Daten zur illegalen Migration nach Litauen aus Drittstaaten über Belarus
Die Zahl der illegalen Migranten, die seit Anfang 2021 über Belarus nach Litauen gelangt sind, beläuft sich auf 4.110. Diese Zahl ist 44-mal höher als die Gesamtzahl vom Jahr 2020. 2.500 Personen in einem Monat – das wären, im Verhältnis auf Deutschland umgerechnet, knapp 70.000 Menschen. Das sind Zahlen, die an die Flüchtlingszahlen in Deutschland von 2015-2016 erinnern. Litauische Grenzbeamte gehen zurzeit davon aus, dass es ihnen in etwa 90 Prozent der Fälle gelingt, die illegalen Grenzübertritte festzustellen und die Migranten zu registrieren. Die anderen begeben sich meist direkt auf den Weg nach Westeuropa, da Litauen nur als Zwischenstopp gesehen wird.
Eine Abschiebung der Migranten nach Belarus ist nicht möglich, da das belarusische Außenministerium bereits am 28. Mai 2021 die
Einleitung des Verfahrens zur Aussetzung des Rückübernahmeabkommens erklärte hatte – als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU. Zwei Tage zuvor hatte Lukaschenka erklärt, illegale Migranten und Drogentrafficking an der EU-Grenze nicht mehr aufzuhalten.
Der litauische Außenminister führte zuletzt direkte Gespräche mit Ankara und Bagdad über eine Rücknahme illegaler Migranten und eine Begrenzung der Flüge nach Minsk. Jedoch ohne Erfolg: Ab August werden sich die Flüge nach Belarus sogar verdoppeln und finden aus insgesamt vier irakischen Städten statt.
Gegenwärtig wird der Grenzsicherung die Priorität eingeräumt. Entlang der ganzen Grenze soll Stacheldraht aufgebaut werden. Im Gespräch ist zudem die Errichtung einer festen Grenzanlage. Allein die technischen Mittel zur Grenzüberwachung würden 400 Mio. Euro kosten. Die EU hat bisher 12 Mio. Euro zugesichert. Die litauische Regierung hat bisher 100 Mio. Euro für die Bewältigung der Krise einkalkuliert.
(Re-)Aktionen von Litauen und der EU
Am 2. Juli rief die litauische Regierung wegen der Migrationskrise den Notstand aus und bat am 9. Juli die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX um Unterstützung. Diese kündigte drei Tage später, am 12. Juli, eine Rapid Border Intervention Mission an der litauisch-belarusischen Grenze an und will mit Personal und speziellem Gerät unterstützen. 100 Frontex-Beamte sind bereits in Litauen.
Bilateral schickte Deutschland 30 Grenzbeamte und auch Estland unterstützt in diesem Bereich. Griechenland und Spanien versprachen Hilfe mit Erfahrungsaustausch, Polen und Kroatien wiederum sagten humanitäre Unterstützung zu.
Auf der EU-Ebene wurde das Problem am 12. März 2021 auf der gemeinsamen Anhörung der EP-Ausschüsse für Innere und für Auswärtige Angelegenheiten sowie auf der Sitzung des EU-Außenministerrats diskutiert. „Es scheint, als ob die belarusischen Behörden jetzt die irreguläre Migration erleichtern, möglicherweise als Vergeltung für restriktive Maßnahmen der EU und als Reaktion auf die litauische Unterstützung der Zivilgesellschaft in Belarus“, so die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson. Auch die Litauer sehen in der Entwicklung eine gezielt herbeigeführte hybride Aggression, die sich in erster Linie gegen sie selbst, aber auch die EU insgesamt richte. Polen meldete bislang nur einige Dutzend illegale Grenzübertritte und Lettland noch weniger. Der litauische Außenminister Landsbergis sprach sich auf der Ministerratssitzung für eine europäische Rückübernahmestrategie aus, „denn allein ein Land – sei es Litauen, sei es Griechenland oder Spanien – steht vor einem ziemlich schwierigen Weg, wenn es darum geht, illegal eingereiste Personen zurückzuschicken. Zweitens müssen wir sehr streng mit den Regimen umgehen, die diese Art von Waffen einsetzen.“
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte das Vorgehen der belarusischen Behörden am 22. Juli „inakzeptabel“ und sprach sich für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik aus. Zuvor hatte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, bei seinem Besuch in Litauen am 5. Juli Solidarität im Namen der EU-Staaten zugesagt und Litauen Unterstützung versprochen. Am 09. Juli erschien ein Aufruf der Auswärtigen Ausschüsse der Parlamente der USA, Großbritanniens und zehn EU-Länder zu neuen Sanktionen gegen Lukaschenkas Regime wegen des gezielten Schürens einer Migrationskrise.
Vom 31. Juli bis 1. August besuchte die EU Komissarin Ylva Johansson Litauen und sprach sich dabei für die Notwendigkeit einer physischen Barriere an der Grenze aus. Sie betonte allerdings auch, dass sie in ihrem Haushalt keine Mitteln dafür habe. Während ihres Besuchs in Litauen zeigte sich die Komissarin offen dafür, die spezielle Situation für Litauen weiter zu diskutieren.
Innenpolitische Schritte zur Bewältigung der illegalen Migration
Am 13. Juli verabschiedete das litauische Parlament, der Seimas, eine Resolution „Über die Bewältigung einer hybriden Aggression“, in der festgestellt wird, dass litauenfeindliche Länder eine hybride Aggression gegen Litauen betreiben und dadurch eine Bedrohung für die litauische Staatsgrenze, die gleichzeitig eine Außengrenze der EU und NATO ist, entsteht.
Die verabschiedete Resolution fordert die Regierung auf, folgende Maßnahmen zu treffen:
- den Einsatz der Streitkräfte zum Schutz der Grenze;
- eine umgehende Errichtung eines physischen Hindernisses an der Grenze;
- Ermittlung und Bestrafung der Organisatoren der Migrationsströme einschließlich der natürlichen und juristischen Personen in Belarus;
- die Einstufung der illegalen Migranten – unter Ausnahme von Frauen mit Kindern, Schwangeren, Minderjährigen und Behinderten – als „Mittäter“ bei der Organisation der illegalen Migration und ein einschlägiges Aufenthaltsregime;
- die Durchführung einer deutlichen Informationskampagne über die reale Situation der illegalen Migranten in den Herkunftsländern.
Sollte die hybride Aggression andauern und sich zuspitzen, wird die Regierung aufgefordert, nach Abschätzung der Gefahr Konsultationen mit den
NATO-Mitgliedstaaten aufzunehmen, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Europäische Kommission und andere Institutionen zur Solidarität zur Bekämpfung hybrider Aggression aufzufordern.
Zudem wurde eine Gesetzesverschärfung auf den Weg gebracht, die den illegalen Migranten unter anderem das Recht nehmen soll, nach erstinstanzlicher Entscheidung über ihren Status in Berufung zu gehen. Es wurde beschlossen, das Asylverfahren auf zehn Tage zu verkürzen sowie die Freizügigkeit der Migranten, die illegal die Grenze überschritten haben, einzuschränken. Der Seimas hat dem Vorschlag zugestimmt, wonach die Festhaltung eines illegalen Migranten bis zu sechs Monaten dauern kann.
Weitere Änderungen der Rechtsakten legen fest, dass die Anwesenheit im Land von Ausländern, die einen Asylantrag unmittelbar nach dem Grenzübertritt oder in Transitzonen gestellt haben, bis zur Entscheidung über die Aufnahme eines Asylbewerbers nicht als Einreise in das Hoheitsgebiet Litauens gilt.
Es wurde weiter beschlossen, dass die Rechte der Asylbewerber im Fall einer Kriegs-, oder Notstandsituation bei einem Massenzustrom von illegalen Migranten vorübergehend eingeschränkt werden dürfen, wenn sie aus objektiven Gründen nicht gewährleistet werden können, mit Ausnahme des Rechts auf die materielle Aufnahmeversorgung und medizinische Hilfe.
Ob die Behörden, die schon jetzt damit überfordert sind, das beschleunigte Verfahren bewältigen zu können, bleibt abzuwarten.
Dennoch wird laut verschiedener Rechtsexperten nicht die Änderung des Ausländerrechts, die das Asylverfahren beschleunigt, sondern der praktische Erfolg bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer für die Bewältigung der Migrationskrise entscheidend sein.
Kritik an Gesetzesänderungen
Das litauische Rote Kreuz sowie mehrere Menschenrechtsorganisationen kritisierten die beschlossenen Änderungen des Gesetzes. Sie würden gegen die internationalen Verpflichtungen Litauens verstoßen und die Rechte der Flüchtlinge verletzen. Einige Rechtsexperten weisen auch auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit der Gesetzänderungen hin. Dabei stehen vor allem die ungesicherten Rechtsmittel nach einem abgelehnten Asylbescheid im Fokus der Kritik. Die Leiterin der Migrationsbehörde, Evelina Gudzinskaitė, weist diese Kritik zurück. Gemäß der EU-Richtlinie sowie der bestehenden EU-Praxis reiche bei Asylprüfverfahren ein Gericht aus, dies belege die entsprechende Praxis anderer Länder.
Im Lichte der schon länger anhaltenden Unstimmigkeiten zwischen dem Präsidenten und der Regierung, hat der Präsident Gitanas Nausėda das Gesetzesänderungspaket erst nach gewissem Zögern unterzeichnet. Dabei kritisierte er besonders die Verletzung der Menschenrechte und forderte das Parlament auf, die Mängel des Gesetzes zu beseitigen. Die Parlaments-sprecherin Viktorija Čmilytė-Nielsen versprach, das Gesetz im Zuge der Herbsttagungen zu überprüfen.
Auch die Premierministerin, Ingrida Šimonytė, verteidigt die Gesetzesänderungen damit, dass weder Litauen noch die illegal eingereisten Migranten an einem überzogenen Verfahren interessiert seien. Sie schließe aber nicht aus, die Entscheidungen an die sich ändernde Situation anzupassen, wenn konkrete Vorschläge mit Formulierungen eingebracht werden sollten. Sie wies die Kritik wegen einer möglichen Verletzung der Menschenrechte mit dem Argument zurück, dass der Migrationsansturm gerade aus dem Grund ausgelöst worden sei, dass Litauen das Recht der Belarusen auf freie Wahlen gegenüber dem Regime aktiv verteidigt habe.
Reaktion der Opposition
Der Vorsitzende der oppositionellen „Bauernpartei“, Ramūnas Karbauskis, opponiert gegen das Krisenmanagement der Regierung und ist davon überzeugt, dass Versuche, Migranten durch Informationskampagnen abzuschrecken, nicht sinnvoll seien. Litauen sollte laut Karbauskis auf diplomatischen Wege auf Belarus einwirken, gegebenenfalls mit Hilfe von Vermittlern. Auch die rechtspopulistischen Kräfte, die sich unter der Fahne des „Familienmarsches“ versammelt hatten, warfen der Regierung vor, die Migrantenkrise wäre durch Litauens harte Haltung gegenüber dem Minsker Regime hervorgerufen worden, und schlugen einen Dialog mit Lukaschenka vor.
Diese Vorschläge stießen auf scharfe Kritik des Präsidenten Nauseda, der versicherte, dass eine Kurskorrektur der Außenpolitik und ein Dialog mit dem Diktator völlig inakzeptabel seien. Die Sanktionen gegen Belarus seien nicht von Litauen, sondern von der EU verhängt worden.
Im Gegensatz zur Meinung der „Bauerpartei“, formulierte die Vorsitzende der Sozialdemokraten, Vilija Blinkevičiūtė, ausdrücklich, dass der derzeitige außenpolitische Kurs Litauens nicht geändert werden sollte.
Zudem beschlossen die Vertreter der Opposition, sich an die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, mit der Bitte zu wenden, den Plan der litauischen Regierung zur Errichtung einer physischen Barriere an der Grenze zu Belarus zu überprüfen. Die "Bauernpartei" wies dabei darauf hin, dass es auf europäischer Ebene bereits einen Präzedenzfall mit Ungarn geben würde, das vor dem Europäischen Gerichtshof den Fall bezüglich des Grenzbaus verloren habe.
Oppositionsführer Skvernelis kritisierte die EU, die bisher lediglich humanitäre Hilfe leiste, aber kein Beitrag zur Lösung des Problems leistete.
Innenpolitische Auswirkungen der Migrationskrise
Die Migrationskrise kann möglicherweise zur einer Stärkung populistischer und staatsfeindlicher Kräfte in Litauen führen. Bisher konnte keine radikale Partei in Litauen mehr als zwei Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen, jedoch nimmt das Misstrauen der Gesellschaft gegenüber den politischen Parteien zu.
Die Aufnahmelager, durch die sich die Migranten in der Nähe von Wohnorten befinden, sind bei der lokalen Bevölkerung mehr als umstritten und sorgen für zunehmende gesellschaftliche Spannungen.
Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė warnte davor, den hybriden Angriff zu einer Hasskrise werden zu lassen, wenn zum Hass auf die „Fremden“ aufgehetzt werde sollte.
Besonders stark sind die Proteste gegen die Unterbringung von Migranten im von der Opposition regierten Bezirk Šalčininkai. Bei andauernden Protesten in den Gemeinden Dieveniškės und Rūdninkai wurden unter anderem auch staatsfeindliche Parolen laut. Die Situation am Truppenübungsplatz in Rūdininkai eskalierte, als rund 150 Protestierende die Einfahrt zum Militärgelände blockiert und dort Feuer angezündet hatten. Die Polizei musste die Protestierenden durch Einsatz von Tränengas vertreiben, zwei Polizeibeamte wurden verletzt. Es wurde von der Polizei eine vorgerichtliche Untersuchung wegen der Organisation der jüngsten Unruhen in der Nähe des Truppenübungsplatzes Rūdninkai eingeleitet.
Premierministerin Ingrida Šimonytė stellte fest, dass die Einwohner bewusst gegen die Unterbringung der Migranten im Bezirk Šalčininkai aufgehetzt würden, und ein Dialog mit der lokalen Bevölkerung durch die Position des Europaabgeordneten von der Partei der Litauischen Polen, Valdemaras Tomaševskis, verhindert werde. Sie argumentierte weiter, dass in den von der Regierungskoalition oder ihr nahestehenden Parteien geführten Gemeinden die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog bestehe und dass dort daher weniger protestiert werde.
Der litauische Geheimdienst sieht bei den Protesten bisher keine anti-staatlichen Kräfte beteiligt. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Radikalisierung der Stimmung in der litauischen Gesellschaft und eine Eskalation der Situation im Interesse feindlich gesinnten Staaten liegen könnten.
Reagierend auf die Zuspitzung der Lage in Rūdininkai, schlug die konservative Innenministerin Agnė Bilotaitė vor, die Ausrufung des Ausnahmezustands an den Grenzgebieten in Betracht zu ziehen. In einem solchen Fall würde die Grenzkontrolle von den Streitkräften übernommen werden und der Zugang zum Territorium Litauens wäre gesperrt.
Der Verteidigungsminister, Arvydas Anušauskas, ist gegen die Verhängung des Ausnahmezustands. Es bestehe noch keine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung. Dem Verteidigungsminister zufolge würde die Verhängung des Ausnahmezustands unter anderem angesichts der bevorstehenden russisch-belarusischen Militärübung „Zapad“ die Lage verschärfen. Um die Ängste der Gesellschaft zu zerstreuen, sicherte der Minister aber zu, dass die Streitkräfte bei Bedarf zur Beschützung der Bevölkerung eingesetzt werden, um dadurch den Grenzschutz von dieser Funktion zu entlasten.
Der Staatschef Nausėda folgt dem Verteidigungsminister und zieht den Ausnahmezustand ausschließlich als letztes Mittel in Betracht.
Die Opposition ist in Frage der Einführung des Ausnahmezustandes gespalten. Der Vorsitzende der „Bauernpartei“ Karbauskis spricht sich dagegen aus, weil er befürchtet, dass damit die gegen die Migranten gerichteten Proteste unterbunden werden könnten. Oppositionsführer Skvernelis hält dagegen die Einführung des Ausnahmezustands in den Grenzgebieten für notwendig, um größeren Schaden zu verhindern, aber auch um potentiellen Provokationen vorzubeugen.
Schemata der illegalen Migration
Den Recherchen von Journalisten des litauischen Rundfunk LRT, der russischen Publikation Mediazona und des „Scanner Projects“ wie auch den Ermittlungen des litauischen Verteidigungsministeriums zufolge ist das Regime in Belarus direkt in die Organisation der illegalen Migration verwickelt. Jüngste Videoaufnahmen von Frontex belegen, dass belarusische offizielle Stellen in das Geschehen involviert sind.
Selbstaussagen von Migranten zufolge seien bereits seit März Facebook-Gruppen in verschiedenen Sprachen aufgetaucht, die für Litauen als „besten Eingangspunkt in die EU und nach Westeuropa“ warben. Seit vier Jahren gibt es wöchentlich vier reguläre Flüge der Iraqi Airlines von Bagdad nach Minsk. Doch die Visavergabe für touristische Zwecke nach Belarus wurde erst dieses Frühjahr wiederaufgenommen. Seit dem 10. Mai wird Minsk von einer weiteren irakischen Fluggesellschaft, Fly Baghdad, angeflogen. Linienflüge aus der Türkei nach Minsk gibt es täglich.
Gemäß den obengenannten Quellen besorgen Kriminelle den potentiellen „Flüchtlingen“ belarusische Visa sowie Flugtickets und Reisegutscheine nach Minsk und garantieren ihnen den Grenzübergang nach Litauen. Den legalen Teil der Reise nach Belarus übernehme ein Netzwerk von irakischen und belarusischen Reiseagenturen. Auf der belarusischen Seite soll das staatliche Reiseunternehmen „Zentrkurort“ die Touristen aus dem Irak empfangen und für ein bis vier Tage in Hotels in Minsk unterbringen, bevor sie von Schleppern an die litauische Grenze chauffiert werden.
Gemäß den Presseberichten werde die Grenze zumeist nachts mit entsprechender Einweisung durch die „Schmuggler“ zu Fuß überschritten. Die „Tour“ nach Litauen koste den potentiellen Flüchtling um die 6.000 Dollar. Sollten sie weiter – etwa nach Deutschland – befördert werden wollen, steige der Preis auf bis zu 15.000 Dollar. Manche legen den Weg von Minsk über die Grenze ohne „Helfer“ auf eigene Faust auf Grund von Anweisungen ihrer „Vorgänger“ zurück, die bereits nach Litauen gelangt sind. Scheinbar zieht das Regime in Minsk auch einen beträchtlichen finanziellen Nutzen daraus: Demnach müssen Iraker jeweils 3.000 Dollar als Pfand bei der Visaerteilung hinterlassen. Dieser Betrag werde zugunsten des belarusischen Staates eingezogen, wenn der „Tourist“ von der „Reise“ nach Belarus nicht zurückkomme. Stimmt diese Rechnung, so könnte das Regime in Minsk bei den über 1.000 Irakern, die bereits in Litauen festgenommen wurden, schon über 2 Mio. Euro einkassiert haben.
Die neuesten Entwicklungen
Reagierend auf die zunehmende Zahl der ankommenden illegalen Migranten, hat das Innenministerium am 2. August entschieden, illegale Migranten am Grenzübertritt zu hindern, notfalls mit Gewalt. Migranten sollen an Grenzkontrollposten oder Botschaften verwiesen werden, um dort einen Asylantrag zu stellen.
Außenminister Gabrielius Landsbergis sagte in einem Interview, dass das belarusische Regime die Gespräche mit west- und nordafrikanischen Ländern aufgenommen habe, um weitere Reisen nach Belarus zu ermöglichen.
Eine aktuelle Meldung besagt, dass der Botschafter der Europäischen Union (EU) im Irak, Martin Huth, Information erhalten habe, dass für die nächsten zehn Tage Flüge aus dem Irak nach Minsk ausgesetzt werden sollen. Angeblich hat „Iraq Airways“ darüber alle Reiseunternehmen im Land informiert.
Zudem werden von der belarusischen Seite zunehmend verbale Angriffe als Propagandamittel gegen Litauen eingesetzt. Lukaschenko hat die Behörden angewiesen, den angeblichen Tod eines Irakers an der litauischen- belarusischen Grenze zu untersuchen. Daraufhin stellte die litauische Premierministerin Šimonytė fest, dass den litauischen Grenzbeamten kein Vorfall an der Grenze bekannt sei und für das Geschehen auf der belarusischen Seite Belarus verantwortlich ist. Gleichzeitig haben mehrere litauische Medienportale einen Drohbrief erhalten, indem ein Terrorangriff auf mehrere größere Einkaufszentren, Bürohäuser und Behörden als Racheakt für die „muslimischen Brüder“ angekündigt wurde.
Eine Woche zuvor hatte Lukaschenko die Litauer als “Nazis” bezeichnet, da sie angeblich die Migranten in Litauen foltern und nach Belarus ausweißen würden. Deshalb würden in Kürze radikale und bewaffnete Moslems zur Vergeltung ins Land kommen.
Am 10. August wird nun eine außerordentliche Sitzung des litauischen Parlaments stattfinden, in der voraussichtlich über die Verhängung des Ausnahmezustands und den Bau der Grenzmauer entschieden wird.
Innenpolitischer Ausblick
Trotz der angespannten Lage, besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass Litauen die EU-Außengrenze schützen muss. Premierministerin Šimonytė versicherte, dass Litauen nicht zu einer Transitstraße für Migranten in die weiteren EU- Länder, wie Deutschland oder Schweden, werden wird. Allerdings werden Stimmen laut, die fordern, die EU-Migrationspolitik auf der europäischen Ebene zu überprüfen.
Es ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Migranten, die illegal nach Litauen kommen, weiter zunehmen wird. Bis Ende des Jahres rechnet man mit mindestens 10.000 weiteren illegalen Migranten.
Der litauische Grenzschutz plant gerade die Anschaffung von 400 Wohncontainern für die Unterbringung der in Litauen angekommenen illegalen Migranten, vor allem für Frauen und Kinder. Allein diese Maßnahme könnte Litauen rund 200 Millionen Euro kosten.
Als Konsequenz werden weitere Spannungen in der Bevölkerung erwartet. Die Situation könnte sich dahingehend entwickeln, dass der Staat keine weiteren Migranten mehr aufnehmen kann. Der ehemalige Vorsitzender des Verfassungsgerichts äußerte sich dahingehend, dass unter Umständen die gesellschaftliche Ordnung des Landes durch die Situation gefährdet werden könnte.
Außerdem, warnte die ehemalige Präsidentin Dalia Grybauskaitė vor möglichen Provokation eines bewaffneten Konflikts an der Grenze, da dort das litauische Militär an der Grenzsicherung beteiligt sei.
Fazit
Da es sich bei den Ankommenden offenbar in erster Linie um Wirtschaftsflüchtlinge handelt, die sich zudem die teure Reise mit dem Flugzeug leisten können, wirkt die Strategie der Litauer richtig, zur Identitätsfeststellung und möglicher Begrenzung der Reisekapazitäten mit den Herkunftsländern zusammenzuarbeiten und auf Informationskampagnen zu setzen, um den dort verbreiteten Des- und Falschinformationen entgegenzutreten. Sollte diese Personengruppe zahlenmäßig abnehmen, fiele vor allem Tschetschenien als mögliche weitere Herkunftsregion ins Auge, da die dortigen Bewohner als Staatsbürger Russlands frei nach Belarus einreisen können. Weitere größere Gruppen, etwa Menschen aus Afghanistan, könnten Belarus hingegen nur erreichen, wenn die zentralasiatischen Staaten und Russland sie frei durch ihr Territorium ziehen ließen oder deren Weiterreise aktiv organisierten, was derzeit eher unwahrscheinlich ist.
Andererseits ist es wichtig, die EU-Außengrenze zu schützen und genügend Kapazitäten aufzubauen, den (dennoch weiterhin) ankommenden Migranten ordnungsgemäß und im Einklang mit den Menschenrechen zu begegnen. Dass Menschen mit tatsächlichen Asylanspruch geholfen werden muss, versteht sich von selbst und wird von der litauischen Regierung nicht in Frage gestellt. Je schneller aber die Prüfverfahren abgeschlossen werden und je deutlicher nach außen kommuniziert werden kann, dass Litauen keine freie Ein- und Weiterreise für Wirtschaftsmigranten gewährt, umso schneller kann Lukaschenkas Kalkül durchkreuzt werden. Bis dahin muss sich jedoch insbesondere Polen auf sekundäre Migrationsströme einstellen.
Im Weitwinkel Europas gesehen, ist die Lage an der Grenze Belarus-Litauen jedoch nur ein „Unterkapitel“ beim Thema Flucht und Migration. Sowohl seitens der Litauer als auch von Brüssel wurde treffend herausgestellt, dass es sich um eine Herausforderung für die EU insgesamt handelt. Es müssen daher gemeinsame Antworten gefunden werden, etwa bei der Asylgesetzgebung, Außengrenzschutz und der Frage, wie man der durchschaubaren Strategie von Schleusern begegnen kann, illegale Grenzübertritte mit dem Stellen von (absehbar erfolglosen) Asylanträgen zu kombinieren. Dass die Problematik illegaler Grenzübertritte nun mit Litauen ein Land und eine Region trifft, für die die große Flüchtlingskrise von 2015 weit weg schien, könnte bestenfalls dazu führen, dass das europaweite Bewusstsein der gemeinsamen Betroffenheit wächst und dies das Finden gemeinschaftlicher Lösungen vereinfacht. Dass südeuropäische Staaten unter den ersten waren, die Litauen ihre Solidarität zusicherten, ist ein gutes und wichtiges Zeichen.