mit der Krise eine wichtige Rolle. Denn die Wortführer in der Krise sind die Experten, nicht die Politiker.
Der sozialdemokratische Regierungschef Stefan Lövfen und seine Minister lassen sich von Experten wie Anders Tegnell, dem Chef-Epidemiologen der Volksgesundheitsbehörde, beraten und treffen aufgrund deren Empfehlungen ihre politischen Entscheidungen. Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung in Schweden mit diesem Vorgehen einverstanden ist, die rot-grüne Regierung gewinnt sogar nach einer längeren Phase sinkender Umfragewerte wieder an Zustimmung. Die oppositionellen “Moderaten” und Christdemokraten unterstützen die Maßnahmen der Regierung ebenfalls, den populistischen “Schwedendemokraten” fehlt derzeit die Angriffsfläche, sie fallen in den Umfragen deutlich zurück.
Wir haben es in Schweden somit nicht mit einer zuvorderst politischen Reaktion auf die Krise zu tun. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Dänemarks hatte dagegen bereits am 13. März die politische Entscheidung getroffen, rigorose Einschränkungen des öffentlichen Lebens und – gegen die Empfehlung der Gesundheitsbehörde – die Schließung der Grenze zu Schweden vorzunehmen.
Schrittweise Einführung von Einschränkungen des öffentlichen Lebens
Tatsache ist auf jeden Fall, dass sich Schweden erst mit Verzögerung auf die Krise einstellt. Vielleicht sollte man dem Land einfach zugutehalten, dass es seit 200 Jahren keinen Krieg und keine Phasen des Notstands mehr erlebt hat und die Bevölkerung es daher nicht gewohnt ist, schnell in den Krisenmodus umzuschalten?
Die Empfehlungen der Experten in Schweden, denen die Regierung gefolgt ist, sind somit schrittweise in Kraft getreten. Heute, am 6. April, gilt, dass jeder, der sich auch nur ein wenig krank fühlt, zuhause bleiben soll. Auf nicht notwendige Reisen innerhalb Schwedens soll verzichtet, nicht notwendige Reisen ins Ausland sollen bis zum 15. Juni unterlassen werden. Homeoffice soll, wenn möglich, genutzt werden und wird mittlerweile breit angewandt. Besuche in Altersheimen sind verboten. Die Betreiber der wichtigsten Skiorte haben seit diesem Montag ihren Betrieb auf eigene Initiative eingestellt, so dass Reisen insbesondere zu Ostern dorthin nicht mehr möglich sind. Versammlungen von über 50 Personen sind generell seit letzter Woche nicht mehr gestattet. Menschen älter als 70 und Risikogruppen sollen soziale Kontakte meiden, auch beim Einkaufen. Spaziergänge sind zwar für diese Altersgruppe erlaubt, allerdings ist generell auf einen Abstand von zwei Metern zu achten.
Schulen und Kindergärten bleiben geöffnet
Schweden ist bisher nicht dazu übergegangen, Kindergärten oder allgemeinbildende Schulen zu schließen. Auch hier verlässt man sich darauf, dass Kinder, die krank sind, zuhause bleiben. Nur die gymnasialen Oberstufen ab der 10. Klasse und Universitäten sind geschlossen, das Studium erfolgt online. Die schwedischen Behörden waren seit Beginn der Krise davon überzeugt, dass die Schließung von Kindergärten und Schulen für eine Million betroffener Kinder mehr Probleme schafft als dass sie eine konkrete Hilfe im Kampf gegen das Virus ist. Die Eltern der Kinder müssten ansonsten zuhause bleiben und fehlten in strategisch wichtigen Bereichen, soziale Probleme wären die Folge. Die Gesundheitsbehörde bezieht sich bei dieser Entscheidung auch auf Angaben der WHO zu den Faktoren der Krise in China.
Alle Geschäfte, Cafés und Restaurants sind noch geöffnet, auch wenn sie nun deutlich seltener frequentiert werden. Konzerthäuser, Museen, Theater und Kinos sind schrittweise geschlossen worden, Gottesdienste finden noch statt. Eine Ausgangssperre wurde bisher zu keinem Zeitpunkt angeordnet.
Die Gesundheitsbehörde hat am Wochenende nochmals darauf hingewiesen, die erforderliche soziale Distanz auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln einzuhalten.
Kritik von den Nachbarn
Vor dem Hintergrund drastischer Maßnahmen in anderen Ländern sieht sich Schweden immer wieder mit Kritik konfrontiert. Finnland, das seit letzter Woche die Region um die Hauptstadt Helsinki abgeriegelt hat, schließt an diesem Wochenende die Grenze zu Schweden. Dort wurden die Notstandsmaßnahmen bis zum 13. Mai verlängert.
Dabei ist zu betonen, dass es nie die Strategie Schwedens – wie möglicherweise zu Beginn in Großbritannien – war, eine “Herdenimmunität”, also eine natürliche Immunität durch breite Infektion der Bevölkerung, aufzubauen. Man hat sich immer bemüht, verantwortungsvoll gegenüber der schwedischen Bevölkerung und innerhalb der Möglichkeiten des Gesundheitssystems zu handeln, gleichzeitig aber die Wirtschaft politisch nicht zum Erliegen kommen zu lassen, so die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.
Soziale und wirtschaftliche Hilfen
Die Medien berichteten in den vergangenen Wochen vorrangig vom Ausbau der Kapazitäten in den Krankenhäusern, der Schaffung zusätzlicher Feldlazarette in Messehallen sowie den Belastungen des medizinischen Personals.
Sozialleistungen wurden ausgebaut. Arbeitnehmer benötigen jetzt kein ärztliches Attest mehr ab dem ersten Tag ihrer Erkrankung, was den Druck von den Kliniken genommen hat. Das Krankengeld wurde erhöht und wird nun vom ersten Tag gezahlt, um das wirtschaftliche Risiko einer Erkrankung zu mildern. Die Hilfen bei Arbeitslosigkeit wurden sehr erweitert. Diese Maßnahmen sind auf sehr positive Resonanz in der Bevölkerung gestoßen.
Wirtschaftlich hat die Krise bereits jetzt in Schweden enorme Auswirkungen. Die Anzahl der Konkurse im Hotel-, Restaurant-, und Transportsektor im März hat sich im Vergleich zum selben Zeitraum im letzten Jahr fast verdoppelt. Die Unterbrechung vieler Lieferketten und die Schließung von Grenzen hat die exportabhängige Wirtschaft schwer getroffen. Der Autohersteller Volvo wie auch viele andere Unternehmen haben sehr früh ihre Produktion einstellen oder auf Kurzarbeit umstellen müssen.
Die Regierung und die schwedische Zentralbank Riksbanken haben bereits ein umfangreiches Rettungs- und Krisenpaket aufgelegt. Alle Maßnahmen zusammen werden einen Umfang von ungefähr 28% des BIP ausmachen, die Staatsschuld Schwedens wird nach der jetzigen Krisenhilfe und der prognostizierten Konjunkturflaute bis Ende 2020 voraussichtlich 40% des BIP betragen.
Aussicht
Schweden ist bisher einen vergleichsweise eigenen Weg gegangen. Die Gründe dafür liegen, wie beschrieben, zum einen in dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen dem Staat und jedem Einzelnen in der Gesellschaft herrscht, zum anderen aber auch im traditionell wirtschaftsliberalen Denken und dem Festhalten an naturgegebener Freiheit.
Seit Ende der letzten Woche ist allerdings auch hier zu bemerken, dass über drastischere Maßnahmen nachgedacht wird. So wollte die Regierung erreichen, mehr Vollmachten in der Krise zu erhalten, ohne immer die Genehmigung durch das Parlament einholen zu müssen. Diesem Ansinnen wurde durch ein Votum der Oppositionsparteien aber nicht stattgegeben.
Der Ministerpräsident stimmt in Interviews die Bevölkerung darauf ein, dass man mit dieser Krise noch Monate wird leben müssen. Selbst König Carl XVI Gustaf hat sich bereits zweimal in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung zu Wort gemeldet – ein sehr ungewöhnlicher Vorgang. Er forderte am Sonntag die Menschen auf, über Ostern nicht zu reisen. Die persönliche Wahl, die man heute treffe, werde noch lange nachwirken.
Die Zahl der Toten steigt weiter und liegt mittlerweile pro Kopf der Bevölkerung über den Zahlen in Finnland, Dänemark und Norwegen.
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