Georgien – erfolgreich im Kampf gegen die Pandemie
Georgien ist bisher gut durch die Corona-Krise gekommen. Im Vergleich zu anderen Ländern nicht nur in der Region, sondern auch weltweit, blieb Georgien von exorbitanten Infektionszahlen verschont. Von den insgesamt 738 Corona-Fällen (Stand: 28. Mai) konnten 573 geheilt werden, lediglich 12 Menschen starben bisher am Virus. Das ist zweifellos auch ein Erfolg der konsequenten Maßnahmen der Regierung und aller damit befassten Behörden. Auch in Georgien war die Krise bisher die „Stunde der Exekutive“. Insbesondere Premierminister Giorgi Gakharia gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als souveräner Krisenmanager. Von wenigen Ausnahmen abgesehen respektierte auch die Opposition die von der Regierung angewiesenen Restriktionen und generell das Regierungshandeln. Es gab kaum nennenswerte politische Diskussionen, die hätten vermuten lassen, dass die Corona-Krise instrumentalisiert würde. Die Opposition verhielt sich staatstragend und versuchte nicht, die Situation parteipolitisch auszunutzen. Vor Kurzem nun verkündete der Premierminister zeitnahe und umfangreiche „Lockerungen“ der Restriktionen im öffentlichen Leben im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Giorgi Gakharia ist in Georgien derzeit der Politiker der Stunde!
Das ist umso bemerkenswerter, weil gerade Gakharia seit den wochenlangen Unruhen und Demonstrationen in der Hauptstadt Tbilisi im Sommer 2019 einer der am meisten kritisierten Politiker des Landes war. Damals hatte er noch im Amt des Innenministers das brutale und auch nach Einschätzung internationaler Beobachter überharte Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten zu verantworten. Deshalb forderte die Opposition einmütig den Rücktritt des Innenministers. Stattdessen stieg Gakharia sogar zum Premierminister auf und ist damit zu einem der wichtigsten Akteure der georgischen Politik geworden.
Die Rückkehr der Politik
Man kann davon ausgehen, dass mit den Lockerungen im Kontext der Pandemie auch die innenpolitischen Auseinandersetzungen wieder an Fahrt aufnehmen. Dies soll hier zum Anlass genommen werden, die wesentlichen Konfliktfelder dieser Auseinandersetzungen zu analysieren, denn allmählich aber sicher richtet sich der Fokus auf den Herbst des laufenden Jahres. In Georgien sollen mutmaßlich im Oktober Parlamentswahlen abgehalten werden. Der Termin wurde bisher nicht dementiert. Spekulationen darüber, dass die von der Partei „Georgian Dream“ (im Folgenden: GD) geführte Regierung die Corona-Krise ausnutzen könnte und versucht, die Wahlen ins nächste Jahr zu verschieben, um sich in der Auseinandersetzung mit der Opposition „Luft“ zu verschaffen, haben sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestätigt. Sollte dies so bleiben, ist auch im Hinblick auf den Wahlkampf mit einem heißen Sommer in Georgien zu rechnen.
Nach den heftigen Auseinandersetzungen seit Sommer 2019 kommt diesen Wahlen eine besondere Bedeutung zu, wenn man bedenkt, dass Georgien einerseits bis vor einigen Jahren in Sachen Demokratieentwicklung im Rahmen der Länder der Östlichen Partnerschaft als vorbildlich galt. Andererseits hatte diese positive Einschätzung seit Beginn der zweiten Legislaturperiode im Jahr 2016, in der GD die Regierung stellt, erhebliche Einschränkungen erfahren. Die Entwicklung der Demokratie stagniert seit einiger Zeit in Georgien, so die Einschätzung vieler internationaler Beobachter. Insbesondere bestehen starke Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz und es stellt sich immer mehr die Frage, welche Rolle das Parlament spielt, weniger de iure, als vielmehr de facto. Letzteres hängt insbesondere auch mit der Rolle des bekannten georgischen Oligarchen Bidzina Ivanishvili zusammen. Für die Opposition steht fest, dass er das Parlament, in dem von insgesamt 150 Abgeordneten 115 seiner Partei (GD) angehören, fest in seiner Hand hat. Nach deren Wahrnehmung fungiert das Parlament schon längere Zeit eigentlich im besten Falle als verlängerter Arm des Oligarchen bzw. als eine Art scheindemokratisches Feigenblatt. Die Opposition misstraut den Abläufen im Parlament und scheint diesem seit geraumer Zeit nicht mehr als Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen zu akzeptieren.
Georgiens Demokratie zwischen parlamentarischer Lähmung und außerparlamentarischem Aktivismus
Das zeigte sich ganz deutlich im Bestreben der beiden wichtigsten Oppositionsparteien „United National Movement“ (im Folgenden: UNM) und „European Georgia – Movement for Liberty“ (im Folgenden: UG), im Sog der Proteste gegen die Regierung seit Juni 2019 außerparlamentarische Gespräche mit der Regierung zu führen, um ein neues Wahlgesetz bereits für die anstehenden Parlamentswahlen im Herbst 2020 in Kraft treten zu lassen.
Nicht nur bei den beiden großen Oppositionsparteien, sondern auch in einer breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung hat sich der Fokus seit längerem fast ausschließlich auf Ivanishvili gerichtet und nicht auf das Parlament. Ganz deutlich zeigte sich das im Herbst 2019. Kurz zuvor hatte der Oligarch, der selbst kein Parlamentsmitglied, sondern „nur“ Vorsitzender der Regierungspartei GD ist, in Reaktion auf die Massendemonstrationen im Sommer 2019 verkündet bzw. „versprochen“ (sic!), entsprechend der o.g. Forderung der Opposition ein neues Wahlgesetz bereits für die anstehende Parlamentswahl im Herbst 2020 zu installieren. Es war erstaunlich, wie wenig darüber diskutiert wurde, mit welcher Legitimität Ivanishvili so etwas überhaupt „versprechen“ konnte. Nach der georgischen Verfassung kann ein neues Wahlgesetz nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen werden. Ursprünglich war eine Änderung des Wahlgesetzes erst für die Legislaturperiode ab 2024 vorgesehen.
Bei den geforderten Änderungen des Wahlgesetzes geht es prinzipiell darum, das derzeit geltende sogenannte „gemischte“ System durch ein rein proportionales abzulösen. Der größere Teil der Parlamentsmandate wird bis jetzt über das Majoritätsprinzip erlangt, die restlichen über ein proportionales. Dieses System würde die Regierungspartei übermäßig bevorteilen. Die Opposition verlangte den sofortigen Übergang zu einem rein nach proportionalem System gewählten Parlament.
Nachdem das Parlament am 14. November 2019 mit der Mehrheit der GD-Abgeordneten sich gegen eine Wahlgesetzänderung aussprach und mithin dafür sorgte, das „Versprechen“ des Oligarchen ad absurdum zu führen, kulminierte die innenpolitische Krise erneut und führte zu weiteren Massendemonstrationen. Der Vorwurf an den Oligarchen lautete, er habe sein „Versprechen“ nicht gehalten… Faktisch verweigerte daraufhin die Opposition jegliche Arbeit im Parlament und forderte außerparlamentarische Verhandlungen unter internationaler Vermittlung. Im Grunde genommen war gerade dadurch eine höchst problematische Situation entstanden. Ein formell im Parlament auf demokratische Weise herbeigeführter Beschluss, nämlich das Wahlgesetz nicht zu ändern, wurde von der Opposition nicht akzeptiert und diese forderte jetzt, eine derart wichtige Entscheidung wie die über die Änderung des Wahlgesetzes, außerparlamentarisch herbeizuführen.
Das Misstrauen der Opposition gegenüber den Verhältnissen im Parlament ging so weit, dass sie sich sogar weigerte, derartige Verhandlungen unter Vermittlung internationaler Diplomaten im Gebäude des Parlaments zu führen. Die Verhandlungen fanden unter Vermittlung wichtiger internationaler Diplomaten in den Geschäftsräumen einer kleinen Oppositionspartei, der „Labour Party“, statt. Maßgeblich vermittelten die Botschaften der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der EU zwischen Regierung und Opposition. Darüber hinaus genoss vor allem der Botschafter der Bundesrepublik Deutschlands großes Vertrauen als Vermittler für beide Seiten.
Verschärfung der innenpolitischen Krise vorerst gestoppt
Natürlich ist es zu begrüßen, dass am 8. März 2020 nach langen und zähen Verhandlungen endlich ein Kompromiss erzielt werden konnte. Bezüglich des Wahlmodus bedeutet dieser Kompromiss, dass bereits mit der kommenden Parlamentswahl im Oktober 2020 der weitaus überwiegende Teil der Mandate, nämlich 120, über ein proportionales System gewählt werden und die „restlichen“ 30 über das Majoritätsprinzip. Nach Aussagen der führenden Oppositionspolitiker sei damit ein für sie zufriedenstellender Kompromiss beschlossen worden. Es gibt noch einige weitere Neuerungen, beispielsweise dass eine Partei bereits mit einem Stimmenanteil von einem Prozent ins Parlament einzieht. Welche Auswirkungen diese drastische Herabsenkung der Hürde auf die Parteienlandschaft haben wird, bleibt abzuwarten. Es wurden bereits einige Befürchtungen laut, wonach dabei die Gefahr besteht, dass sich eine große Anzahl von Klein- und Kleinstparteien etabliert und den Weg ins Parlament findet. Dass solche Kleinstparteien viel einfacher in fragile Koalitionen zu „locken“ sind, stellt ein realistisches Risiko sein.
Eine wichtige Neuerung im Rahmen dieses am 8. März beschlossenen Wahlmodus‘ ist es, dass eine Partei mit weniger als 40 Prozent der Gesamtstimmen nicht mehr in der Lage ist, gleichwohl eine alleinige Parlamentsmehrheit zu erlangen.
Trotz dieser Bedenken kann festgehalten werden, dass sich die Chancen für die Oppositionsparteien durch diesen Wahlmodus deutlich erhöht haben. In Wahlkreisen, in denen Kandidaten auch nur knapp hinter dem absoluten Wahlsieger blieben, waren bisher im hohen Maße gewissermaßen „verlorene“ Stimmen. Die Kandidaten der Oppositionsparteien können nun auch in Wahlkreisen, in denen der Vertreter der Regierungspartei vorn liegt, gleichwohl über das proportionale System ins Parlament einziehen. In dieser Perspektive heißt das, es lohnt sich auch unter schwierigen Mehrheitsverhältnissen, Kandidaten der vermeintlich schwächeren Oppositionsparteien zu wählen. Das dürfte auch eine der wichtigsten Botschaften im bevorstehenden Wahlkampf werden.
Mit diesen Regelungen scheint die Regierungspartei GD, die durch die Massenproteste in der zweiten Hälfte des Jahres 2019 stark unter Druck geriet und zahlreiche Parteiaustritte von zum Teil prominenten Politikern verzeichnen musste, der Opposition einen großen Schritt entgegen gekommen zu sein. Die Wahlen im Oktober dürften spannend werden gerade auch aufgrund des größeren Anteils von Kandidaten, die gewissermaßen ohne Amtsbonus über die proportionalen Auszählungen größere Chancen haben, ein Parlamentsmandat zu erreichen.
„Politische Gefangene“ und „unabhängige Justiz“
Zu Beginn der Verhandlungen über einen neuen Wahlmodus war zunächst nicht davon die Rede, bei der Gelegenheit auch andere, für die Opposition wichtige Themen mit zu erörtern. Aber offenkundig sahen die Vertreter der Opposition in der Konstellation, dass Gespräche unter Vermittlung bzw. „Aufsicht“ internationaler Diplomaten geführt wurden, eine günstige Gelegenheit, auch das Problem der „politischen Gefangenen“ zur Sprache zu bringen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Interpretation „politische Gefangene“ sehr komplex ist. Der Verfasser dieses Berichts will mit dieser Diktion verdeutlichen, dass die betreffenden Personen formell und offiziell wegen Straftatsdelikten verurteilt wurden, weshalb die Regierungsseite die Apostrophierung „politisch“ ablehnt. Gleichwohl kann kaum Zweifel daran bestehen, dass die zeitlichen Umstände der Inhaftierungen und Verurteilungen durchaus auch politisch motiviert gewesen sein könnten.
Es handelt sich um den ehemaligen Bürgermeister von Tbilisi Gigi Ugulava, der offiziell wegen Unterschlagung von öffentlichen Geldern in Höhe von 48 Mio Lari (ca. 15 Mio Euro) zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Ein zweiter Fall ist der ehemalige Verteidigungsminister Irakli Okruashvili, der wegen seines Agierens während der Proteste im Sommer 2019 zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war. Drittens geht es um Giorgi Rurua, den Gründer des betont oppositionsfreundlichen TV-Senders „Mtavari Arkhi“, dem unberechtigtes Tragen einer Schusswaffe zum Vorwurf gemacht wurde.
Die Vertreter der Opposition betrachteten die Verhandlungen, die ursprünglich nur für einen neuen Wahlmodus anberaumt waren, nunmehr gewissermaßen im Packet. Sie forderten die Freilassung dieser drei „politischen Gefangenen“. Unabhängig davon, dass die internationalen Vermittler dieser Gespräche und weitere Vertreter des Auslands die Verhandlungen auch über dieses Problem begrüßten, ist auch diese Konstellation äußerst problematisch, denn über eine Freilassung oder Amnestie sollten eigentlich nur die Justizorgane bzw. die Staatspräsidentin entscheiden. Dieses Problem schien Vertretern der Regierungsseite durchaus bewusst zu sein. Interne Informationen besagen, dass sich die Staatspräsidentin aus diesen Verhandlungen heraushalten wollte. Letztendlich begnadigte sie Ugulava und Okruashvili, ein Akt, der ihr formell als Präsidentin allein zusteht. Nennt man das einen „Königsweg“?
Rurua, bleibt weiterhin in Haft, obwohl die Opposition dessen bedingungslose Freilassung fordert. Von der Regierung gibt es noch keine weiteren Auskünfte dazu. Ob es auch daran liegen könnte, dass dieser einflussreiche, pro oppositionelle Medienprofi für den bevorstehenden Wahlkampf eine besondere Gefahr für die Regierungspartei wäre, kann nur spekuliert werden.
Eine Verschärfung der innenpolitischen Krise, letztendlich ausgelöst durch die Ereignisse im Sommer 2019, ist vorerst abgewendet. So gesehen könnten die erzielten Kompromisse vom 8. März 2020 ein gutes Omen für einen korrekten Wahlablauf im Herbst sein. Mit Blick auf die Entwicklung der Demokratie in Georgien bleiben jedoch viele Bedenken auch und gerade bei der Frage, wie diese Kompromisse zustande gekommen sind. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Tendenz, wichtige politische Entscheidungen nur noch außerhalb des Parlaments zu treffen, nicht verstetigt.