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Länderberichte

Millers „Flucht nach vorne“

von Dr. Henning Tewes

Vorgezogene Neuwahlen im Juni 2004

Staatspräsident Kwasniewski und Ministerpräsident Miller haben Parlamentswahlen für den 13. Juni 2004 bekannt gegeben. (Dies ist auch der Tag der Wahlen zum Europäischen Parlament). Dieser um etwa 15 Monate vorgezogene Termin war zunehmend wahrscheinlich geworden, nach dem die SLD am 1. März die Koalition mit der Bauernpartei PSL beendet hatte und Miller einer Minderheitsregierung vorstehen musste.

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Die Spannungen zwischen Kwasniewski und Miller waren in den letzten Wochen dramatisch gestiegen. Kwasniewski hatte am 29. März Miller indirekt den Rücktritt nahe gelegt; Miller hatte sich dagegen gewehrt. Der am 02. April vorgestellte Kompromiss signalisiert daher, dass die beiden führenden Politiker der SLD einen Schritt aufeinander zugegangen sind: Miller akzeptiert, dass seine Regierung nicht bis 2005 wird durchhalten können; Kwasniewski hat der Minderheitsregierung Millers im Gegenzug seine Unterstützung zugesichert.

Gleichzeitig stellten Miller und Kwasniewski einen drei Punkte unfassenden Plan vor. Dieser umfasst: (1) Die Konzentration auf das EU-Referendum am 8. Juni, (2) die Vorbereitung auf Polens EU-Beitritt in der Rechtsangleichung sowie (3) die Reform der öffentlichen Finanzen.

Skepsis bleibt

Trotz der gestrigen Ankündigungen sind die meisten Beobachter nach wie vor skeptisch. Die Finanzmärkte zum Beispiel haben in keiner Weise reagiert. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen:

  1. Miller steht einer ziemlich chaotischen Regierung vor, welche gerade gestern wieder durch zwei Ministerwechsel in Schlüsselressorts (Gesundheit und Privatisierung) in den Schlagzeilen war. Die beiden abgelösten Minister waren erst Anfang des Jahres ins Amt gekommen, beide hatten sich nicht gegen wichtige Interessenvertreter durchsetzen können, deren Nähe zum Ministerpräsidenten gut bekannt ist. Die Zahl der Ministerwechsel seit Beginn der Regierung schwächt mittlerweile den Ministerpräsidenten selbst.

  2. Die Regierung hat nach wie vor keine Mehrheit im Sejm. Beobachter gehen zwar von einer stillen Unterstützung der SLD durch Andrzej Leppers „Selbstverteidigung“ aus. Diese Unterstützung wird jedoch bei den wichtigen Reformprojekten nicht zum Tragen kommen. Dies betrifft die EU-Rechtsangleichung, besonders aber die Reform der öffentlichen Finanzen. Der in den letzten zwei Jahren völlig aus dem Ufer gelaufene Staatshaushalt (Defizit bei fast 6%) bedarf dringend einer Reform, um den Gebietskörperschaften genügend Eigenmittel für die Absorption der EU-Strukturfonds zuzusichern. Zwar könnte die Bürgerplattform aus Staatsräson die Regierung Miller unterstützen, ob es aber in den Reihen der SLD wenige Monate vor der Parlamentswahl genügend Unterstützung für tiefe Einschnitte geben wird, darf getrost bezweifelt werden.

Welche Veränderungen bringen Neuwahlen?

  1. Die SLD: Die Umfragwerte der Regierung sind im März deutlich gefallen (17% Befürworter, 75% Gegner), Millers persönliche Unfragewerte sind seit Amtsantritt deutlich gefallen (Befürworter von 40% auf bis zu 26%, Gegner von 28% auf 62%). Viele Abgeordnete beginnen, sich um ihren Einzug in das nächste Parlament Sorgen zu machen.

    Mit der gesunkenen Popularität Millers ist die Versuchung groß, sich vom Ministerpräsidenten zu distanzieren. Miller hat zwar mit der gestrigen Ankündigung die Flucht nach vorne ergriffen, wie auch in den letzten Wochen überhaupt mit Tapferkeit versucht, das Bild eines entschlossenen, selbstsicheren Politikers zu schaffen. Dies darf über seine Schwäche allerdings nicht hinwegtäuschen.

    Für Miller liegt im EU-Referendum eine Chance; wird dies sicher gewonnen, profitiert auch Miller. Ob der Ministerpräsident dann allerdings Spitzenkandidat der SLD bei den Wahlen 2004 wird und wen die SLD 2005 ins Präsidentschaftsrennen schickt, steht auf einem anderen Blatt.

  2. Die „bürgerliche“ Opposition, PO und PiS. In den letzten Umfragen liegt PiS mit knapp 20% deutlich vor der PO mit etwa 10%. Die Selbstsicherheit bei PiS ist dadurch – und durch den Erfolg Lech Kaczynskis bei den Bürgermeisterwahlen in Warschau – noch weiter gewachsen. PiS geht davon aus, dass ihr der Wahltermin 2004 gelegen kommt, weil die Unzufriedenheit mit der SLD zwar schon groß sein wird, aber die erwartete Welle gesellschaftlicher Unzufriedenheit nach dem EU-Beitritt (wie in Schweden und Österreich), welche den populistischen Parteien zu gute kommen würde, noch vor ihrem Höhepunkt steht.

    Die PO befindet sich in einer Phase der innerparteilichen Demokratisierung. Die durch die Änderung des Statuts notwendig gewordene Parteireform ist eingeleitet, bis zum Parteitag am 1. Juni sollen auf Kreis- und Wojewodschaftsebene die Vorstände gewählt sein (welche bisher vom Parteipräsidium ernannt wurden). Mit dem Parteitag im Juni sind auch die Auseinadersetzungen an der Spitze verbunden.

    Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Plazynski wehrt sich mit allen Kräften gegen die Angriffe aus der Partei. Andrzej Olechowski, welcher 2001 die PO mit gegründet und nach seiner Niederlage gegen Lech Kaczynski in Warschau im November 2002 seinen Rückzug aus der Politik bekannt gegeben hatte, scheint ein Comeback zu planen. Anfang der Woche gab er seinen Beitritt zur PO bekannt (sic!); dies wird unter Beobachtern als eine Positionierung vor dem Parteitag gewertet. Unterstützung hätte Olechowski von Pawel Piskorsi, die Position von Donald Tusk ist unklar.

  3. Die Populisten: Die „Selbstverteidigung“ liegt relativ stabil bei über 15%, die Liga der Polnischen Familien (LPR) bei etwa 10%. Dass der Termin der Parlamentswahlen mit denen der Sejmwahlen zusammenfällt, ist für das Europäische Parlament bedeutsam, denn EU-Gegner nehmen gewohnheitsgemäß ungern an EP-Wahlen teil. Mit den gleichzeitigen Parlamentswahlen wird diese „Regel“ in Polen nicht halten, die Wahlbeteiligung der Wähler von „Selbstverteidigung“ und LPR wird hoch sein, der Anteil der Abgeordneten dieser beider Parteien an den 54 polnischen EP-Abgeordneten auch.

  4. Die PSL: Nach dem Ausscheiden aus der Regierung befindet sich die PSL in einer Phase neuer Orientierung. Sie muss in den nächsten Monaten klären, ob sie wieder mit der SLD zusammen eine Koalition bilden will oder ob sie auf Äquidistanz zwischen der SLD auf der einen Seite und PO/PiS auf der anderen Seite gehen will. Auch die Führungsfrage ist ungeklärt. Ob Jaroslaw Kalinowski Parteivorsitzender bleiben wird, ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen?

Koalitionsmöglichkeiten und Regierungsbildung

Entscheidend für die Zukunft Polens ist, ob nach den Wahlen eine stabile Regierung gebildet werden kann. Dies hängt entscheidend vom Erfolg der beiden extremen Parteien ab – „Selbstverteidigung“ und LPR.

Dass die SLD ihren Wahlerfolg von 2001 nicht wird wiederholen können, scheint sicher. Wenn sie bei ungefähr 30% landet, ist dies noch immer kein schlechtes Ergebnis. Damit stellt sich die Frage, ob sie eine Neuauflage der Koalition mit der PSL wagen wird, und wenn ja, ob dies zu einer Mehrheit reicht. Aus heutiger Sicht scheint eine erneute Regierung zwischen SLD-UP und PSL rechnerisch unmöglich (sie läge bei unter 40%).

Aber auch die Parteien der Mitte-Rechten könnten kaum auf eine Mehrheit hoffen. Auch wenn PiS sich bei etwa 20% stabilisiert, die PO sich bei gut 10% hält und es PiS gelingen sollte, die PSL aus der Partnerschaft mit der SLD herauszulösen, wäre wohl noch lange keine Mehrheit im Sejm gegeben.

Damit blieben nur drei Möglichkeiten:

  • Die erste wäre eine erneute Minderheitsregierung unter starker Beteiligung des Präsidenten. Der aber würde nach 2005 nicht mehr Kwasniewski heißen und es ist auch nicht vorherzusagen, welche Rolle der neue Präsident in der Regierungsbildung spielen könnte.
  • Die zweite Möglichkeit wäre eine linke Regierung unter Beteiligung der „Selbstverteidigung“.
  • Die dritte Möglichkeit wäre eine rechte Regierung unter Beteiligung der LPR.
Alle drei Möglichkeiten sprechen nicht für stabile Regierungen.

Daraus folgt, dass aus eine stabile Regierungsbildung in Polen unwahrscheinlich bleibt, so lange die „Selbstverteidigung“ und LPR bei ihrer heutigen Stärke bleiben. Viele Beobachter setzten ihre Hoffnungen in eine Regierung aus SLD und PO. Dies scheint aus heutiger Perspektive aber unwahrscheinlich. Denn die Tore der Regierung stehen der PO schließlich offen. Wenn sie heute standhaft „nein“ sagt, warum sollte sie morgen „ja“ sagen? Es müsste sich in der Partei zunächst einiges ändern und es wäre daher wohl auch eine andere PO, die einer SLD-geführten Regierung beiträte.

Zur Verdeutlichung möglichen Regierungskoalitionen dienen die folgenden Schaubilder:

/documents/252038/253255/sld-up_polen.gif/b2f4c384-4314-8220-e771-21dc45553fa8

/documents/252038/253255/sld-up_polen1.gif/eb32535a-2eb7-243e-e24c-f25b79b563e5

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