Länderberichte
Anfang Dezember kam es bei den schwersten Unruhen seit der Loslösung von Indonesien im Sommer 1999 in der Hauptstadt Dili zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die mehrere Tote und zahlreiche, z.T. schwer Verletzte forderten. Einher damit gingen Plünderungen von Geschäften sowie Brandstiftung, der u.a. auch die Residenz des Ministerpräsidenten zum Opfer fiel. Während die Regierung in offiziellen Stellungnahme pro-indonesischen Milizen die Schuld an den Unruhen zuschob, erscheint es insbesondere ausländischen Beobachtern naheliegender, dass wachsende Unzufriedenheit über ungelöste soziale und ökonomische Probleme unter den zahlreichen, extrem verarmten Ost-Timoresen der Auslöser gewesen sein dürfte.
Die Vorfälle sind ebenso ein tragischer Beleg dafür, dass die ost-timoresische Regierung zentrale Aufsichts-, Planungs- und Lenkungsaufgaben einer Exekutive entweder noch gar nicht oder bei weitem nicht zufriedenstellend erfüllen kann. Es darf durchaus bezweifelt werden, ob die nach Anzahl und Ausrüstung bescheidenen landeseigenen Polizeitruppen ohne die Unterstützung der noch immer in Ost-Timor stationierten UN-Friedenstruppen die Lage unter Kontrolle bekommen hätten.
Nachdem am Nachmittag des 4. Dezember eine Ausgangssperre verhängt wurde, beruhigte die Lage sich wieder. Zuvor mussten u.a. ausländische Mitarbeiter von Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit Zuflucht und Schutz in Kasernen suchen. Gleichwohl gab es keine Anzeichen dafür, dass ausschließlich bestimmte Personengruppen das Ziel der gewalttätigen Demonstranten gewesen waren.
Ihren Ausgang nahmen die Unruhen zunächst im ost-timoresischen Parlament. Dort fand sich eine am Morgen des 4. Dezember eine Gruppe Studenten ein, die aufgrund der Verhaftung eines Kommilitonen am Vortag eine Aussprache mit den Abgeordneten verlangten. Als diese zunächst nicht zustande kam, geriet die Situation rasch außer Kontrolle und mündete in tätliche Angriffe auf Parlamentsmitglieder und durch Gewalttätigkeit der Demonstranten verursachte, erhebliche Sachschäden im Parlament und den benachbarten Regierungsgebäuden. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit den herbeigerufenen Sicherheitskräften kam es zum Schusswaffeneinsatz, wobei ein erster Demonstrant getötet wurde. Unbestätigten Meldungen zufolge sollen auch einzelne Demonstranten Waffen abgefeuert haben. Ein sichtlich betroffen wirkender Präsident, Alexandre „Xanana“ Gusmao, begab sich inmitten der Gewalt auf die Straße, um die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Viel Erfolg war ihm nicht beschieden: Zwei Tote und 25 Verletzte zählt die vorläufige Bilanz dieser Ereignisse.
Jetzt hat die Ursachenerforschung begonnen. Die Regierung hatte sogleich einen Verdacht parat: „Kräfte mit verborgenen Motiven“, die die Studentendemonstrationen für ihre Zwecke ausnutzen wollten, vermutete der Präsident. Sein Innenminister, Rogerio Lobato, wurde konkreter und nannte eine ultranationalistische Gruppierung, die schon in der Vergangenheit mit Unruhen in Verbindung gebracht wurde und als pro-indonesisch gilt.
Bei näherer Beobachtung erscheint dies aber nicht einleuchtend. Als wahrscheinlichere Hauptursachen sind hingegen die chronisch hohe Arbeitslosigkeit und Armut zu vermuten. Zur Erinnerung: Ost-Timor steht vor aus heutiger Sicht unglaublich schwierigen Problemen. 41 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als 0,55 US-Dollar pro Tag. Nur fünf Prozent haben gegenwärtig ein regelmäßiges Einkommen. Knapp 41 Prozent der Ost-Timoresen sind jünger als 17 Jahre und damit volkswirtschaftlich unproduktiv. Infrastruktur und Bildungssystem sind in schlechtem Zustand, die finanzielle Überlebensfähigkeit des Zwergstaates steht auf tönernen Füßen.
Eine Detailanalyse bringt darüber hinaus eine Reihe weiterer, äußerst kritischer Faktoren für die langfristige politische, soziale und wirtschaftliche Stabilität zum Vorschein. Viele, die sich über längere Zeit hinweg mit Ost-Timor beschäftigt haben, sehen die Verantwortung dafür bei der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen (UNTAET), die zwischen 1999 und 2002 im Amt war. Ihre Versäumnisse liegen demnach gleich auf mehreren Ebenen:
- Die Transitionsphase unter UN-Aufsicht wurde nicht genutzt, um bestehende Konflikte um den rechtmäßigen Besitz von Landflächen und Immobilien abschließend zu klären. Rechtssicherheit in bezug auf diese Fragen wäre jedoch eine wichtige Grundvoraussetzung für den Zufluss ausländischer Investitionen nach der Unabhängigkeit gewesen.
- Fehler werden der UNTAET auch mit Blick auf die künftige Rolle der bewaffneten Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung (Falintil) vorgeworfen. Ihre geplante Eingliederung in die neuen ost-timoresischen Verteidigungsstreitkräfte – forciert nicht zuletzt durch drohende Meuterei in den Falintil-Reihen – erfolgt nach Ansicht von Kritikern mehr aufgrund persönlicher Loyalitäten anstelle präziser und transparenter Kriterien.
- Während der UNTAET-Periode wurden keinerlei Anstrengungen unternommen, um die Grundlagen eines funktionierenden Rechtssystems für die Zeit nach der Unabhängigkeit zu schaffen. Aufgrund dessen blieben zahlreiche Straftaten seit 1999 ungesühnt.
- Parallel dazu kommt die angestrebte Versöhnung nicht recht voran. Die Anfang 2002 ebenfalls unter Aufsicht und mit viel moralischen Vorschußlorbeeren seitens prominenter Menschenrechtsvertreter (darunter die UN-Hochkommissarin Mary Robinson und der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu) eingesetzte „nationale Wahrheitsfindungs- und Versöhnungskommission“, deren Mandat zunächst auf zweieinhalb Jahre befristet ist, hat bisher nicht viel zustande gebracht, obwohl es ihr weder an inhaltlicher noch materieller Unterstützung von internationaler Seite fehlen dürfte. Ihre Aufgabe ist es u.a., mögliche individuelle Verfehlungen von Rückkehrern unter ost-timoresischen Flüchtlingen in Zusammenhang mit den Referendumsunruhen 1999 zu ermitteln, wobei es unterschiedliche Verfahrensweisen für sogenannte leichtere Kriminalität (Plünderung, Brandstiftung, Körperverletzung u.ä.) einerseits und darüber hinausgehende schwere Verbrechen andererseits gibt.
Weniger den Defiziten der UN-Übergangsverwaltung als denen des indonesischen Rechtssystems ist es anzulasten, dass die Aufarbeitung schwerer, von indonesischer Seite (Militär und der von diesem unterstützten Milizen) begangener Menschenrechtsverletzungen im Zuge der ost-timoresischen Loslösung 1999 rechtsstaatlich fragwürdig verläuft. Von 18 zur Verhandlung anstehenden Gerichtsverfahren gegen mutmaßliche Täter sind bisher acht abgeschlossen, wobei es aber nur in zwei Fällen zur Verurteilung von drei bzw. 10 Jahren Haft kam. Bezeichnenderweise waren die Angeklagten in diesen Verfahren Zivilisten, während sämtliche Beschuldigten in den anderen sechs Verfahren Angehörige von Polizei und Militär waren bzw. sind und allesamt mit Freisprüchen davon kamen. Schon spricht die indonesische Presse von dem Verdacht, dass es hinter den Kulissen von Militär, Polizei und Justiz Verabredungen gebe, die Zivilisten unter der Angeklagten zu Sündenböcken zu machen.
- Jetzt kommt es auch wieder zu deutlicherer Kritik an den Grundzügen der ost-timoresischen Verfassung. In ihrer Präambel werden explizit die Rolle der „Revolutionären Front für ein unabhängiges Ost-Timor“ (Fretilin) und der Falintil bei der Erlangung der Unabhängigkeit gewürdigt, um nicht zu sagen glorifiziert. Viele Stimmen halten die Charta deswegen für ein Dokument, das voll und ganz den Fretilin-Wünschen entsprechend gestaltet wurde, nicht zuletzt, weil deren Anhänger die Verfassunggebende Versammlung dominierten, ohne dass die UNTAET etwas für eine ausgewogenere Zusammensetzung getan und z.B. Vertreter mehrerer anderer Parteien, religiöser Gruppen oder Minderheiten dorthin entsandt hätte. Vor dem Hintergrund der jüngsten Unruhen erscheint die Verfassung manchen daher weniger demokratisch legitimiert als sie es hätte sein können.
- In diesem Zusammenhang wird ebenso bemängelt, dass die Verfassunggebende Versammlung nach der Unabhängigkeit sich automatisch in ein Parlament umwandeln konnte, ohne dass in absehbarer Zeit danach Parlamentsneuwahlen vorgesehen gewesen wären. Einher mit diesem so empfundenen Defizit geht eine legislative Unproduktivität – scharfe Kritiker nennen es auch Paralyse – der Kammer. Viele ihrer Mitglieder zeichnen sich weder durch disziplinierte noch zielführende Arbeitsweise aus, weshalb es trotz einer klaren Fretilin-Mandatsmehrheit in den letzten sechs Monaten nicht zu substantieller, relevanter Gesetzgebung gekommen ist.
Zu den politischen und sozialen Gefahren für die langfristige Stabilität gesellen sich nun auch unerwartete ökonomische Risikofaktoren: Der ursprünglich zum Jahresende geplante Abschluss eines bilateralen Abkommens zwischen Ost-Timor und Australien zur Erschließung zweier in den maritimen Hoheitsbereichen beider Länder gelegener Erdgasfelder verzögert sich überraschend. Strittig ist die Aufteilung der Einnahmen eines der Felder, dass teilweise in australischen Gewässern liegt.
Jetzt wird nicht vor Februar 2003 mit der Ratifizierung des Abkommens gerechnet, da sich die Regierung in Canberra gegen die ost-timoresischen Wünsche sperrt, eine separate Ratifizierung der unstrittigen Vertragsteile ablehnt und vorsorglich angekündigt hat, sich auch nicht einem Urteil des Internationalen Gerichtshofes für die Festlegung von Seegrenzen zu unterwerfen, sollte Ost-Timor dort seine Ansprüche auf das zweite Feld geltend machen. Jede weitere Verzögerung der Ratifizierung jedoch gefährdet die zeitplangerechte Erschließung dieser Energieressourcen und somit auch den Zustrom der von Ost-Timor dringend benötigten Erlöse aus ihrem Verkauf. Ursprünglich hatte man in Dili mit Einnahmen von 3,5 Milliarden US-Dollar über 20 Jahre hinweg allein aus einem der beiden Felder gerechnet und sogar mit noch höheren Summen aus dem zweiten, jetzt umstrittenen Feld.
Wie dies gegebenenfalls durch andere wirtschaftliche Tätigkeiten ausgeglichen werden könnte, bleibt schleierhaft. Einen Strohhalm der Hoffnung sehen Optimisten in dem Potential des Landes als Kaffeeexporteur. Gegenwärtig beträgt die Jahresproduktion Ost-Timors etwa 5.000 Tonnen, die sich aber nach Ansicht ausländischer Experten verdreifachen ließe, wenn nur erst die dazu erforderlichen industriellen Reformen verwirklicht würden. Im Moment sind die Verarbeitungskosten für den Rohstoff im Land selbst noch höher als im benachbarten Indonesien. Aber auch niedrige Weltmarktpreise für Kaffee, ein in weiten Teilen erneuerungsbedürftiger Plantagenbestand sowie mangelndes Engagement der Kaffeebauern stehen einer höheren Produktivität bisher noch im Wege.
Wenn Politik also schon an Substanz- und Erfolgsmangel leidet, wäre zumindest eine teilweise Kompensation durch das Charisma wichtiger politischer und gesellschaftlicher Akteure nötig, um trotz aller Probleme das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit langfristig zu stärken und zu sichern. Aber auch hier hat Ost-Timor mit dem Amtsverzicht seines hoch angesehenen Bischofs von Dili, Friedensnobelpreisträger Carlos Filipe Ximenes Belo, einen Rückschlag erlitten. Der Oberhirte tritt offiziell aus gesundheitlichen Gründen zurück, und wer ihm in den vergangenen Monaten persönlich begegnet ist, konnte die Anzeichen äußerst schwerer physischer und emotionaler Belastung dieses Mannes erkennen, der als Leitfigur des Widerstands gegen die indonesische Besatzung weltweit bekannt wurde, der aber während der Referendumsunruhen 1999 auch Opfer schwerer Gewalt geworden war und darunter litt.
Allerdings wollen Gerüchte nicht verstummen, dass Belo mindestens ebenso verärgert gewesen sei über Pläne des Vatikans zur Neugliederung der ost-timoresischen Diözesen, in die man ihn nicht einbezogen habe. Dessen ungeachtet war der Bischof in der Vergangenheit auch ein Symbol für den Freiheitswillen und ein internationaler Sympathieträger seines Volkes. Wer diese Rolle künftig übernehmen wird, bleibt unklar, und möglicherweise wird sich nur aufgrund dieser Personalie allein der bisher nicht unbeträchtliche politische Einfluss der katholischen Kirche in dem Kleinstaat (auch sie wird in der Verfassungspräambel gewürdigt) vermindern.
Aus dem Dreigestirn von Präsident Gusmao, seinem Außenminister, dem zweiten Friedensnobelpreisträger des Landes, José Ramos Horta, und Bischof Belo bleibt für die Zukunft nurmehr ein Duo übrig, über dessen politische und persönliche Gemeinsamkeiten man ebenso viel weiß wie über die Gegensätze, die beide Männer trennen. Der Ministerpräsident Mari Alkatiri ist der internationalen Öffentlichkeit bisher weitgehend unbekannt geblieben und wird von daher aus heutiger Sicht wie bisher mehr nach innen wirken.
Die nächste außenpolitische Herausforderung besteht in der Verstärkung des insbesondere von Gusmao betriebenen Beitritts des jungen Landes zum südostasiatischen Staatenverband ASEAN. Aber auch hier läuft nicht alles glatt, denn beim jüngsten ASEAN-Gipfel in Phnom Penh erhielt Ost-Timor keine Einladung des Gastgebers, als Beobachter teilzunehmen. Kambodschas Premierminister Hun Sen verübelt es Gusmao nach Presseberichten als Bruch diplomatischer Regeln, dass dieser im Februar 2002 bei den kambodschanischen Kommunalwahlen als Wahlbeobachter für internationale Nichtregierungsorganisationen teilnahm, obwohl er sich nur wenige Wochen später zum Präsidenten seines Landes wählen ließ. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, ob der Khmer-Staat nach Myanmar bereits das zweite von zehn ASEAN-Mitgliedern werden wird, das sich dem von der Regierung in Dili dringend benötigten Projekt zur außenpolitischen Konsolidierung mehr oder weniger offen entgegenstellt.
Ost-Timor befindet sich in einer schwierigen Lernphase. Die zur politischen Stabilität unerlässlich Institutionsbildung hat nicht einmal begonnen, die Machtbalance zwischen Legislative und Exekutive funktioniert ebenfalls noch nicht zufriedenstellend. Dies sind keine unerwarteten, aber auch keine unlösbaren Probleme für einen jungen Staat.
Die Prioritäten der Regierung in 2003 müssen sich dauerhaft auf wirtschaftliche Belebung, die Schaffung sozialer und technischer Infrastruktur sowie auf politische Bildung konzentrieren. Nur so kann vermieden werden, dass Ost-Timor zu einem weiteren „failed state“ der Dritten Welt wird. In den Abgrund, an dessen Ende dieses Schicksal geschrieben steht, hat das Land in den Dezember-Unruhen schon einmal probeweise geschaut.