Länderberichte
Mit dieser Summe wäre annähernd der Kreditbedarf gedeckt, den das Land für die kommenden zwölf Monate kalkuliert, zur Bedienung der enormen Auslandsschuld einerseits, zur Finanzierung des beträchtlichen Haushaltsdefizits andererseits. Gedacht sind diese Maßnahmen der "blindaje" zur Beruhigung der internationalen Kapitalmärkte, ob dieses Ziel allerdings erreicht wird, ist umstritten. Von manchen Bankenvertretern ist derzeit zu hören, Argentinien habe lediglich Zeit gewonnen. Für andere ist die Hilfe von Währungsfonds, Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank ein Signal dafür, dass Argentinien derzeit kaum Chancen hat, eigene Titel an den internationalen Kapitalmärkten zu platzieren.
Unter Druck geriet Argentinien spätestens mit dem Rücktritt von Vizepräsident Carlos "Chacho" Alvarez, für internationale Beobachter ein Anlass zum Zweifel an der Regierungsfähigkeit Fernando de la Rúas, Vorbote vielleicht für kommende Instabilität und Unsicherheit. Entsprechend schnell stieg das Länderrisiko.
Länderrisiko gestiegen
Eine erneute Debatte um die sogenannte Konvertibilität, die 1:1-Bindung des argentinischen Peso an den Dollar, kam hinzu. Wieder einmal war es Ex-Präsident Raúl Alfonsín, der seinen Teil zur Verunsicherung beitrug: Die Konvertibilität sei das schlimmste, was Argentinien im zwanzigsten Jahrhundert im Wirtschaftsbereich passiert sei, so der Vorsitzende der größten Regierungspartei UCR (Unión Cívica Radical) in einem Interview mit dem TV-Canal 7 TV am 12. Oktober. Zwar trat die Regierung dem unverzüglich entgegen, Alfonsín aber legte nach: Wie schön wäre es doch, ließ er bei einem "Fernseh-Essen" mit Talk-Königin Mirtha Legrand verlauten, wenn Argentinien seine Auslandsschulden nicht bezahlen müsste, zumindest ein Moratorium von zwei Jahren hätte ... . "Hoffentlich geht er irgendwann in Ferien, in permanente ...", seufzte der Chefökonom der "Fundación Mediterránea", Guillermo Mondino. Und fügte gleich seine Einschätzung der Lage hinzu. Ändere die Regierung nicht grundsätzlich ihren Kurs, sei seine "optimistische Prognose" für 2001, dass die Wirtschaft nicht wachse, die pessismistische hingegen die Zahlungsunfähigkeit des Landes und finanzielles Chaos.
Schon zuvor hatte der Rücktritt des lange unter Beschuss stehenden Geheimdienstchefs Fernando de Santibañes, eines engen Vertrauten des Präsidenten und bekennenden Wirtschaftsliberalen im engsten Zirkel, für einen Vertrauenstiefpunkt gesorgt. Umgehend präsentierten die Märkte die Quittung: Die nächste Platzierung auf dem internen Kapitalmarkt musste Argentinien den Banken mit Zinsen zwischen 13 und 16 Prozent schmackhaft machen, nicht eben das Niveau eines als grundsolide angesehenen Schuldners.
"Mit diesem Länderrisiko von fast 1000 Basispunkten", so der Chefökonom der "Fundación Capital", Carlos Perez gegenüber der Wirtschaftszeitung "Ambito Financiero" am 8. November, "nähern wir uns dem Ende der makroökonomischen Machbarkeit. Argentinien kann mit diesen Zinsen nicht funktionieren, nicht der öffentliche und auch nicht der private Sektor. Die Märkte analysieren die ökonomischen Fortschritte hier als unzureichend. ... Die Maßnahmen der Regierung sind richtig, aber ungenügend."
Beim Umfang der Platzierung von 1,1 Milliarden US-Dollar bedeutet das erreichte Zinsniveau zudem eine zusätzliche Haushaltsbelastung von rund 30 Millionen Dollar im kommenden Jahr. Die Kritik war erheblich. Ex-Wirtschaftsminister Roberto Alemann, ein wichtiger Beobachter der Finanzszene, meinte am gleichen Tag in der gleichen Zeitung: "Das ist unverantwortlich, aber nicht nur seitens der Regierung, sondern auch seitens der lokalen Banken, die diese Platzierung begleitet haben. Es bestand keine Notwendigkeit dieses Zinsniveaus. Sie haben eine momentane Schwäche der Regierung ausgenutzt. Das ist der Unterschied zwischen einem Geldverleiher und einem Wucherer. Sie waren Wucherer."
Nur: Was nützen solche Einschätzungen? Dass Finanzmärkte gelegentlich übertreiben, ist allgemein bekannt, dass Anlass zu solchen Übertreibungen im Falle Argentinien besteht, offenbar auch.
Da war es beinahe logisch, dass Wirtschaftsminister José Luis Machinea mit seinen lange dementierten Verhandlungen mit dem Währungsfonds versuchte, das kurzfristige Tief hinter sich zu lassen und ein Vertrauenssignal auszusenden. Neun Milliarden Dollar sollen nun vom Währungsfonds kommen, eine Milliarde erhofft man von der Weltbank und 1,5 Milliarden von der Bank für Interamerikanische Entwicklung (BID), jeweils drei Milliarden sollen private Banken und die Pensionsfonds AFJP beisteuern. Auch von den USA und aus Europa erhofft man Zusagen.
Obergrenzen für Haushaltsdefizit angehoben
Gratis allerdings war diese Unterstützung nicht zu bekommen, zu eindeutig ist die Sprache, die von einer Staatsverschuldung von rund 150 Milliarden Dollar (erhöht von 98,9 Mrd. in 1995) ausgeht und Argentinien 2001 zum größten Kapitalsucher des Kontinents werden lässt, ganz abgesehen von massiven Zahlungsproblemen der argentinischen Provinzen: Zunächst allerdings beschloss die Regierung zugunsten von mehr "Ehrlichkeit und Transparenz" eine Änderung des "Ley de Responsabilidad Fiscal", das Obergrenzen für ein mögliches Haushaltsdefizit vorsieht: Statt der bisher erlaubten 4,8 Milliarden Dollar sollen es jetzt 6,4 Milliarden Dollar im Jahr werden dürfen.
Ein problematisches Signal, wie Nestor O. Scibona in der Wirtschaftszeitung "El Cronista" vom 13. November kommentierte: "Das ist so, als wenn man das Fieberthermometer zerstört, um nachzuweisen, dass man kein Fieber hat. Aber das Fieber existiert ...". Gleichzeitig wurde die Absicht, das Haushaltsdefizit bis zum Jahr 2003 auf Null zu bringen auf das Jahr 2005 verschoben. Und der bisherige Haushaltsplan für 2001 weist mit seinen Kalkulationen zum erwarteten Wirtschaftswachstum Schwachstellen auf: Martin Redrado etwa, Ökonom der "Fundación Capital" sieht in ihm quasi immanent die Notwendigkeit permanenter Nachbesserungen, insbesondere angesichts seiner Einschätzung, dass Argentinien im kommenden Jahr wohl nur mit einem "rachitischen" Wachstum von 1,5 bis zwei Prozent rechnen könne, statt fünf Prozent, die möglich wären, machte man mit wirklichen Strukturreformen ernst. Immerhin will sich der Staat verpflichten, die jetzige Haushaltshöhe bis 2005 einzufrieren, inklusive der Zusagen an die Provinzen, allerdings unter Ausschluss der Kosten für den Schuldendienst.
Staatliches Rentensystem vor dem Ende
Zudem kündigte die Regierung das Ende des staatlichen Rentensystems an. Die bisherigen Einzahler genießen zwar Bestandsschutz, neue Mitglieder werden aber nicht mehr aufgenommen. Ihnen bleibt die Privatversicherung über die sogenannten AFJPs. Abgeschafft werden soll auch die sogenannte "Prestación Basica Universal" (PBU), eine feste Summe von derzeit 200 Pesos monatlich, die den Rentnern zugute kam. Stattdessen soll ihnen jetzt unter bestimmten Voraussetzungen eine Mindestrente von 300 Pesos garantiert werden. Angehörige des informellen Sektors und marginalisierter Gruppen sollen bei Erreichen der Altersgrenzen Anspruch auf 100 Pesos monatlich haben.
Die Absicht, generell das Rentenalter für Frauen auf 65 Jahre zu erhöhen, nahm die Regierung kurz nach der Ankündigung wieder zurück. Jetzt soll es Übergangsfristen und Möglichkeiten einer früheren Verrentung geben. Zusätzlich besteht die Absicht, die Steuereintreibung künftig zu privatisieren und die sogenannten "obras sociales", Einrichtungen der Krankensversicherung, die insbesondere von den Gewerkschaften betrieben werden, ab dem 1.1.2001 zu deregulieren. Auch sollen verschiedene Steuersenkungen und -erleichterungen in Kraft treten, z.B. die Abzugsfähigkeit von Hypothekenzinsen für Firmen. Der große Wurf allerdings ist damit nicht gelungen. Viele Beobachter finden die Vorhaben halbherzig und sehen die Notwendigkeit, Investoren ein Engagement in Argentinien mit erheblich weitergehenden Kostensenkungen im Steuer- und Abgabenbereich schmackhaft zu machen.
Den Gewerkschaften allerdings geht schon der jetzige Plan entschieden zu weit. Unmittelbar nach Bekanntgabe kündigten zwei Gewerkschaftszentralen einen nationalen Streik von 36 Stunden an. Beginn: 23. November, mittags. Ob sich dem Vorhaben der "Central de Trabajadores Argentinos" (CTA, Vorsitzender: Victor De Gennaro) und dem "Rebellenflügel" der "Central General de Trabajadores" (CGT, Vorsitzender: Hugo Moyano) neben der sogenannten "Corriente Classista y Combativa" noch weitere Gruppen anschließen, wird sich zeigen. Zahlreich waren jedenfalls die Organisationen, die am 14. November im Hauptstadtdistrikt zwischen 12 und 14 Uhr den Verkehr stellenweise lahmlegten und weitere Aktionen ankündigten.
Steigende Arbeitslosigkeit
Sie heizen damit eine Stimmung weiter an, die bereits seit Wochen die Öffentlichkeit in Atem hält: In vielen Provinzen des Landes versuchen Gruppen von Arbeitslosen durch die Unterbrechung wichtiger Straßenverbindungen auf sich aufmerksam zu machen. Einen traurigen Höhepunkt erreichte diese "Bewegung" in der Provinz Salta, wo bei der Räumung einer solchen Straßensperre durch die Polizei einer der sogenannten "piqueteros", Anibal Veron, erschossen wurde.
Woher die Kugel kam, ist noch nicht klar, sofort aber nahmen seine Mitstreiter sieben Polizisten als Geiseln, setzten eine Polizeistation in Brand und zündeten Autos an. Gendarmeriekräfte aus anderen Provinzen wurden zur Unterstützung gerufen und brachten die Lage mittlerweile unter Kontrolle. Gleichzeitig aber flammten "piquetes" an anderen Orten auf, zumal die Staatsgewalt nicht überall entschlossen vorgeht. Vielerorts setzen die Politiker auf Verhandlungen und machten Zugeständnisse: So erhielten die Protestierenden etwa in La Plata in der Provinz Buenos Aires umfangreiche Lebensmittelzuteilungen und das Versprechen, 120 von ihnen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unterzubringen.
Und La Plata ist kein Einzelfall. Ob die Hilfen allerdings tatsächlich den wirklich Bedürftigen zugute kommen, darf bezweifelt werden. Nicht wenige Beobachter sehen hinter der Bewegung die Hand politischer und gewerkschaftlicher Drahtzieher, die mit den Zuwendungen ihre ganz eigene Klientel bedienen und materiellen Profit daraus schlagen. In den Medien allerdings scheint dieses Thema weitgehend tabu zu sein. Gerade in der Fernsehberichterstattung wirkt vieles inszeniert, Hintergründe werden selten beleuchtet.
Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Lage für viele Menschen inzwischen wirklich bedrückend ist, vor allem in den Provinzen. Bei einer offenen Arbeitslosigkeit von weit über 15 Prozent und weiter steigender Tendenz, sind viele Reformnotwendigkeiten des staatlichen Sektors nicht unproblematisch. So sind sich zwar alle einig, dass etwa das staatliche Krankenversicherungssystem der Rentner, PAMI, statt mit 11.500 durchaus auch mit 3.400 Mitarbeitern voll arbeitsfähig wäre, eine entsprechende Freisetzung aber will niemand politisch verantworten. Und PAMI ist kein Einzelfall.
Aufgeblähte öffentliche Verwaltung
An vielen Stellen wirkt die öffentliche Verwaltung wie eine Arbeitslosenversicherung, was zu überdimensionierten Personalhaushalten führt und der Nation, den Provinzen, Städten und Gemeinden die Luft zum Investieren abschnürt. So fließen vom Sozialhaushalt des Hauptstadtdistrikts Buenos Aires 85 Prozent in die Gehälter der Bediensteten. Gemeinden mit 70.000 Einwohner haben nicht selten über 1000 Beschäftigte.
Eine Reform ist zusätzlich dadurch erschwert, dass die Politik kaum bereit scheint, bei sich selbst anzufangen: Wenn sich schon die kleinsten Gemeinden Gemeinderäte mit vollem Gehalt leisten und der Begriff des politischen Ehrenamtes unbekannt zu sein scheint, wenn es für die Gehälter von Bürgermeistern keinerlei Staffelungen analog zur Größe der Aufgabe gibt und wenn teure Zwei-Kammer-Parlamente auch in den ärmsten Provinzen ihre Abgeordneten und Senatoren besser besolden als die nationale Ebene oder große Industrienationen, dann ist dies kaum geeignet, von den Staatsbediensteten Opfer zu verlangen und ihre Zahl zu reduzieren.
So steckt die Politik auf allen Ebenen in einem Dilemma. Nach einer Umfrage von Graciela Römer, veröffentlicht in der Tageszeitung "La Nacin" vom 13. November, haben 81% der Befragten den Eindruck, Staatspräsident de la Rúa habe das Vertrauen der Bürger verloren. 72% sind mit seiner Arbeit nicht einverstanden, nur 20 % stimmen ihr zu und acht Prozent geben sich unentschieden. Der bekannte MIT-Professor Rüdiger Dornbusch nutzte seinen Besuch in Buenos Aires dazu, de la Rúa als einen "guten Präsidenten für die Sonntagnachmittage" zu bezeichnen und damit einen Wahlkampfspruch des Peronisten Antonio Cafiero aufzugreifen, gezielt auf das eher "melancholische" Erscheinungsbild der Leitfigur de la Rúa: "Stellt Euch vor, es ist Sonntagnachmittag, es regnet, es findet kein Fußball statt ... und de la Rúa ist Präsident."
Geschwächte Regierung
So weit ist es inzwischen, dass die Regierung solche Bemerkungen keineswegs mehr mit Gelassenheit und Humor nimmt, sondern bissige Karikaturen mittlerweile als Teil einer Konspiration ansieht. Nicht gerade eine Position der Stärke, die zusätzlich dadurch geschwächt wird, dass ständig die Namen möglicher Retter durch die Medien geistern. Einer, der immer wieder genannt wird, ist Domingo Cavallo, einst Wirtschaftsminister im Kabinett von Carlos Menem und "Vater der Konvertibilität", 1999 dann selbst Präsidentschaftskandidat und im Mai 2000 erfolgloser Anwärter auf das Bürgermeisteramt im Hauptstadtbezirk. Ob allerdings seine Installierung als Wirtschafts- oder Superminister den gewünschten Effekt hätte, darf bezweifelt werden, ganz abgesehen von den Auswirkungen auf die brüchige Regierungsallianz zwischen UCR und der Linkspartei FREPASO.
Währenddessen ist die oppositionelle PJ dabei, ihre Reihen zu schließen und interne Differenzen vorläufig auszusetzen: Bei einem großen Gouverneurstreffen in seiner Heimatprovinz La Rioja - von den wichtigen Figuren der Partei fehlte nur der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Carlos Ruckauf - zeigte Parteichef Carlos Menem eindrucksvoll, dass er ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit zurückgekehrt ist.
Mit der ehemaligen Miss Universum, der chilenischen Journalistin Cecilia Bolocco, an seiner Seite und in Umfragen erstmals nach langer Zeit mit besseren Werten ausgestattet als der amtierende Präsident, sehen viele ein mögliches Comeback mit anderen Augen. Bis dahin aber ist es noch ein weiter Weg, zumal die Partei definieren muss, wie weit sie mit der Regierung zusammenarbeiten kann und will: Die Staatsräson verlangt den Verzicht auf jegliche Fun damentalopposition, andererseits soll das eigene Profil sichtbar bleiben. Die erste Nagelprobe für diesen Balanceakt bilden die derzeit laufenden Beratungen zum Haushalt 2001 und die Regierungsvorhaben zur Haushaltskonsolidierung. Auch wenn niemand bezweifelt, dass es spätestens bis zum Jahresende zu einem Kompromiß zwischen Regierung, den PJ-Gouverneuren und der PJ-Mehrheitsfraktion im Senat kommen wird: Gratis wird die Zustimmung der Opposition nicht zu haben sein.