Das Wahlergebnis
Die Zentrumspartei erreichte 24,4 Prozent der abgegebenen Stimmen (–2,9), dicht gefolgt von verschiedenen lokalen Wählerbündnissen mit insgesamt 24,3 Prozent. Die Reformpartei kommt auf 17,3 Prozent, eine Verschlechterung von 2,2 Prozentpunkten gegenüber 2017. EKRE hingegen konnte ihr Wahlergebnis fast verdoppeln – von 6,7 Prozent auf nun 13,2 Prozent (+6,5). Die konservative Isamaa-Partei erreicht 8,4 Prozent und verbessert sich damit gegenüber 2017 nur minimal (+0,4). Ein Überraschungserfolg gelang dagegen der 2018 gegründeten liberalen Partei Eesti 200, die bei den diesjährigen Kommunalwahlen zum ersten Mal antrat und aus dem Stand 6,0 Prozent erreichte. Die sozialdemokratische SDE dagegen halbierte ihr Ergebnis gegenüber 2017 auf nun 5,0 Prozent (–5,4), gefolgt von den Grünen mit 1,1 Prozent (+0,3).[1] Wahlberechtigt waren alle Einwohner ab 16 Jahren mit permanentem Wohnsitz in Estland.
Wandel und Kontinuität: Tallinn und Tartu
In der Landeshauptstadt Tallinn bleibt die Zentrumspartei zwar mit 45,2 Prozent stärkste Kraft, verliert allerdings zum ersten Mal seit 15 Jahren ihre absolute Mehrheit im Stadtrat.[2] Die von öffentlichen Debatten und Korruptionsvorwürfen begleiteten Rücktritte des ehemaligen Premiers Jüri Ratas sowie der Bildungsministerin Mailis Reps (beide Zentrum)[3] um die Jahreswende hatten der Partei zuletzt zugesetzt. Dennoch bleibt der bisherige und zugleich neue Bürgermeister Tallinns, Mihhail Kõlvart (Zentrum), der mit Abstand beliebteste Politiker des Landes.[4] Die Zentrumspartei und die SDE haben nach zweiwöchigen Verhandlungen einen Koalitionsvertrag unterzeichnet, wobei insbesondere die anstehende Verabschiedung des Haushalts für 2022 den Stadtrat in den kommenden Wochen beschäftigen wird.[5]
Die Wahlergebnisse in der Universitätsstadt Tartu sprechen dagegen eher für parteipolitische Kontinuität: Die Reformpartei ist nach leichten Verlusten mit einem Stimmenanteil von 36,8 Prozent nach wie vor deutlich stärkste Kraft im Stadtrat. Ihr folgen EKRE mit 16,6 Prozent und Eesti 200 mit 15,9 Prozent – dem landesweit besten Ergebnis der Partei. In Tartu wurden die Koalitionsverhandlungen zwischen der Reformpartei, SDE und Isamaa ebenfalls erfolgreich abgeschlossen und der bisherige Bürgermeister Urmas Klaas (Zentrum) im Amt bestätigt. Zu den Prioritäten der neuen Koalition gehört neben der wirtschaftlichen Entwicklung Tartus und der Bildungspolitik auch die Vorbereitung des Jahres als europäische Kulturhauptstadt 2024.[6]
Überraschungserfolg in Narva
Für Überraschungen sorgte dagegen die im Nordosten Estlands gelegene Stadt Narva: Hier gewann die Wahlliste der früheren Innenministerin Katri Raik mit einem Stimmenanteil von 43,9 Prozent 15 der 31 Sitze im Stadtrat und verpasste damit nur knapp die absolute Mehrheit. Traditionell gilt Narva als Hochburg der Zentrumspartei, die in diesem Jahr allerdings mit 31,5 Prozent der Stimmen und 10 Sitzen klar auf den zweiten Platz verwiesen wurde.[7] EKRE, die versucht hatte, die russischsprachige Bevölkerung in der an der estnisch-russischen Grenze gelegenen Stadt zu mobilisieren, scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde und verpasste damit den Einzug in den Stadtrat.[8]
Raik, die inmitten politischer Turbulenzen bereits im Dezember 2020 kurzzeitig zur Bürgermeisterin Narvas gewählt worden war[9], deutete das Wahlergebnis als Zeichen dafür, dass sich die Stadt verändert habe: Es hätten sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten „politische Dynastien“ gebildet, die aufgelöst werden müssten. Sie betonte auch, dass Identitätsthemen rund um die Staatsbürgerschaft und russischsprachige Schulen erstmals keine Hauptrolle im Wahlkampf gespielt hätten und vielmehr lokale Themen im Vordergrund gestanden hätten, die alle Bürger gleichermaßen beträfen. Vor diesem Hintergrund könne kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Narva eine estnische Stadt sei.[10]
Raiks Wählerbündnis strebt eine Koalition mit Eesti 200 an.[11] Die geplante Unterzeichnung des Koalitionsvertrages wurde allerdings in letzter Minute durch Korruptionsermittlungen erschüttert: Der gewählte Stadtratsabgeordnete Sergei Gorlatš, der auf Katri Raiks Liste angetreten war, wird beschuldigt, in der Woche vor der Wahl einen Tagesausflug– einschließlich eines Spa-Besuches auf seine Kosten – organisiert zu haben. In diesem Rahmen habe Gorlatš die ca. 40 in Narva wohnhaften Teilnehmer der Reise zum Mitbringen ihrer Wahlunterlagen aufgefordert und sie durch Bereitstellen eines Laptops vor Ort ermuntert, ihre Stimme für ihn abzugeben.[12] Sein Mandat wurde für zunächst drei Monate ausgesetzt. Der Vorfall ist für Raik besonders ärgerlich, da sie sich im Wahlkampf für eine entschiedenere Korruptionsbekämpfung stark gemacht hatte.
Digitales Wählen
Damit rückt eine seit Jahren mit Nachdruck vorangetriebene estnische Besonderheit in den öffentlichen Fokus: die Möglichkeit des digitalen Wählens. Bereits seit 2005 haben Wahlberechtigte in Estland die Option, ihre Stimme in der Woche vor dem Wahlsonntag online abzugeben. Bei den diesjährigen Kommunalwahlen machten 47 Prozent der Wählerinnen und Wähler von dieser Möglichkeit Gebrauch – so viele wie nie zuvor.[13] Besonders Anhänger von Eesti 200, der Grünen und der Reformpartei griffen verhältnismäßig oft auf die Online-Wahl zurück: Der Anteil der digital abgegebenen Stimmen beläuft sich für die drei genannten Parteien auf jeweils über 60 Prozent. Demgegenüber liegt der Anteil der Online-Stimmen bei den Wählern von EKRE sowie der Zentrumspartei nur bei ca. 30 Prozent. Der wohl prominenteste Online-Wähler ist dabei niemand anderes als der frisch gekürte Präsident Estlands, Alar Karis.[14]
Der Wirbel rund um das e-voting bei den diesjährigen Kommunalwahlen begrenzt sich jedoch nicht auf die Vorgänge in Narva: So hat EKRE wenige Tage nach der Wahl Klage eingereicht, da laut Angaben der Partei die Namen von insgesamt 110 ihrer Kandidaten auf der offiziellen Website valimised.ee in manchen Webbrowsern bei entsprechenden Voreinstellungen automatisch durch Google übersetzt worden seien. Ein Beispiel ist der EKRE-Kandidat Silver Kuusik, dessen Vorname durch das estnische Wort „Hõbe“ (Silber) ersetzt worden sei. Die Partei, die der Online-Wahl seit Längerem skeptisch gegenübersteht, befürchtet Nachteile für die betroffenen Kandidatinnen und Kandidaten. Das nationale Wahlamt wies die Bedenken hingegen mit dem Verweis darauf zurück, dass das Problem lediglich auf der Informationsseite und nicht auf der e-voting-Eingabemaske selbst aufgetreten sei. Auch sei die automatische Übersetzung auf der gesamten Webseite bereits zwei Tage nach Beginn der Online-Wahl unterbunden worden.[15]
[1] kov2021.valimised.ee/en/election-result-by-party/index.html
[2] kov2021.valimised.ee/en/election-result-by-party/result-0000-0784.html
[4] news.err.ee/k/2021-local-government-elections
[5] news.err.ee/1608396596/gallery-center-and-sde-sign-tallinn-coalition-agreement
[6] news.err.ee/1608386294/reform-isamaa-sde-sign-coalition-deal-in-tartu
[7] kov2021.valimised.ee/en/election-result/result-0045-0511.html
[8] news.err.ee/1608215284/ak-ekre-is-growing-support-in-ida-viru-county
[9] news.err.ee/1223416/gallery-katri-raik-elected-narva-mayor
[10] news.err.ee/1608380264/katri-raik-narva-has-changed
[11] news.err.ee/1608379688/electoral-alliance-eesti-200-to-form-coalition-in-narva
[12] news.err.ee/1608390995/narva-councilor-suspected-of-vote-buying-suspended-for-at-least-3-months
[13] news.err.ee/1608372906/local-elections-2021-results
[14] news.err.ee/1608369009/more-than-170-000-people-have-cast-their-votes-in-local-elections