Länderberichte
Katastophenmeldungen aus Indien sind nicht gerade selten. Dabei ist schon allein das Ausmaß der Naturkatastrophen wie Dürre, Überflutungen, Wirbelstürme und Erdbeben bedrückend. Hinzu kommen eine Vielzahl sozialer, ethnischer und religiöser Konflikte, deren Auswirkungen für die Menschen oft nicht weniger verheerend sind. Ein im vergangenen Herbst erschienener "India Disasters Report" beleuchtet auf 400 Seiten das Spektrum und das Ausmaß der indischen Katastrophen.
Das Erdbeben mit dem Epizentrum im Westen des Bundesstaates Gujarat übersteigt jedoch das vielen in Indien vertraute Ausmaß an Katastrophen bei weitem. Das jetzt am schwersten betroffene Gebiet hat etwa die Größe von Nordrhein-Westfalen. Selbst zwei Wochen nach dem Beben gibt es dort noch Siedlungen, in die noch keine Hilfsgruppen vorgestoßen sind. Es war schon im Frühjahr des vergangenen Jahres von einer schrecklichen Dürre betroffen, und es steht zu befürchten, dass die Dürreperiode in diesem Frühjahr - sobald die gröbsten Aufräumarbeiten geschafft sind - genau so schlimm werden wird. Bei den gelegentlichen Nachbeben der vergangenen zwei Wochen wurde an den Reaktionen der Menschen - insbesondere der Kinder - deutlich, wie viele von ihnen am Rande ihrer psychologischen Belastbarkeit leben.
Unverändert gering ist jedoch die Fähigkeit der Verantwortlichen in Indien, mit Naturkatastrophen umzugehen. Nach den Erschütterungen am 26. Januar hat es 36 bis 48 Stunden gedauert, bis die Verantwortlichen ein halbwegs realistisches Bild vom Ausmaß des Schadens hatten. Eine russische Eliteeinheit, die schon bei Erdbeben in Armenien, Taiwan und der Türkei Erfahrungen gesammelt hatte, musste 24 Stunden warten, bevor ihre Einreise genehmigt wurde. Kompetente Hilfe von indischer Seite leistet die Armee, obwohl auch sie nicht spezialisiert ist. Inzwischen hat die indische Regierung eine Soforthilfe von umgerechnet 235 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Weitere 611 Millionen DM sollen in den kommenden Jahren durch eine Art "Solidaritätszuschlag" von den etwa 1-2% der Bevölkerung aufgebracht werden, die in Indien Einkommensteuer zahlen.
Die internationale Hilfe beträgt ein vielfaches davon, und mehr als 100 internationale Organisationen sind engagiert. Experten beziffern die tatsächlich benötigte Hilfe auf mindestens zehn Milliarden DM. Die Zahl der stark betroffenen Dörfer wird mit 600 angegeben. Dies wirft viele Fragen auf, die nicht primär technischer, sondern vor allem politischer Art sind: Welche Hilfe wird von wem benötigt? Wie soll sie verteilt werden? Gibt es einen Maßstab für eine "gerechte" Verteilung? Wer setzt Prioritäten? Auf diese Fragen gibt es keine befriedigenden Antworten.
Die Hilfe, die jetzt benötigt wird, lässt sich in drei Stufen unterteilen. Zunächst geht es um die unmittelbaren Hilfsleistungen in Form von Zelten, Medikamenten und technischem Gerät. Die zweite Stufe bildet die Rehabilitation der am stärksten Betroffenen, die nicht allein finanziell zu leisten ist. Die dritte Stufe schließlich ist die Rekonstruktion der gesamten Infrastruktur, die nicht nur viel Geld, sondern auch viel Zeit erfordern wird. Der Kredit, den die Weltbank zur Verfügung gestellt hat, ist ausschließlich für diese Art von Rekonstruktion bestimmt, und hier beginnen schon jetzt die Verteilungskämpfe. Denn diese Mittel werden nicht zusätzlich zur Verfügung stehen, sondern müssen woanders eingespart werden. Außerdem warnen schon jetzt die Sprecher der Armen davor, dass die Rekonstruktion in dem zerstörten Gebiet ausschließlich den Reichen zugute kommen wird.
Zwar ist Gujarat einer der "reicheren" Bundesstaaten in Indien. Aber die meisten der Menschen, die jetzt Hilfe benötigen, bedurften dieser Hilfe auch schon vor dem Erdbeben. Ein Sprichwort macht jetzt die Runde: "Die Menschen werden nicht vom Erdbeben erschlagen, sondern von ihren Häusern." Die meisten der Häuser, die das Erdbeben überstanden haben, gehören denen, die es sich leisten konnten, Bauvorschriften einzuhalten. Niemand glaubt daran, dass die zur Verfügung stehenden Hilfsgelder dafür verwendet werden, den jetzt Obdachlosen "erdbebensichere" Unterkünfte zu bauen. Bei einer Umfrage Anfang Februar gaben 80% der Befragten an, dass sie den Einfluss von Korruption bei den Rekonstruktionsmaßnahmen der kommenden drei Jahre für "sehr groß" halten.
Indien ist ein bemerkenswert demokratisch regiertes Land, jedoch mit einer äußerst unflexiblen Bürokratie. Seit der Unabhängigkeit lieben alle indischen Regierungen ihre Fünfjahrespläne, aber auf die fast jährlich eintretenden Katastrophen war noch keine adäquat vorbereitet. Fast schon rituell wird darüber geklagt, dass die Bürokratie nicht in der Lage ist, rasch und effizient zu handeln.
Es darf immerhin als Durchbruch bewertet werden, dass nunmehr eine "Gujarat Earthquake Management Authority" (GEMA) eingerichtet worden ist, die den beginnenden Wiederaufbau koordinieren soll. Denn in der öffentlichen Verwaltung, wie sie sich in Indien entwickelt hat, in der der Instanzenweg so viel wichtiger ist als das Ergebnis und die Hierarchie so viel mehr wiegt als die Leistung, übernimmt auch in Krisensituationen keiner Verantwortung für eine Entscheidung, zu der er nicht beauftragt worden ist.
Nach den Erfahrungen des defizitären Krisenmanagements der vergangenen zwei Wochen werden einige Lektionen besonders intensiv in den indischen Medien diskutiert. Das erste ist, daß die außerordentlichen Leistungen, die aus der Gesellschaft selber erwachsen sind, mehr Anerkennung verdienen. Es ist wirklich beeindruckend, wieviel Hilfe von den bestehenden Nichtregierungsorganisationen und Selbsthilfegruppen derzeit geleistet wird. Von überall aus Indien reisen kleinere Gruppen in das betroffene Gebiet, um mitzuhelfen. Zum Glück können große Teile der internationalen Hilfsgelder direkt diesen Gruppen zufließen.
Eine der überfälligen Lektionen für die Regierung besteht darin, diese sich innerhalb der Gesellschaft formierenden Gruppen stärker als bisher als Partner anzuerkennen und ihnen auch bei der Planung und der Kontrolle Mitverantwortung einzuräumen. Ferner müssten auch die Körperschaften der lokalen Selbstverwaltung wesentlich stärker in die Mitverantwortung eingebunden werden.
Zu den weiteren Lektionen, die jetzt gelernt werden könnten, gehört die Intensivierung des Kampfes gegen Korruption. Es sollte in Zukunft nicht mehr als profitabel erscheinen, gegen ein lächerlich geringes Schmiergeld Bauvorschriften zu umgehen. Ferner bedarf die Rechtsprechung dringend einer umfassenden Reform. Sie ist nicht nur für ihre Langsamkeit und Ineffizienz bekannt, die Lage der Überlebenden des Erdbebens wird vor allem wieder deutlich vor Augen führen, wie wenig Rechtshilfe es für die ärmere Bevölkerung gibt.
Eine neue Entwicklung besteht jetzt darin, dass ganze Dörfer en bloc für den Wiederaufbau Sponsoren finden. Hier treten neuerdings vor allem die radikalen hindunationalistischen Organisationen RSS und VHP in den Vordergrund, aber auch die Industrie oder Verbände. Die "Confederation of Indian Industries" zum Beispiel hat die komplette Verantwortung für 50 Dörfer übernommen. Dass vor allem politische Gruppen auf diese Art Einfluss gewinnen wollen, wird wohl in Kauf genommen werden müssen.
Eine wichtige Hoffnung, die sich den Überlebenden eröffnet, ist die Erfahrung der Solidarität. Das Ausmaß, in dem unmittelbare Hilfsleistungen von gesellschaftlichen Gruppen selber erbracht worden sind, sollte deren Selbstvertrauen stärken. Sie sollten darin unterstützt werden, für ihre Leistungen Anerkennung in Form von Mitverantwortung zu fordern. Wenn es der Regierung gelingt, den jetzt beginnenden Wiederaufbau in diese Richtung zu koordinieren, könnte sie einen dauerhaften Beitrag zur Entwicklung einer indischen Zivilgesellschaft leisten.