Länderberichte
Nur 6,20 Prozent sprachen sich laut dem einen Tag später verlautbarten offiziellen Ergebnis gegen den EU-Beitritt aus. Diese bisher höchste Zustimmungsrate aller Referenden in EU-Kandidatenländern kam allerdings mit großem Zittern bis zuletzt zu Stande: Hätte nämlich die Stimmbeteiligung nicht die Hürde von mehr als 50 Prozent der nicht ganz 4,2 Millionen Stimmberechtigten (exakt die Hälfte plus eine Wählerstimme) überwunden, wäre das ganze Referendum ungültig gewesen. Mit 52,15 Prozent wurde das erforderliche Limit knapp überschritten.
Zittern um ausreichende Beteiligung
Unerwartet dramatisch gestaltete sich die Entscheidung, ob die zur Gültigkeit des Referendums erforderliche Beteiligung von mehr als 50 Prozent erreicht werde. Noch in den letzten beiden Stunden vor Schließung der Abstimmungslokale hatten die höchsten Politiker des Landes, Staatspräsident Rudolf Schuster, Premierminister Mikulás Dzurinda und Parlamentspräsident Hrusovský in einem in Radio- und Fernsehsendern verlesenen Aufruf besorgt an die Wähler appelliert, ihr Stimmrecht zu nützen, weil der Erfolg des Referendums gefährdet sei. Denn um 12 Uhr hatte die private Nachrichtenagentur Sita erst eine Beteiligung von 48,4 Prozent gemeldet. Ihre staatliche Konkurrentin TASR zählte gar bis 13 Uhr nur 47 Prozent Beteiligung.
Noch Stunden nach Schließung der Abstimmungslokale herrschte bange Spannung auf den Ausgang, während es nie einen Zweifel darüber gab, dass die Ja-Stimmen weit überwiegen würden. Politiker und Medien waren sich des erfolgreichen Ausgangs so sicher gewesen, dass niemand eine Hochrechnung bestellt oder ein Meinungsforschungsinstitut beauftragt hatte, das Stimmverhalten der Bürger zu verfolgen. Dementsprechend groß war dann auch die Nervosität, als sich die Auszählung immer mehr verzögerte.
Die Erfolgsnachricht verkündete dann der christlich-demokratische Premierminister Mikulás Dzurinda persönlich am Samstagabend auf dem historischen Hauptplatz der Hauptstadt Bratislava, allerdings zunächst noch ohne exakte Zahlen zu nennen. Über Lautsprecher teilte er von einer Festtribüne aus in sichtlicher Erleichterung mit: "Zum ersten Mal in der Geschichte der Slowakischen Republik ist ein Referendum gültig", und setzte fort: "Eine überwiegende Mehrheit hat sich für den Beitritt zur Europäischen Union ausgesprochen. Die Menschen haben verstanden, dass es in dem Referendum nicht um politische Parteien, sondern um die Zukunft unseres Landes ging. Ich wünsche uns allen viel Glück in der Europäischen Union!"
Parlamentsvizepräsident Béla Bugár, zugleich Vorsitzender der Partei der Ungarischen Koalition (SMK) als zweitgrößter Regierungspartei, sprach wohl sehr vielen aus der Seele, als er darauf hin gegenüber den Medien gestand, ihm sei "ein Stein vom Herzen gefallen". Noch in der Nacht veröffentlichten auch die Nachrichtenagenturen erste konkretere Ergebnisse. Offiziell von der Wahlkommission bestätigt wurde das Ergebnis dann zwar erst am nächsten Vormittag, aber zu diesem Zeitpunkt zweifelte bereits niemand mehr am erfolgreichen Referendumsausgang.
Alte stimmten für die Jungen, regional große Unterschiede
Auffallend war nach übereinstimmenden Berichten aus allen Regionen, dass vorwiegend ältere Bürger von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten. Das ist dabei paradoxerweise jene Generation, die von der Westöffnung des Landes bisher eher die Nachteile zu spüren bekam, weil das alte staatliche Sozial- und Pensionssystem nicht mehr ausreichend funktioniert und bei einer landesweiten Arbeitslosenrate von 18 Prozent gerade für die Älteren wenig Perspektiven bestehen. Die junge Generation hingegen, die vom EU-Beitritt am meisten profitieren kann, verhielt sich eher desinteressiert und wies eine weit geringere Stimmbeteiligung auf. In den Berichten der Fernsehsender dominierte dabei als typische Antwort der Senioren auf die Frage nach ihrer Motivation für die Abstimmung gerade der Wunsch, ihren Kindern und Enkelkindern eine bessere Zukunft zu sichern.
Neben der unterschiedlichen Beteiligung nach Generationen waren auch die regionalen Unterschiede in der Stimmbeteiligung auffallend: Den höchsten Anteil erreichte der Bezirk Bratislava I (das Stadtzentrum der Hauptstadt) mit fast 65 Prozent, während der am Nordrand des Landes gelegene Bezirk Cadca nicht einmal 37 Prozent Abstimmungsbeteiligung erreichte. Neben der Hauptstadt Bratislava waren es vor allem die südlichen Regionen, die eine hohe Beteiligung aufwiesen, während im Norden die Beteiligung auffallend niedriger lag.
Im Süden lebt die ungarische Minderheit, die traditionell über die Grenzen des Nationalstaates hinaus orientiert ist und sich daher größere Hoffnungen auf ein vereintes Europa macht. Im Norden hingegen befinden sich die Hochburgen der eher slowakisch-national bis nationalistisch orientierten Kräfte. Das sind vor allem die HZDS von Ex-Premier Vladimír Meciar, sowie von ihr abgespaltene Parteien (die neue Parlamentsfraktion Volksunion und die außerparlamentarische HZD) und die nicht mehr im Parlament vertretenen Kleinparteien der extremen Nationalisten (SNS und PSNS). Tendenziell war - anders als meist bei Parlamentswahlen - die Beteiligung in den größeren Städten eher hoch, in den ländlichen Regionen eher niedrig. Dabei gab es aber auch Ausnahmen, sodass anders als bezüglich der Generationsunterschiede und des "Süd-Nord-Gefälles" keine Generalisierung dahin möglich ist, dass die "Pro-Europa-Mobilisierung" in wirtschaftlich erfolgreicheren Regionen höher und in strukturschwachen Regionen eher niedriger war.
Die geringe Wahlbeteiligung lässt sich vor allem als ein deutliches Signal der Politikerverdrossenheit der Slowaken interpretieren, die auch in anderen Zusammenhängen belegt ist: Rund ein Drittel der Bevölkerung gibt in Umfragen schon seit Jahren an, "keinem Politiker" zu vertrauen. In geringerem Maße könnte die Beteiligung auch dadurch gesunken sein, dass im Vorfeld der Volksabstimmung bereits bekannt wurde, dass das Referendum im Fall einer zu geringen Beteiligung sowieso durch eine Parlamentsabstimmung wieder "ausgebügelt" würde.
Der Oppositionspolitiker Robert Fico und seine Stellvertreterin Monika Benová wollten erwartungsgemäß sofort nach dem Referendum aus der geringen Beteiligung Kapital schlagen: Benová forderte in einer ersten Reaktion die Entlassung des für die Kampagne verantwortlichen Vizepremiers Pal Csaky (SMK). Dabei schien sie aber zu vergessen, dass gerade ihre Partei vor dem Referendum statt zur Beteiligung aufzurufen hauptsächlich nur die Regierungskampagne kritisiert und damit wohl auch ein Stück zur Demotivierung beigetragen hatte.
Slowaken waren schon immer pro-europäisch, alle Parteien zogen an einem Strang
Dass die Stimmbeteiligung enttäuschend niedrig war und beinahe sogar das ganze Referendumsergebnis gefährdete, kann auf keinen Fall mit einem wie immer gearteten "Europa-Skeptizismus" in Zusammenhang gebracht werden, sondern wurde in ersten Interpretationen von politischen Beobachtern vielfach gerade damit begründet, dass die Zustimmung der Slowaken zum EU-Beitritt so hoch war: Weil sich sowieso fast alle einig waren, fehlte die Spannung. Viele Wähler hatten den Eindruck, es sei "sowieso schon alles entschieden".
Bei der Verteilung von "Ja"- und "Nein"-Stimmen war das Bild im ganzen Land sehr einheitlich: In keinem Bezirk gab es weniger als die zuvor in Umfragen noch als die bestmögliche Prognose genannten 83 Prozent der "Ja"-Stimmen. Wer überhaupt zur Abstimmung ging, stimmte fast ausnahmslos für den EU-Beitritt. Der Umkehrschluss, unter den von der Abstimmung fern gebliebenen Wählern könnte es eventuell eine Mehrheit von EU-Gegnern geben, ist jedoch durch vorab veröffentlichte Umfragen klar widerlegt: In keiner politischen Frage sind sich die Slowaken seit Jahren so einig wie beim EU-Beitritt als außenpolitisch prioritärem Ziel. Seit diese Frage überhaupt in Umfragen erhoben wird, gab es nie einen Zweifel an der klar pro-europäischen Orientierung der slowakischen Bevölkerung.
Sichtbarer ist diese Orientierung an der politischen Elite: Noch bevor überhaupt die Frage entschieden war, ob das Land unabhängig sein oder Teil der Tschechoslowakei bleiben sollte, stand bereits fest, dass die Slowakei ihren Platz in einem vereinten Europa finden will. Legendär wurde die Definition des kurzzeitigen christlich-demokratischen Premierminister Ján Carnogursky, der Anfang der Neunzigerjahre "einen eigenen Stern und Sitz" in der Europäischen Union als Definition der Zukunftspriorität der Slowakei erklärte. Das Ausmaß der Selbstständigkeit der Slowakei gegenüber der damals noch bestehenden Tschechoslowakei definierte er damit nicht im bilateralen Verhältnis zwischen beiden Tschechen und Slowaken, sondern prioritär im Verband der europäischen Völkerfamilie. Die Zugehörigkeit zu dieser war damit als wesentlich selbstverständlicher vorausgesetzt als die Wichtigkeit der Entscheidung über einen eigenen Staat als solchen.
Irreführend waren und sind angesichts der politischen Realität wiederholte internationale Medienberichte über "europaskeptische Parteien", die sich meist auf die Meciar-HZDS beziehen. Tatsächlich bekennen sich auch alle im Parlament vertretenen Oppositionsparteien (HZDS, Volksunion, Smer und die kommunistische KSS) zum EU-Beitritt als Ziel. Auch Meciar und die HZDS haben nie die EU abgelehnt, sondern sind von ihr abgelehnt worden: Der bis 1998 drei Mal als Premierminister regierende Meciar hatte durch seine umstrittene Innenpolitik und zweifelhafte Privatisierungsmaßnahmen zu verantworten, dass die EU ebenso wie die NATO dem Land den Beitritt jahrelang verweigerte. Deshalb konnte die Slowakei auch erst zwei Jahre später als die Nachbarländer Tschechien, Polen und Ungarn ihre Beitrittsverhandlungen mit der EU beginnen. Unter dem seit 1998 amtierenden christlich-demokratischen Premierminister Mikulás Dzurinda wurde dieser Rückstand aber schnell aufgeholt. Es bedeutete einen Prestigeerfolg für die Slowakei, dass sie im Dezember des Vorjahres auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen ihre vom christlich-konservativen Chef-Unterhändler Ján Figel (KDH) geführten Verhandlungen sogar um einige symbolhafte Stunden früher abschließen konnte als diese drei Länder.
Symbolwert hatte auch die Art und Weise, wie das Referendum zunächst vorbereitet wurde: In einem Akt demonstrativer Einigkeit hatten die Führer aller im Parlament vertretenen Parteien gemeinsam den formellen Antrag unterzeichnet, mit dem die Referendumsfrage dem Parlament zum Beschluss vorgelegt worden war. Und nicht einmal außerhalb des Parlaments gibt es eine relevante politische Kraft, die den EU-Beitritt nicht als Priorität betrachtet oder seine Notwendigkeit gar anzweifelt.
„Überwiegend erleichterte Reaktionen
Mikulás Dzurinda (Slowakische Demokratische und Christliche Union - SDKÚ) und mehrere andere Regierungsmitglieder tanzten am Abend nach dem Referendum öffentlich auf einer Festtribüne, um den Ausgang des Referendums zu feiern. Dzurindas Parteifreund, Außenminister Eduard Kukan räumte aber in seiner ersten Reaktion auch ein, dass er sei "natürlich etwas enttäuscht" sei, da er etwa 60 Prozent Stimmbeteiligung erwartet habe. Ähnlich äußerte sich Parlamentspräsident Pavol Hrusovský (Christlich-Demokratische Bewegung - KDH), der aber betonte, wichtiger als die magere Beteiligung sei letztlich die klare "Ja"-Mehrheit.
Auch Hrusovskýs Parteikollege Ján Figel schlug in eine ähnliche Kerbe: "Es ist kein schlechtes Ergebnis, auch wenn die Erwartungen natürlich höher waren." Aus dem Ausland, vor allem von Vertretern der EU und der EU-Länder kamen die üblichen Gratulationen. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder nannte das Ergebnis des Referendums "ein historisches Ereignis für die Slowakei und ein wichtiges Signal für den weiteren Verlauf des Beitrittsprozesses".
Nach einer formellen Bestätigung des Referendumsausgangs durch das Parlament, in dem ausnahmslos alle Parteien für den EU-Beitritt eintreten, steht der Slowakei nun der Weg in die Europäische Union offen. Wie neun andere Kandidatenländer soll sie am 1. Mai 2004 formell EU-Mitglied werden. Als Probleme auf dem Weg in die EU gelten jedoch noch weiterhin die hohe Arbeitslosigkeit, große wirtschaftliche Unterschiede zwischen der reichen Westregion um die Hauptstadt Bratislava und dem Rest des Landes, sowie ein hohes Maß an Korruption und die mangelnde Integration der auf acht Prozent der Bevölkerung geschätzten Roma-Minderheit.