Länderberichte
300.000 Opfer dieser finalen Aktion mit dem Ziel bedingungsloser Kapitulation des japanischen Kaiserreiches fanden einen unsagbar qualvollen Tod. Auch heute erliegen noch immer Menschen der sog. Strahlenkrankheit (Leukämie) und siechen an den Folgeschäden atomarer Kontamination dahin. Zehntausend Leidtragende, Durchschnittsalter 82, versterben alljährlich.
2017 gab es 160.000 Hibakusha, 150.000 sind es heute noch. Die Wunden möglicherweise verheilt, sind doch die Narben geblieben.
Für die Bombenopfer bleibt der Sommer 1945 unvergesslich. Am damaligen 15. August, eine Woche nach Nagasaki, hatte Kaiser Hirohito seinem Volk die unabwendbare Niederlage verkündet, worauf am 2. September japanische Abgesandte an Bord des US-Schlachtschiffes „Missouri“ die Kapitulationsurkunde unterzeichneten. Der Pazifikkrieg war beendet; das Leid der Hibakusha nicht.
Über sieben Jahrzehnte nach den Bombenabwürfen ringen Viele der Geschundenen um Pflege, Anerkennung, auch finanzielle Kompensation, vor allem aber eine Beendigung der Idee nuklearer Kriegsführung, deren Wahnsinn für Viele die Leugnung des Menschlichen unter dem Deckmantel der Humanität („Vermeidung weiterer Kriegs-handlungen“) bedeutet. Doch alle internationalen Verlautbarungen, Abkommen und hochheiligen Versicherungen der globalen Staatengemeinschaft, eine derart „demoralisierende“ Waffe niemals mehr einzusetzen, scheinen das Papier nicht wert zu sein, auf dem sie, wenn überhaupt, formuliert werden.
Die kriegstraumatisierten Hibakusha spie-len, so lange es sie noch gibt, für die in die japanische Gesellschaft hineinwirkende kollektive Erinnerung eine unverzichtbare, weil authentische Rolle. Auch wenn deren Rufe nach einer besseren, atomwaffenfreien Welt immer leiser und unumsetzbarer werden: sie haben all das er- und überlebt, was das Maß des Vorstellbaren bei Anderen, von den realen Schrecken eines Krieges Verschonten, übersteigt.
Und so verkörpert die Generation der Bombenopfer deshalb im wahrsten Wortsinn auch die Frage nach Schuld und Scham; gleichermaßen bei Besiegten und Siegern, bei Verlierern eines Krieges und dessen Gewinnern (manchmal ist der Schmerz der Täter tiefer vergraben als jener der Opfer).
Die stets wiederkehrende Frage nach dem „Sinn“ der schrecklichen Erlebnisse und die Angst vor deren Rückkehr hat nicht nur die physische Dimension des Lebens der Hibakusha weitgehend eingeschränkt, sondern vor allem auch die seelische. Einsamkeit, Lebensfurcht und verzweifelte Bindungssehnsucht nach einer „normalen“ friedlichen Gesellschaft sind die stets erneut genannten Gefühlsbeschreibungen der nun alten Männer und Frauen, die zum Zeitpunkt der Bombendetonation oftmals noch Kleinkinder waren und heute wieder (oder noch immer) akute nukleare Bedrohungsängste ausstehen müssen. Erschöpft und emotional von den Gespenstern der Vergangenheit gezeichnet.
Die Verletzungen eines Krieges wirken in nachfolgenden Menschenleben weiter, auch wenn die offensichtlichen Trümmer beseitigt, Städte neu errichtet, wirtschaftliche Erfolge erzielt und Rückkehr und Wiederaufnahme in die Weltgemeinschaft vollbracht sind.
Nach dem Krieg gelangen Japan immense Transformationsleistungen, um das in steinernen Ruinen liegende Land wieder aufzubauen und eine leistungsstarke Wirtschaft mit sensationellen Wachstumsraten zu entwickeln. Doch eine nötige und gesellschaftlich stabilisierende Aufgabe wäre es gewesen, auch den seelischen Leiden zu Wahr-nehmung und Akzeptanz zu verhelfen. Dies konnte nicht wirklich geschehen; denn die Suche nach Vergangenheit und ihrer psychologischen Bewältigung sowie das Ringen um Verantwortung und Rechenschaft waren, zumal unter amerikanischer Besatzung und Oberhoheit, alles andere als vordringlich.
Auch Japan war (und ist) von den kol-lektiven Traumatisierungen des Zweiten Weltkrieges noch immer betroffen. Die auf den ersten Blick „tresorische“ Gesellschaftsstruktur täuscht über die emotionalen, eingekapselten Folgen der Kriegsbelastung hinweg. Denn die wirken generationenübergreifend im Unterbewusstsein der Menschen und prägen auch den widersprüchlichen Fatalismus, für den Japan so repräsentativ zu sein scheint.
Sieht man das Land von außen, dann ist es nahezu unbegreiflich, dass die Mehrheit der Bevölkerung nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki durch die USA die Wiedergutmachung in Form einer großen Anzahl von AKW fast kritiklos akzeptierte. Denn obwohl das Wissen um die Gefährlichkeit radioaktiver Strahlungen auch bei „friedlicher“ Nutzung des Atomstroms und damit des Betriebes kerntechnischer Anlagen wenig ausgeprägt war, stellen die Hibakusha seit Jahrzehnten das abschreckende Gegenbeispiel dar.
Eigentlich wollten sie Verständnis für sich selbst und die Schrecken der Kernenergie erreichen, und nicht ohne bittere Ironie sprechen sie von sich selbst als den „Erben Hiroshimas“. Leben und Berichte der Zu–Wort-Gekommenen sind weitaus mehr als die Geschichten zerbrochener Gesundheit. Sie bilden etwas ab, was nicht alle, aber damals, kurz nach Kriegsende und danach, einen großen Ausschnitt der Bevölkerung zutiefst berührte; nicht nur in den betroffenen Bombenstädten.
Doch wenn das eigene Land mit seinen zwar unterschiedlichen, stets aber furchtbaren Erfahrungen zweier Atomkatastrophen (im Pazifikkrieg 1945 und 66 Jahre später, 2011 in havarierten AKWs in Fukushima) militär- und ressourcenpolitisch an den Möglichkeiten menschlich genutzter Nuklearenergie festhält, d.h. entweder im atomaren Schutzschirm der USA vor dem Zerstörungswillen Nordkoreas oder aufgrund einer ökonomisch begründeten Kernkraftselbstversorgung der Regierung, dann verwundert das von den Hibakusha wiederholt beklagte Scheitern ihrer Bitten nicht mehr. Wo sollen sie je wieder heimisch werden?
Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass allein in der geografischen Nachbarschaft zwischen Indien, Pakistan und China Hunderte von Nuklearwaffen im vielfachen Overkill-Modus aufeinander gerichtet sind und Gleiches vermutlich auch für VR-chinesische Raketen in Richtung Taiwan gilt (von den brandgefährlichen Spannungen an der innerkoreanischen Grenze ganz zu schweigen), dann überrascht beinahe die Tatsache, dass, mit Absicht oder durch technisches Versagen, nicht mehr passiert ist.
Auf dem Höhepunkt der Kubakrise im Oktober 1962 befanden sich ständig 50 nuklear bestückte US-Kampfflugzeuge in der Luft, und ein sowjetisches Kriegsschiff, das sich auf Kuba zubewegte, hatte 45 Millionen Tonnen TNT an Bord (das entsprach der 20fachen Menge der im 2. Weltkrieg über Deutsch-land abgeworfenen Bomben).
Seitdem sind alle erdenklichen Schreckensvisionen in den Bereich des Vorstellbaren gerückt; auch die eines terroristischen Angriffs mit Atomwaffen. Die für den Bombenabwurf auf Nagasaki benötigte Plutoniummenge hatte die Größe eines Tennisballes.
Bis heute sind mehrere dieser in der Vergangenheit unter kriminellen Umständen verschwundenen Materialien nicht wieder aufgetaucht. Die Halbwertzeit von Plutonium beträgt 24.000 Jahre.
Jene Mahnungen, als der ehemalige US-Präsident Barack Obama in seiner Prager Rede 2009 eine nuklearwaffenfreie Welt forderte, sind lange vorbei. Sein Nachfolger Donald Trump befürwortete im Februar 2018 gar die Produktion kleiner „handlicherer“ Atomsprengköpfe, leicht zu montieren und ggfs. begrenzt (was immer das heißen mag) auch präemptiv einzusetzen.
Die Regierung Abe applaudierte. Der japanische Premierminister, der im August an beiden Gedenkveranstaltungen in Hiroshima und Nagasaki teilnahm, lehnt einen umfassenden Atomwaffensperrvertrag rigoros ab und sieht sein Land heute nicht ohne erkennbare, gleichzeitig konstruiert wirkende Selbstbestätigung als vermittelnde Brücke zwischen Nuklearmächten und anderen Ländern; denn so würde Tokio, ohne die Sicherheitsgarantie der Amerikaner aufs Spiel zu setzen, wie ein ehrlicher Makler zum Weltfrieden beitragen. Ein paradoxer Prozess, hinter dem sich statt Menschenfreundlichkeit und „vernünftigem“ Handeln auch ungewollte Destruktivität verbergen kann. Für die Überlebenden der Katastrophe von 1945 jedenfalls Worte, die sich wie Hohn anhören.
Angesichts der in den Jahrzehnten seither zunehmenden Produktion und Verbreitung des Besitzes von Nuklearmitteln immer größeren Vernichtungspotentials - und der gerade einmal 12 Monate zurückliegenden gegenseitigen atomaren Bedrohung der USA und Nordkoreas - enthält der weltgeschichtlich erste Präzedenzfall Japans als bislang einziges Land, das mit Kernwaffen angegriffen wurde, eine traurige Lehre: selbst das größte Unglück verblasst, wenn es nur lange genug verjährt, und sich dem, was man als reale Machtverhältnisse bezeichnet, beugen muss. Und dessen Mahnung und Erinnerung, wie gegenwärtig in der VR China, als historischer Nihilismus gebrandmarkt wird.
Immerhin, Japan bemüht sich; auch wenn Premier Abe noch immer vom klaren Bekenntnis einer Schuld seines Landes schweigt.
Der „Kriegskaiser“ Hirohito regierte von 1926 bis 1989, 63 Jahre lang. Unter der Regierungsdevise Showa (erleuchteter Friede) war er somit auch für die Gräuel seiner Armee als deren oberster Befehlshaber im Pazifikkrieg verantwortlich. Wahre Reueworte sind von ihm in diesem Zusammenhang nicht überliefert. Sein Sohn, „Friedenskaiser“ Akihito, der im April 2019 nach dann insgesamt 30 Regierungsjahren abdanken und dem leiblichen Erbfolger Naruhito den Thron überlassen wird, hat dagegen zuletzt in einer stellenweise sehr bewegenden Rede am 15. August 2018, dem 73. Jahrestag der japanischen Kapitulation, seinem Bedürfnis nach Reue und Völkerverständigung glaubhaft Ausdruck verliehen. Akihitos finale große Ansprache seiner Amtszeit traf überzeugend deren Regierungsmotto Heisei (überall Frieden).
Der zukünftige Kaiser Naruhito hat den Zweiten Weltkrieg nicht mehr selbst erlebt. Die mahnenden Zeitzeugen werden immer weniger.
Den Hibakusha kommt deshalb, so gering ihre stetig schwindende Anzahl auch sein mag, der Verdienst zu, vor dem Hintergrund weltweiter friedenspolitischer Aktivitäten auch die erweiterte Thematik transgenerativer Weitergabe von Kriegstraumatisierungen in einem größeren Zusammenhang wahrnehmbar gemacht und in globale Abrüstungsdiskurse eingebracht zu haben.
Japans Hibakusha stellen das bewegende, einzigartige Potential schuldhaft-leidvoller Geschichte eines Landes und seiner Menschen dar; nicht nur im sogenannten Land des Lächelns. Ihr verzweifelter Ruf nach Frieden mit der Vergangenheit, Frieden mit der eigenen Kultur und ihre Warnung vor einem erneuten Hiroshima, einem zweiten Pearl Harbor hallen auch 2018 besonders nach. Gerade in dieser Zeitsituation. Gerade jetzt.