Länderberichte
Diese fanden in den schweren Ausschreitungen vom 12. und 13. Februar d.J. ihren bisherigen Höhepunkt. Zwar hat Präsident ''Gonzalo Sánchez de Lozada'' erste Konsequenzen im Rahmen einer Kabinettsumbildung gezogen, die Konflikte in Institutionen und Gesellschaft selbst bleiben bisher jedoch ungelöst. Zusätzlich zu dem Schock, den das Land nach den Unruhen zu verarbeiten hat, sehen sich Politik und Gesellschaft zur Zeit mit schweren wirtschaftlichen und sozialen Problemen konfrontiert, die sich besonders in Streiks und Protestmaßnahmen von drei gesellschaftlichen Gruppen (Kokabauern, Gesundheitspersonal und Lehrer) ausdrücken.
Steuererhöhung und Meuterei der Polizei
Bolivien galt in den letzten 20 Jahren oft als das stabilste und sicherste lateinamerikanische Land. Die 1982 begründete Demokratie hatte eine Vielzahl von vielversprechenden Reformen erfahren. Zwar kam es immer wieder zu “Kampfmaßnahmen einzelner Gruppen, wie Minenarbeitern oder Kokabauern, aber dies stellte keine Gefährdung des demokratischen Systems dar, denn die Ordnungskräfte, sowohl Polizei als auch Militär, standen loyal zur Regierung.
Die noch junge Präsidentschaft Sánchez de Lozadas, der am 6. August 2002 zum zweiten Mal nach 1993 dieses Amt antrat, wird von den Konflikten des 12. und 13. Februars überschattet. Besonders schwerwiegend werden die Ausschreitungen deswegen eingeschätzt, weil sich die Polizei an ihnen beteiligte und somit die Ordnung und Stabilität des Staates gefährdeten. Hierdurch wurde die schwerste institutionelle Krise Boliviens seit Beginn der Demokratisierung ausgelöst.
Am 9. Februar hatte der Präsident Boliviens, Gonzalo Sánchez de Lozada, in einer Fernsehansprache die Einführung einer Einkommensssteuer von 12,5 Prozent auf alle Einkommen ab der Höhe von zwei Mindestgehältern, 800,- Bolivianos ( = rund 100,- Euro), verkündet. Bei Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds hatte sich die dringende Notwendigkeit einer Senkung des Defizits des Staatshaushalts gezeigt. Daher wurde die Einkommenssteuer in den Haushaltsplan der Regierung aufgenommen, der wenige Tage später dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt wurde. Fast alle organisierten Gruppen des Landes, Lehrer, Gewerkschaften, Kleinbauern, Journalisten, Unternehmer etc., sprachen sich sofort gegen diese Maßnahme aus und kündigten teilweise Protestmaßnahmen an.
In diesem schwierigen Klima begann am 11. Februar eine landesweite Meuterei mehrerer Einheiten der Polizei, führend die Spezialeinheit zur Sicherung der öffentlichen Ordnung Grupo Especial de Seguridad. Die Polizei stellte einen Forderungskatalog auf, u.a. Gehaltserhöhung, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Risikoabsicherung der Familien.
Am 12. Februar demonstrierten Polizisten mit Familienangehörigen auf der Plaza Murillo, an der der Regierungspalast und das Parlament liegen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Einen halben Häuserblock entfernt hat die Grupo Especial de Seguridad ihren Sitz. Schüler von zwei naheliegenden Schulen, die anscheinend von ihren Lehrern aufgefordert worden waren, bewarfen den Sitz der Präsidentschaft mit Steinen und wurden dabei von Demonstranten mit Applaus bedacht. Die Militärs, die das Gebäude bewachten, setzten daraufhin Tränengas gegen die Demonstranten ein, und in der Folge kam es zu einer mehrstündigen gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Militär und Polizei mit dem Einsatz von Schußwaffen. Dabei kamen sowohl Soldaten, Polizisten als auch Zivilisten ums Leben. Auf verschiedenen Dächern wurden von Hubschraubern Heckenschützen abgesetzt, wobei bis jetzt nicht geklärt ist, von wem sie eingesetzt wurden
Der Verteidigungsminister, Freddy Teodovic, erschien mittags zu Verhandlungen mit der Polizei auf der Plaza Murillo, jedoch ohne Erfolg. Am Nachmittag verkündete Staatspräsident Sánchez de Lozada in einer Fernsehansprache die Rücknahme des Gesetzesvorschlags zur Einkommenssteuer. Kurze Zeit später trat er gemeinsam mit den Oberbefehlshabern von Polizei und Militär auf, die jeder den Rückzug ihrer Einheiten anordneten.
Systematische Plünderungen und Chaos
In Abwesenheit jeglicher Ordnungshüter setzte sich eine Welle von Zerstörung und Plünderung durch meist jugendliche Banden in Gang. Dabei wurden zunächst, anscheinend planmäßig, Gebäude staatlicher Institutionen ausgeräumt und mit Molotowcocktails in Brand gesteckt: das Arbeitsministerium, der Justizpalast, die Vizepräsidentschaft, das Ministerium für nachhaltige Entwicklung und Wirtschaft etc. Die Sitze der Regierungsparteien wurden angegriffen. Später kam es zu Plünderungen von Geschäften und Banken.
Da die Polizei nicht im Einsatz war, bewaffneten sich Nachbarschaftsgruppen, um ihre Häuser und Geschäfte zu verteidigen. Mehrere Fernsehkanäle mussten wegen der Bedrohung ihre Sendeanstalten schließen. Abends kam es möglicherweise zu einem Abkommen zwischen Polizei und Regierung, das aber nicht von allen Teilen der Polizei anerkannt wurde. Folglich griff die Polizei immer noch nicht ein, und die Plünderungen konnten ungehindert fortgesetzt werden. Militär wurde nicht eingesetzt, anscheindend da befürchtet wurde, dass es bei einem Ausrücken der Soldaten erneut zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kommen würde.
Am 13. Februar demonstrierte die Central Obrera Boliviana (COB), der bolivianische Gewerkschaftsverband. Evo Morales, Anführer der größten Oppositionspartei MAS, forderte bei einer Kundgebung den Rücktritt des Präsidenten und des Vizepräsidenten.
Im Anschluß an die Demonstrationen der COB kam es erneut zu Plünderungen. Die Polizei war noch immer nicht im Einsatz. In El Alto wurde u.a. das Zollgelände leergeräumt. Bei den Unruhen wurden Studentengruppen der konfliktträchtigen Universidad Pública de El Alto ausgemacht. In Cochabamba und Santa Cruz kam es ebenfalls zu ungehinderten Einbrüchen in Geschäfte.
Endlich, am späten Nachmittag des 13. Februar, wurde eine Einigung zwischen Regierung und Polizei erzielt: u.a. eine monatliche Bonuszahlung und eine Entschädigung in Höhe von US$ 10.000,- an jede Familie der Polizisten, die bei den Auseinandersetzungen ums Leben gekommenen waren. Danach rückte die Polizei aus, verhaftete zahlreiche Randalierer und Plünderer und sorgte dafür, dass endlich wieder Ruhe einkehrte. Bei den Auseinandersetzungen kamen nach offiziellen Angaben über 30 Menschen ums Leben, fast 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Die meisten Opfer waren Zivilisten.
Autistische Regierung?
Eine Unruhe und Unsicherheit wie diese hat Bolivien – trotz zahlreicher Staatsstreiche – seit der Revolution von 1952 nicht erlebt. Die Regierung ist zu einem schwierigen Zeitpunkt von ihrer eigenen Ordnungskraft erpresst worden. Polizei und Militär haben sich gegenseitig bekämpft. Die Regierung hat fast zwei Tage lang das Land sich selbst überlassen (müssen?), mit entsprechenden chaotischen, anarchischen Zuständen und dem Fehlen der öffentlichen Sicherheit.
Die Verantwortlichkeiten für die Vorfälle des 12. und 13. Februars sind noch immer nicht geklärt. Der Rücktritt des Verteidigungsministers und des Innenministers, Alberto Gasser, der letztlich nicht am Abkommen mit der Polizei beteiligt war, wurden wegen Unfähigkeit gefordert. Teilweise wird eine Verschwörung zur Schwächung der Regierung hinter den Vorfällen vermutet. Diese Theorie ist angesichts der planmäßigen Plünderung öffentlicher Gebäude nicht von der Hand zu weisen.
Zur Aufklärung der Ereignisse forderte der Präsident in Übereinstimmung mit der Generalstaatsanwaltschaft die Unterstützung einer Untersuchungskommission der OEA (Organisation Amerikanischer Staaten) an. Unter der Leitung des Generalsekretärs der OEA, César Gaviria, untersucht die Kommission aus Balistik- und Rechtsexperten seit dem 5. März die Ereignisse. Sie soll nach Angaben der Regierung bei der Aufklärung helfen und eine „unvoreingenommene“ und „ausgeglichene“ Untersuchung ermöglichen.
Vor allem erhofft man sich Erkenntnisse darüber, wie es bei den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Militär zu der hohen Zahl ziviler Opfer kommen konnte (mehr als die Hälfte aller Getöteten waren Zivilisten) und wer die Verantwortlichen sind. Ein weiterer Schwerpunkt in der Analyse soll klarstellen, an welcher Stelle und in welchem Ausmaß die zuständigen Instanzen des Staates versagt haben.
Die Beteiligung der OEA an den Untersuchungen wird allerdings von vielen Gruppen, allen voran von den Oppositionsparteien MAS und NFR, abgelehnt. Sie argumentieren, dass sie die Einbeziehung einer internationalen Organisation, zudem noch ohne Befragung oder Zustimmung des Parlamentes, als „Einmischung in interne Angelegenheiten“ ansehen. Ein weiterer Grund der Ablehnung liegt darin begründet, dass Sánchez de Lozada die Oppositionsführer aus den Konsultationen mit der OEA ausgeschlossen hat. Diese hatten zuvor mehrfach darauf bestanden, bei den Gesprächen anwesend zu sein, um ihre Sicht der Dinge mit einzubringen. Insbesondere ging es hierbei um die divergierenden Ansichten (Stand 5. März), ob es sich - wie nach Ansicht der Regierung - um einen Putschversuch und Anschlag auf das Leben des Präsidenten gehandelt habe, oder es nach Aussagen der Opposition nicht einmal „Anzeichen für einen Putsch gegeben habe“. Durch diese Auseinandersetzung im Vorfeld machten die Führer der Oppositionsparteien Morales (MAS) und Reyes Villa (Nueva Fuerza Republicana – NFR) deutlich, dass sie an der Unparteilichkeit der Untersuchungskommission zweifelten. Aufgrund der anhaltenden Kritik an der Arbeit der OEA hatte schließlich auch Generalsekretär César Gaviria ein Treffen mit Morales und Reyes Villa ausgeschlossen. Die Akzeptanz des Berichtes der OEA innerhalb der Bevölkerung ist aufgrund dieser Auseinandersetzungen im Vorfeld schwer vorauszusagen.
Die Haushaltsplanungen 2003 der Regierung mit der Einführung der Einkommenssteuer, dem „impuestazo“, stießen sofort auf den Widerstand von Großteilen der Bevölkerung. Die Meuterei der Polizei ist allerdings auf viel tiefliegendere Schwierigkeiten innerhalb der Institution zurückzuführen, die seit vielen Jahren herrschen und nie richtig gelöst wurden. Zwar ist nun wieder relative Ruhe im Land eingekehrt, aber keines der Probleme ist gelöst. Das öffentliche Defizit, das mit der neuen Steuer verringert werden sollte, ist so hoch wie zuvor.
Jorge Lazarte, politischer Analyst, wies im Zusammenhang mit den Februar-Ereignissen auf den „politischen Autismus“ der Regierung hin, der dringend abgestellt werden müsse. Es ist offensichtlich unmöglich, von der Bevölkerung Steuern zu verlangen, wenn z.B. Johnny Fernández, Vorsitzender des Koalitionspartners Unión Cívica Solidaridad (UCS), nicht dazu gebracht werden kann, eine Steuerschuld in Millionenhöhe zu bezahlen und wenn die Korruptionsbekämpfung keine sichtbare Wirkung zeigt.
Kabinettsumbildung im Zuge der Ereignisse vom 12. und 13. Februar
Am 16. Februar kündigte Staatspräsident Gonzalo Sánchez de Lozada eine Umbildung des Kabinetts mit einer Verkleinerung der Strukturen und Sparmaßnahmen bei den Regierungsausgaben an. Die Minister traten daraufhin am 18. Februar geschlossen zurück, um dem Präsidenten freie Hand bei der Besetzung der Ministerien zu geben. Ein neues Kabinett wurde am 20. Februar vereidigt; die Neuordnung wurde endgültig mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Struktur der Exekutive abgeschlossen.
Am 27. März wurde durch das „Decreto Supremo 26973“ die neue Struktur festgelegt. Hiernach gibt es jetzt nur noch 13 Ministerien (statt zuvor 18), 42 Vizeministerien (statt 52) und 93 Direktionen (statt 111). Insgesamt hat sich der Exekutivapparat um 33 Posten verkleinert. Insgesamt ergibt sich nach Aussagen der Regierung durch die Umstrukturierung und die Verkleinerung eine Einsparung im Haushalt von 225,4 Millionen Bolivianos (ca. 28 Millionen EURO).
Acht Minister wurden bestätigt, wobei u.a. José Guillermo Justiniano vom Ministerium für nachhaltige Entwicklung und Planung in das Amt des Präsidialamtsministers wechselte, fünf wurden neu ernannt. Überraschend war, dass der Verteidigungsminister, wegen seiner Rolle bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Militär und Polizei am 12. und 13. Februar kritisiert, im Amt blieb. Der allgemein umstrittene vorherige Präsidialamtsminister, Carlos Sánchez Berzaín, eine Schlüsselfigur in der Regierungspartei MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario), wurde – anscheinend nach einigem Tauziehen – nicht im Amt bestätigt. Oppositionelle Gruppen hatten bereits vor der Kabinettsumbildung Proteste angekündigt, falls Sánchez Berzaín im Amt bleiben sollte.
Das derzeitige Kabinett sieht folgendermaßen aus:
|
Mit der Kabinettsumbildung hat Sánchez de Lozada zwei strategisch wichtige Ministerien in die Hände des Koalitionspartners MIR (Movimiento de la Izquierda Revolucionaria) gegeben: das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und das Ministerium für die Revision der Privatisierungsprozesse der staatlichen Unternehmen. Die Privatisierung war eine der zentralen Reformen der ersten Präsidentschaft von Sánchez de Lozada gewesen. Damit deutet sich ein Richtungswechsel in der Wirtschaftspolitik an: dem MIR fällt nun die Aufgabe zu, die Wirtschaft zu reaktivieren und mögliche Fehler der Privatisierungen zu korrigieren.
Im ersten Kabinett der Legislaturperiode hatte sich der MNR mit dem „Superminister“ José Guillermo Justiniano, dem zweiten Vorsitzenden des MNR, die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Regierung vorbehalten. Nun hat der MNR diese Zuständigkeit zu einem Großteil an den Koalitionspartner abgegeben bzw. abgeben müssen.
Verhältnis Parlament und Präsident
Schwierige Koalitionsverhandlungen nach den Wahlen am 30. Juni 2002, die Wahl des Präsidenten, der in einer 48-stündigen Marathonsitzung des Kongresses mit knapper Mehrheit gewählt wurde und eine starke, radikale Opposition der Parteien Movimiento al Socialismo (MAS) und Nueva Fuerza Republicana (NFR) hatten bereits beim Regierungsantritt von Gonzalo Sánchez de Lozada vermuten lassen, dass seiner Regierung schwere Zeiten bevorstehen würden. Zu den schweren Ausschreitungen im Februar, die die Regierung als handlungsunfähig erscheinen ließen, kommen zudem noch die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Kongress.
Am 18. März 2003 hat Präsident Sánchez de Lozada öffentlich in einem Interview bekundet, dass es seiner Ansicht nach „eine Verschwörung gegen den Kongress gebe“, um diesen „handlungsunfähig zu machen.“ Weiter warf er der Opposition vor dazu beizutragen, dass „ein Kongress, der nicht die Mehrheit respektiere, dazu bestimmt sei unterzugehen“.
Hintergrund des Konfliktes war die Blockadehaltung der Opposition in Bezug auf einige Gesetze, zu deren Verabschiedung der Präsident aber auf ihre Unterstützung angewiesen war. Im Kern ging es um das Gesetz „Ley de Organización del Poder Ejecutivo“ (LOPE), das die Anzahl der Minister und nachgeordneten Funktionsträger begrenzen sollte, sowie um den „Presupuesto General de la Nación“, die Verabschiedung des Staatshaushaltes.
Aufgrund der Blockade drohte Sánchez de Lozada mittels Dekreten zu regieren und auf die Zusammenarbeit mit dem Parlament zu verzichten. Nach langen Diskussionen und heftigen Auseinandersetzungen im Kongreß konnten dann sowohl das Gesetz zur Neuordnung der Exekutive, LOPE, am 27. März und der Haushalt, mit verschiedenen Modifikationen, am 2. April endlich vom Parlament verabschiedet werden. Die drei wesentlichen Veränderungen im Staatshaushalt betreffen die Gehälter der Abgeordneten, die „gastos reservados“, einen Haushaltsposten für Sonderausgaben, dessen Gelder bisher immer noch in unbekannte Kanäle fließen, sowie den Posten für Gesundheit und Sicherheit.
Die Abgeordneten verzichten ab dem 1. April auf 10% ihrer Diäten. Dieser Betrag wird dem Haushalt für Gesundheit und Sicherheit zugeschlagen. Des weiteren hat man sich darauf verständigt, innerhalb von sechzig Tagen ein Gesetz auf den Weg zu bringen, dass die Regulierung und Kontrolle der stark kritisierten „gastos reservados“ ermöglichen soll.
Erstmals in der Geschichte Boliviens sind im Parlament die indigenen Bevölkerungsgruppen, Kleinbauern und Kokapflanzer relativ stark repräsentiert, hauptsächlich in den Fraktionen der Parteien MAS und MIP (Movimiento Indígena Pachakuti).
Die Hoffnung, dass sich die Konflikte zwischen Regierung und Protestgruppen, die in der Regel durch Straßenblockaden oder Märsche auf La Paz ausgetragen werden, zukünftig in politischen Debatten und Verhandlungen im Parlament gelöst werden könnten, hat sich bisher noch nicht erfüllt. Dies mag zum einen daran liegen, dass sich die Vertreter der genannten Gruppen hauptsächlich in der Opposition befinden und diese Rolle ihnen weniger Handlungsmöglichkeiten bietet als eine Regierungsbeteiligung, andererseits an mangelnder Einheit dieser Gruppen. Besonders im MAS sind Strömungen mit unterschiedlichsten Forderungen vertreten.
Die aktuelle Situation
Es steht ausser Frage, dass die Ereignisse des 12. und 13. Februars die Regierung und den Staat in seiner Handlungsfreiheit geschwächt haben. Es wird sogar von einer Destabilisierung der Demokratie gesprochen. Einen Tag nach den Ausschreitungen sagte der Regierungssprecher, Mauricio Antezana, „alles weise darauf hin, dass es ein Putsch gegen die Demokratie gewesen sei und dass es eine Verschwörung gegeben habe, um die Präsidentschaft Sánchez de Lozada zu beenden.“ Auf dieser Konferenz zeigte er sechs Projektile, die in das Arbeitszimmer des Präsidenten eingeschlagen waren und sprach von einem Attentat (vgl. La Razón, 8. März 2003, S. A16.). Diese Aussage relativierte Antezana allerdings drei Wochen später. Es habe kein Attentat auf den Präsidenten gegeben, man habe lediglich versucht seine Präsidentschaft zu beenden (vgl. La Razón, 8. März 2003, S. A16.).
In die Kritik ist im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 12./13. Februar der Oppositionsführer und Vorsitzende des MAS, Evo Morales, geraten. Er hatte in diesen Tagen den Rücktritt des Präsidenten und Vizepräsidenten Carlos Mesa propagiert, seine Anhänger zu weiteren Protesten und Straßenblockaden aufgerufen sowie die Einsetzung einer Verfassungsgebenden Versammlung gefordert. Am 1. März verkündete die peruanische Zeitung „La República“ zudem, dass nach Geheimdienstinformationen, die allerdings von staatlicher Seite weder bejaht noch dementiert wurden, Evo Morales von der kolumbianischen Guerrilla-Organisation FARC unterstützt und finanziert werde. Ob und in wiefern Morales in die Geschehnisse verstrickt ist, ist zur Zeit nicht erwiesen. Sein Verhalten kann jedoch alles andere als demokratiefördernd interpretiert werden.
Nach Informationen des amerikanischen Geheimdienstes CIA planen Mitglieder des MAS ein Attentat auf Evo Morales und einen weiteren führenden Kopf der Bewegung. Auch gäbe es Informationen, dass für den 9. April 2003 zugleich ein Staatsstreich geplant sei. Die Informationen werden allerdings weder von Regierungsseite noch von Seiten Morales besonders ernst genommen.
Mangelndes Vertrauen in die Politik
Das Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten und andere politische Institutionen befindet sich auf einem Tiefstand. Im lateinamerikanischen Ländervergleich liegt Bolivien nur noch vor Guatemala auf dem neunten und vorletzten Platz. Laut „Barómetro Iberoamericano“ glauben lediglich 11% der Bevölkerung, dass ihr Land auf dem richtigen Weg sei; im Ländervergleich Süd- und Mittelamerikas liegt „Goni“ Sánchez de Lozada gerade einmal mit 19% Zustimmung auf dem vorletzten Platz, vor dem guatemaltekischen Präsidenten.
Mangelnde Zustimmung in der eigenen Bevölkerung engt also nochmals seinen Aktionsradius ein. Besonders erdrückend ist aber die Tatsache, dass Bolivien nicht nur wenig Vertrauen in die Fähigkeiten seines Präsidenten hat, auch das Vertrauen in andere politische Institutionen und Parteien ist im iberoamerikanischen Ländervergleich relativ gering. So haben weniger als 10% der Bolivianer Vertrauen in die politischen Partein, weniger als 15% in die Arbeit des Kongresses.
Im Vergleich hierzu erreicht Spitzenreiter Brasilien einen Wert von 30% und mehr. Verstärkt wird dieses Bild des Misstrauens gegen staatliche Institutionen durch das deutlich höhere Vertrauen in Nicht-Regierungsorganisationen (knapp 40%), Presse (mehr als 60%) und Kirche (ca. 75%) in Bolivien. In engem Zusammenhang mit diesen Zahlen steht auch, dass die Bolivianer nicht Armut, schlechte Wirtschaft oder Arbeitslosigkeit als das größte Problem sehen, sondern an erster Stelle für sie die Korruption steht, die nach ihrer Meinung maßgeblich für die Probleme im Land verantwortlich ist.