Länderberichte
Vorgeschichte
Seit Ausbruch der sogenannten Al Aksa Intifada Ende September 2000 wurde der Primat der Politik durch den Primat der Gewalt abgelöst. Mehr als 3000 Todesopfer sind seither zu beklagen, ein Vielfaches an Verletzten und wohl mehr als 10,000 dauerhaft behinderte und körperlich geschädigte Menschen. Im Durchschnitt verloren seit über zweieinhalb Jahren jeden Tag vier Menschen ihr Leben. Einzelschicksale spielen für die Öffentlichkeit fast keine Rolle mehr. Recht haben und Recht behalten scheinen wichtiger zu sein.
Ursachen für den festgefahrenen Friedensprozess
Der Streit beginnt bereits bei der Analyse der Ursachen und bei der Benennung der Schuldigen. Während dies bei den unmittelbar Betroffenen in Nahost vielleicht noch verständlich erscheint – welche Streitpartei in einem Krieg ist zur Objektivität schon fähig –, verwirrt die mangelnde Fähigkeit zur Objektivität bei den weitab lebenden Europäern schon. In einer äußert emotionalen Debatte – auch in Europa – überlagert oft die Parteilichkeit für eine der beiden Seiten die Sorgfalt, den Ursachen auf den Grund zu gehen.
Tatsachen sind:
- PLO-Präsident Yassir Arafat hat die Chance und die Verpflichtung des Oslovertrages, in der Palästinensischen Autonomie eine Zivilgesellschaft aufzubauen, nicht genutzt bzw. nicht erfüllt. Nach dem von ihm maßgeblich mitverantworteten Scheitern von Camp David II hat er sich und sein PLO-Organisationen (Fatah, Tamsin, Al Aksa-Brigaden) den radikalen und extremistischen Organisationen (Hamas, Dschihad, Volksfront) zugeschlagen. Er glaubte nach dem einseitigen Rückzug Israels aus dem Südlibanon durch Gewalt mehr als durch Verhandlungen erreichen zu können. Der provozierende Besuch des damaligen Oppositionsführers Sharon auf dem Tempelberg war für Arafat ein willkommener Anlass – aber nicht der Grund – für den Start zur 2. Intifada.
- Die harte Antwort der israelischen Regierung und des Militärs ließ nicht auf sich warten. Zunächst wurden ausgemachte „Terroristen“ getötet und sogenannte „Terroristennester“ zerstört, schließlich wurde bei zunehmender terroristischer Gewalt die Struktur des Machtapparates von Arafat angegriffen und zerstört sowie fast das gesamte Autonomiegebiet – mit Ausnahme von Jericho – wieder besetzt. Inzwischen ist auch Israel zum sogenannten Präventivkampf übergegangen.
- Israel befördert weiterhin den Siedlungsbau in der Westbank, beansprucht palästinensisches Land für Straßenbau und für den Sicherheitszaun. Dies wird von palästinensischer Seite - verständlicherweise als Abkehr von der Zustimmung zu einem palästinensischen Staat etwa in den Grenzen von 1967 - ja als blanke Aggression gegeißelt. Der Bombenterror gegen die israelische Zivilbevölkerung wird demzufolge als legitimer Freiheitskampf gegen eine israelische Aggression legitimiert. „Nicht wir, die anderen sind schuld“.
- Arafat, der lange Zeit als Nicht-Verhinderer des Terrorismus ausgemacht worden war, gilt längst als dessen Förderer und wurde demzufolge von den USA und Israel als Verhandlungspartner für eine neue Friedensordnung eliminiert. Die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung (je nach Umfrage: plus/minus 75%) unterstützt den Bombenterror auch gegen die israelische Zivilbevölkerung im Kernland Israel. Was noch schwerer wiegt, Hamas, Dschihad und Volksfront lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sie keinen Verhandlungsfrieden mit Israel wollen, dass sie kein Palästina neben Israel, sondern ein Palästina an Stelle von Israel errichten, bzw. herbeibomben wollen. Deshalb wurden alle zarten Ansätze, alle Hoffnungen auf dem Weg zu neuen Friedensverhandlungen auch immer wieder durch neue Bombenanschläge sabotiert.
- Die These von der „Gewaltspirale“, die sich gegenseitig aufschaukelt, ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist, dass Gewalt keine Probleme löst, dass Gewalt neue Gewalt durch die jeweils andere Seite provoziert. Richtig ist aber auch, dass jede noch so kleine Friedensinitiative, die das Licht der Öffentlichkeit erblickte, neue Gewalt durch die Radikalen auf palästinensischer Seite in Gang setzte. Auch reagieren die Israelis nicht nur auf Terroranschläge, sie agieren längst auch präventiv.
Abu Mazen, Ariel Sharon und die Road Map
Abu Mazen, langjähriger Weggefährte Arafats, dem in der Vergangenheit ebenfalls Korruption zur Last gelegt wurde, unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von Arafat: Er weiß genau, dass Israel durch Bombenterror nicht zerstört und ein palästinensischer Staat nicht herbeigebombt werden kann. Nach seiner persönlichen und in dieser Sache voll glaubwürdigen Auffassung kann es in Nahost keine Sieger und Verlierer geben. In seinen Worten: Entweder gewinnen beide – Israelis und Palästinenser – oder es verlieren beide. Mit dieser klaren Haltung ist eine sachliche Basis – und sein Wille! – zu einer Verhandlungslösung gegeben.
Seine Hauptdilemma: Er genießt bisher kein hohes Ansehen in der palästinensischen Gesellschaft. Arafat ist mit Abstand immer noch der populärste palästinensische Politiker, allerdings mit sinkenden Zustimmungsraten. Auf ihn folgen aber radikale Politiker (z. B. Yassin) und nicht Abu Mazen.
In einer Zeit und in einer politischen Landschaft, in der beide Gesellschaften keine Geduld haben werden, schon gar nicht Geduld für mühsam sich dahinschleppende Verhandlungen, braucht Abu Mazen schnelle Verhandlungserfolge. Die Israelis werden ihm allenfalls Zugeständnisse machen, wenn er glaubwürdig und erfolgersprechend den Bombenterror bekämpft. Dazu muss er Hamas u.a. entmachten und entwaffnen. Dazu benötigt er dringend internationale Unterstützung und die Unterstützung der PLO – Organisationen, die aber voll unter der Kontrolle Arafats stehen. Demzufolge wird der keinesfalls beendete Machtkampf mit Arafat entscheiden, ob Abu Mazen überhaupt eine Chance für Erfolg bekommen wird. Letztlich muss Arafat, der ein unsauberes Spiel mit der Gewalt betreibt, voll entmachtet werden. Die Schlüssel hierzu liegen in den USA und in Europa.
Ariel Sharon gilt in der Welt als das Haupthindernis, zumindest als der Hauptbremser des Friedensprozesses. Vor allem das stark geschmolzene Friedenslager in Israel unterstellt ihm, er wolle – trotz gegenseitiger Erklärungen, letztlich einen palästinensischen Staat verhindern, andere unterstellen ihm, er wolle lediglich palästinensische Homelands bei Annexion weiterer Teile der Westbank zulassen und diese müssten aus Sicherheitsgründen jederzeit durch das israelische Militär besetzbar bleiben.
Diese Charakterisierung übersieht, dass eine überdeutliche Mehrheit in Israel die Politik Sharons unterstützt. Seine erste Wahl gegen Ehud Barak wurde durch palästinensischen Terror befördert, wie seinerzeit die Wahl Netanyahu´s gegen Peres. Seine Wiederwahl wurde trotz andauernder Misserfolge in der Sicherheitspolitik und trotz der größten Wirtschaftskrise seit Gründung des Staates zur reinen Formsache. Er verkörpert wie kein anderer derzeit die Empfindungen der großen Mehrheit der Israelis. Zu ihm gibt es derzeit keinerlei personale Alternative, allenfalls Netanyahu in den eigenen Reihe. Er kann - möglicherweise mit wechselnden Koalitionen – sicher die nächsten Jahre regieren. Ohne ihn und den Likud wird es keinen Friedensprozess, d.h. keine Kompromisse geben. Das klingt in europäischen Ohren möglicherweise absurd, ist aber die Realität.
Seit Gründung des Staates Israel will dieser Staat voll unabhängig sein. Er will seine Existenz und Sicherheit nicht von anderen abhängig machen. Tatsächlich ist Israel aber wirtschaftlich, finanziell und politisch abhängig von den USA. Sharon wird sich einem nachhaltigen Druck der amerikanischen Regierung, auf eine Kompromisslösung hinzuarbeiten, nicht entziehen können. Dies haben die rechts vom Likud stehenden kleineren Parteien, auch in seiner Regierung, klar erkannt. Sie werfen Sharon schon heute vor, im Ernstfall weiter zu gehen, „mehr zu geben“ als Rabin und Peres je bereit gewesen wären.
Die Road Map der USA, der EU, Russlands und der UN bietet nun die Chance, beide Seiten – wenn auch unter erheblichen Geburtswehen – wieder an den Verhandlungstisch zurückzuführen. Noch überwiegen die Zweifel an einer realistischen Chance für einen neuen Friedensprozess in Nahost. Diese müssen überwunden werden, um dem Primat der Politik wieder Vorrang vor dem Primat der Gewalt einzuräumen.
Ansätze zum Abbau des Konfliktpotentials
Mehrere Umfragen, von der KAS mit renommierten israelischen und palästinensischen Instituten durchgeführt, zeigen, dass das politische Meinungsklima i.S. Sharons auf der einen und Arafats auf der anderen Seite zwar stabil, i.S. politischer Lösungen aber keinesfalls starr ist. Bewegung ist feststellbar auf palästinensischer Seite über die Gewaltfrage. Die Zahl der Palästinenser, die heute die zweite Intifada für falsch halten, nimmt stetig zu. Auch in Israel nimmt die Zahl derjenigen zu, die wieder leichte Hoffnung auf eine friedlichere Regelung hegen. Es sind auf beiden Seiten noch Minderheiten, diese sind aber nach Meinung aller Experten ausbaufähig.
Dies bedeutet für die Arbeit der KAS:
- Mit den bewährten israelisch – palästinensischen Partnern wie z. B. IPCRI, MECA, Peres Center u.a. werden wir öffentliche Meinungsträger, Professoren, Lehrer, Kirchenvertreter, kommunale Repräsentanten u.a. schulen und ermuntern, für ein Ende der Gewaltbereitschaft offen und auch öffentlich einzutreten.
- Mit der KAS – IPCRI – Arbeitsgruppe, bestehend aus hohen Vertretern beider Regierungen und der Privatwirtschaft wird der Entwurf einer wirtschaftlichen Road Map erarbeitet. Er soll beiden Regierungen vorgelegt werden. Er soll auch öffentlich diskutiert werden, um zu verdeutlichen, welche ökonomischen Chancen durch Zusammenarbeit statt durch Konfrontation bestehen, letztlich für jeden Bewohner in Nahost.
- Zusammen mit dem Peres Center und dem Palestinian Media Institut sollen wichtige Journalisten von beiden Seiten für eine unterstützende positive Berichterstattung über Perspektiven eines neuen Friedensprozesses gewonnen werden. In Israel und den Palästinensischen Gebieten muss gerade jetzt die Berichterstattung über die jeweils andere Seite sachlicher und konstruktiver werden.
- In einem weiteren Projekt sollen alle erreichbaren israelischen und palästinensischen Nichtregierungsorganisationen beider Seiten auf neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und neue Initiativen angesprochen und entsprechend geschult werden. Zur Erinnerung: Die Konferenz 2002 in Cadenabbia führte zur Wiederbelebung dieser Organisationen, was inzwischen durch eine öffentliche Ehrung durch die Jerusalem Foundation auch publik geworden ist.
Schlussbemerkung:
Neues Vertrauen aufbauen, Zweifel an der Möglichkeit beseitigen, dass Gewalt beendet werden kann, Perspektiven und Visionen deutlich machen und Mitkämpfer auf beiden Seiten motivieren und gewinnen, das sind die Hauptaufgaben der KAS heute für eine bessere Zukunft in Nahost.
Nach Oslo, nach Camp David II u.a. erscheint wieder einmal eine kleine Friedenspflanze am Horizont. Würde auch diese Chance wieder einmal blockiert, zerredet, zerstört, würde neue Hoffnungslosigkeit garantiert eine neue und wieder schlimmere Gewaltwelle in Gang setzen. Wer kann dies wollen?