Länderberichte
Man wird analysieren, dass die Wahlen am 10. Mai 2004 in den Philippinen relativ ordnungsgemäß und friedlich verlaufen sind. Die amerikanische Botschaft hat das gleich am Wahlabend bestätigt. Und wahrscheinlich stimmt es ja auch - im Grossen und Ganzen.
Für die Philippinos sind Wahlzeiten aufregende Zeiten, zumal für die aufrechten Kämpfer der Demokratiebewegung. Hatte man einst unter Marcos keine Wahl, so ist heute noch immer nicht gesichert, dass das Volk sagt, was es wirklich will und die Minderheit danach akzeptiert, was die Mehrheit entschieden hat. Wahlbetrug und Wahlmanipulation sind allgegenwärtige Themen. Stimmen werden gekauft, und wenn das nicht hilft, gibt es immer noch die Möglichkeit “kreativ” zusammenzuzählen. Die Maßnahmen gegen dieses Übel in dem überwiegend katholischen Land sind vielfältig: mahnende Worte der Bischöfe; gemeinsames Beten der Präsidentschaftskandidaten vor der Wahl; TV-Spots, die dazu aufrufen nur ehrliche Politiker mit Programm zu wählen, und nicht zuletzt das Wirken der Nicht-Regierungs-Organisation NAMFREL, der National Movement for Free Elections.
300.000 Freiwillige hat NAMFREL rekutiert, um die ordnungsgemäße Abwicklung der Wahl in 200.000 Wahllokalen zu überprüfen. NAMFREL hat, über was die zuständige Behörde für die Wahlen, die Commission on Elections (COMELEC), nicht verfügt: Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit. Und die NAMFREL-Leute haben es über die Jahre geschaft, offiziell Zugang zu den Wahllokalen zu erhalten, und dieses Mal bekommen sie sogar wie COMELEC eine Kopie der Wahlergebnisse in allen Wahllokalen. Und da NAMFREL über eine clevere auf SMS und Internet basierende Technik verfügt, werden sie auch früher als COMELEC in der Lage sein, ein Bild des tatsächlichen Wahlausganges zu zeichnen.
Doch das ist am 10. Mai erst einmal Zukunftmusik. Jetzt steht im Vordergrund, Präsenz zu zeigen und zu beobachten, wie die rund 42 Millionen Wahlberechtigten mit Kugelschreiber und Bleistift bis zu 36 Namen – vom Präsidenten, über Senatoren und Abgeordnete, bis hin zu Provinz- und Kommunalpolitikern - auf den Wahlzettel schreiben. Eigentlich sollten die Wähler dieses Mal auf einem maschinenlesbaren Zettel nur noch Kreuze machen. Doch ein bereits 1997 verabschiedetes Gesetz über die Automatisierung der Wahlauszählung wurde nach 1998 und 2001 auch 2004 von COMELEC nicht umgesetzt.
Ich bin nach Cotabato City gereist, dem Sitz der Autonomous Region of Muslim Mindanao und treffe mich dort mit den NAMFREL-Offiziellen. Cotabato City verfügt über eine gemischte christlich muslimische Bevölkerung und ist selbst nicht Teil der Autonomous Region. Im Hotel treffen wir Joe, einen “Political Officer” der US Botschaft, der die Wahlen in der Stadt beobachten will.
Wir aber fahren nach Maguindanao, eine der 5 mehrheitlich muslimischen Provinzen in Mindanao. Die Leute aus der NAMFREL-Gruppe, mit denen ich unterwegs bin, kenne ich gut. Father Ramon Bernabe, der Präsident der Notre Dame University in Cotabato ist dabei und Benny Bacani, der Dekan der juristischen Fakultät, mit dem wir zusammen ein Programm für die Stärkung des Parlamentes in der Autonomous Region aufgelegt haben. Mit uns sind auch Caesar und Rustico sowie Sister Linda und Sister Pilar von der katholischen Gemeinde. Warum denn kein Moslem in der Gruppe ist, will ich wissen, und Benny erklärt mir, dass NAMFREL keinen der sich angebotenen Freiwilligen aus den Gemeinden Maguindanaos akzeptieren konnte. “Das sind von einzelnen Politikern kontrollierte Regionen und alle, die zu uns gekommen sind, sind eindeutig parteiisch”. Und so gibt es statt Beobachter an jedem Ort lediglich zwei Teams, die durch Maguindanao fahren und stichprobenhaft einige Wahllokale besuchen.
Um 9 Uhr 30 erreichen wir unser erstes Ziel, eine aus Bambus gebaute Einraumschule, die mit 2 Tischen und 3 Stühlen ausgestattet ist. Die Lehrerin, zugleich Wahlvorsteherin, begrüßt uns freundlich. Draußen sitzen die Männer und rauchen, Jugendliche spielen auf einem schiefen Gelände Basketball. Dies Szenerie wirkt friedlich. Ramon wirft mir einen Blick zu: “the mayor is unopposed”. Aha, Gegenkandidaten gibt es hier auf der kommunalen Ebene keine. Aber warum es in der Schule denn keine Tische und Stühle gebe, frage ich. Und man erklärt mir, dass die Möbel in den Häusern der Eltern gebräucht würden und die Schüler die Stühle immer mitbringen müssen. Doch heute kommen keine Schüler, und so sitzen die Wähler draußen im Lehm und versuchen sich an die 36 Personen zu errinern, die sie wählen wollen, wobei ihnen die offiziell zugelassenen Beobachter der “unopposed” Partei über die Schulter schauen. “Wenigstens wählen sie hier”, sagt Benny Bacani, und scheit gar nicht so unzufrieden.
Stop Nr. 2 ist eine grössere gemauterte Schule. Vor 4 Klassenzimmern hängen Wählerlisten. Im Schulhof halten sich einige unbeteiligt wirkende Menschen auf, die scheinbar nicht wissen, wie sie an diesem Feiertag ihre Zeit vertreiben sollen. In den Wahllokalen sehen wir nur die heute für die Wahl eingesetzen Lehrer. Nein, Wähler seien jetzt nicht da, sagt man uns. Man habe schon um 7 Uhr begonnen, 2/3 hätten ihre Stimme schon abgegeben und jetzt sei Pause, erklärt mir eine ältere Lehrerin, die die unverschlossene Wahlurne unter ihren Schreibtisch gestellt hat. Auch in den anderen Zimmern ist gerade Pause. Für die NAMFREL Leute ein klarer Fall: “Hier wird nicht gewählt.” Und bei Stop Nr. 3 hören sie von einem ehemaligen Schuler den Notre Dame University, dass die Wahl in der von uns zuvor besuchten Gemeinde schon vor Öffnung der Wahllokale abgeschlossen worden sei. “Die Leute kommen nur, um ihr Geld abzuholen”. Wie es denn möglich sei, dass sich niemand dagegen wehre, will ich wissen, und wie so etwas bei über 1000 Wahlberechtigten unentdeckt bleibe. Man antwortet mir freundlich und geduldig, indem man mich auf die armseligen Buden im Umfeld verweist und auf die 116 toten Wahlkampfhelfer und Campaign Manager, die die Wahlkampagne 2004 bis zu diesem Zeitpunkt zu verzeichen hatte.
Während man dem Deutschen das wirkliche Leben erklärt, füllen die Wahlbeobachter der auch hier “unopposed” Mehrheitspartei bei unserem dritten Stop die Wahlzettel von vorbeikommenden Wählern aus. “Das geht eigentlich nicht”, sagt Benny, “nach nach dem Gesetz können sich Wähler, die nicht lesen oder schreiben können, helfen lassen, aber nur von ihren Verwandten. Die Beobachter der Parteien dürfen die Auszählung überwachen, haben aber im Wahllokal nichts zu suchen”. Vielleicht sind es ja Verwandte, denke ich, und steige ins Auto.
Wir erreichen unser 4. Ziel, und sehen zum ersten Mal, dass Wähler auf den ausreichend vorhandenen Tischen Sichtblenden in Form von gefaltenem Karton etwa der Grosse A3 benutzen, und so etwas wie eine Privatheit der Wahlhandlung herstellen. “Diese Kartons sind wirklich sinnvoll”, sagt Ramon, “zumal auf der Innenseite alle Kandidaten aufgeführt sind”. So müssen sich die Wähler nicht auf ihre mitgebrachten Notizen oder die vor dem Wahllokal ausgegebenen Parteiinformationen oder gar die Wahlhelfer der Parteien verlassen. Freilich sind auch hier die Wahlurnen unverschlossen. Dennoch sind die NAMFREL-Leute zufrieden. Nach nicht einmal 10 Minuten verabschieden wir uns. “Das ist eine überwiegend christliche Gemeinde”, bemerkt Sister Linda nicht ohne Stolz. Wir fahren zum Mittagessen und haben dabei mehrere Strassensperren zu überwinden. Busse, PKWs, Trucks, alles wird kontrolliert. Doch den NAMFREL- Fahrzeugen machen Militär und Polizei sofort Platz.
Bei Mittagessen erfahren wir von der 2. Beobachtungsgruppe, dass es im angrenzenden Sultanat Kudarat einen blutigen Zwischenfall gegeben hat. Offenbar sollte eine Wahlurne entführt werden. Das Militär hat eingegriffen. Tote soll es gegeben haben und Verletzte. Der Pfarer habe NAMFREL um Hilfe gebeten. “Da kommen wir mit unseren Maguindanao-Ausweisen nicht hin”, sagt Bacani, “unterichtet NAMFREL im Sultanat Kudarat”. Bei Hähnchenschenkel, Burgern, Spaghetti und Pommes im Jollibee Restaurant, einem philippinischen McDonald’s Imitat, erfahre ich dann, dass sich die Schießerei in einer christlichen Gemeinde ereignet hat und es dort an Wahltagen viel gefährlicher sei als in den muslimischen Gebieten, weil diese meist eindeutig politisch kontrolliert sind. “Hier ist es am Wahltag sicher”, sagt Benny. Und natürlich weiss ich, dass diese Botschaft an das Sicherheitsempfinden des Deutschen gerichtet ist.
Am Nachmittag sehen wir im wesentlichen dasselbe wie am Vormittag: keine Tische und Stühle für Wähler, viele Leute in den Wahllokalen, die da eigentlich nichts verloren haben, herumliegende halb oder ganz ausgefüllte Stimmzettel auf den Schreibtischen der Lehrer, immer wieder unverschossene Wahlurnen und vor allem fehlende Sichtblenden. Manchmal sitzen die Wähler in Gruppen zusammen und diskutieren, wer zu wählen ist. Andere wirken durch die Anwesenheit der vielen Helfer und Beobachter (uns eingeschlossen) verunsichert oder gar belästigt und bedecken mit ihren Händen den Wahlzettel. Bei Stop Nr. 5 beginnen die Lehrer ganz offensichtlich erst nach unserer Ankunft, die ausgefüllten Wahlzettel in die, auch hier unverschlossenen, Urnen zu geben. Bei Stop Nr. 6 gibt es viele Beschwerden, die Wählerliste sei nicht komplett. In der 7. Gemeine haben schon alle ihre Stimme abgegeben. Man wartet jetzt nur noch auf die offiziele Erlaubnis, die auch hier unverschlossenen Wahlurnen auf einen Pick-up zu verladen und in die City Hall bringen zu dürfen, wo dann alle Wahllokale gemeinsam ausgezählt werden.
Und dann machen wir doch noch eine neue Erfahrung bei unserem letzten Stop. Auf einen Hügel befindet sich eine Einraumschule mit betoniertem Bodem aber nur einem Tisch und einem Stuhl. Die kleine Schule wird bewacht wie ein militärisches Hauptquartier. 6 schwer bewaffnete im Wahllokal, 4 davor und einer dahinter, der einen richtigen Gefechtsstand aufgebaut hat, als ob er jederzeit einen Angrift von Abu Sayyaf oder Moro Islamic Liberation Front (MILF) aus den Reisfeldern und Kokusnussplantaschen erwarten würde. Dann halten unten an der Strasse zwei überdimensionierte Chevrolets. Der Mann, der da zum Wählen kommt, ist der Landrat. Ramon und Benny kennen ihn. Wir erfahren, dass dies hier ein ziemlicher “Hotspot” ist und die Opposition zu allem fähig sei. Wir sollten uns lieber nicht zulange aufhalten, sagt der Landrat. Benny, der sich wohl an das Mittagessen erinnert, befolgt den Rat und drängt uns zum Gehen. Ohnehin haben wir genug gesehen.
Zurück in Cotabato City treffen wir uns mit dem 2. Team in der Universität und tauschen unsere Erfahrungen aus. “Als NAMFREL teilen wir nur unsere Beobachtung mit”, sagt Benny, “andere werden möglicherweise ihre Schlussfolgerungen daraus ziehen.“ Draussen läuft der Fernseher und bietet erste partielle Umfrageergebnisse. Wer immer hinten liegt, beschuldigt den anderen des Wahlbetrugs. “Immerhin gehören die dominierenden Leute unterschiedlichen Parteien an, so dass sich Unregelmäßigkeiten bei den nationalen Wahlen ausgleichen”, sagt einer aus den 2. Gruppe. Doch niemand will das kommentieren. Benny checkt seine Video-Aufnahmen. Wir schreiben unseren Bericht. Er fällt nicht wesentlich anders aus, als bei den Wahlen davor.
Ob denn NAMFREL etwas dagegen hätte, wenn ich meine Beobachtungen zu Papier bringe, frage ich. Nein, natürlich nicht, lautet die Antwort und vielleicht könnte ich dabei die Frage aufwerfen, welchen Sinn diese Art von Wahlen eigentlich machen.” Wenn nur einer entscheidet, dann ist das doch das undemokratischte aller denkbaren Verfahren”, wirft jemand ein. Ich will noch etwas sagen, doch so schnell fällt mir nichts ein.
Am späteren Abend treffe ich mich mit Benny, Ramon und Joe im Hotel zum Abendessen. Sieht alles ziemlich geordnet aus in Cotabato City, weiss Joe zu berichten. Benny und Ramon, die am Morgen in der Stadt gewählt haben, nicken zufrieden. Wir reden über unsere Beobachtungen, den vermutlichen Wahlausgang, die Zukunft der Autonomous Region, die Friedensverhandlungen zwischen Regierung und MILF sowie die Rolle, die Europäer und Amerikaner dabei spielen könnten und sollten. Und weil Joe und ich Ausländer sind, und wir dem Ober versichern, dass wir mit der Wahl eigentlich gar nichts zu tun haben, bekommen wir auch ein Bier. Alkohol ist am Wahltag eigentlich verboten. Aber so genau will das niemand nehmen, am Abend dieses 10. Mai 2004 in Cotabato City.