Der Verlauf der Corona-Krise in Russland und der Impfstoff „Sputnik V“
Ende Januar 2020 erschienen Informationen über die ersten Fälle des Corona-Virus in Russland. Relativ früh begannen die russischen Behörden vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen. Moskau, der Ort, an dem die meisten Infizierten registriert sind, reagierte besonders sensibel auf die Verbreitung des Coronavirus. Früh wurde in der Hauptstadt eine 14-tägige Selbstisolation für Einreisende aus den Pandemieländern verhängt und das Arbeiten von Zuhause eingeführt. Trotz der ergriffenen Maßnahmen gelang es nicht, die Verbreitung des Virus auf weitere Regionen des Landes zu verhindern. Ende März wurde in Russland eine arbeitsfreie Zeit von Wladimir Putin zur Eindämmung der Infektion verkündet, die nach zweimaliger Verlängerung, am 11. Mai vom Präsidenten beendet wurde und mit weiteren schrittweisen Lockerungen und systematischen COVID-19-Testungen verbunden war.
Jüngst verkündete Wladimir Putin die Registrierung des Covid-19-Impfstoffes "Sputnik V". Der adenovirale Impfstoff wurde durch die Registrierung am 12. August für die letzte Testphase zugelassen und soll nun an Freiwillige in Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Südamerika in einem nicht-klinischen größeren Ausmaß unter medizinischer Beobachtung verabreicht werden. Ferner sollen parallel dazu in Russland besonders gefährdete Berufsgruppen wie medizinisches Personal und Lehrer bereits einen Impfzugang erhalten. Sukzessive ist bei erfolgreicher Beendigung der anlaufenden dritten Testphase geplant, den Impfstoff bis Januar 2021 für einen Großteil der Bevölkerung zugänglich zu machen. Das Vakzin basiert auf einem Ebola-Wirkstoff und wurde von dem Moskauer Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie entwickelt. International kritisiert wurde die schnelle Entwicklung des Impfstoffes, da man vermutet, dass dem politischen Ziel gegenüber der medizinischen Sorgfalt Vorrang eingeräumt wurde. Kritisiert werden ferner die bisher kaum veröffentlichten Forschungsergebnisse der ersten beiden klinischen Testphasen. Der russische Gesundheitsminister Michail Muraschko und Gamaleja-Institutsleiter Alexander Ginzburg entgegneten, dass bereits seit vier Jahrzehnten an ähnlichen Vektor-Wirkstoffen zur Bekämpfung von Ebola gearbeitet wurde und daher bereits eine ausgeprägte Expertise in diesem Forschungsfeld bestände.
Ökonomische Entwicklungen im Kontext der COVID-19-Pandemie
Die COVID-19-Pandemie wirkt sich deutlich auf die immer noch stark vom Ressourcenexport abhängige russische Wirtschaft aus. Ein weltweiter Rückgang des Ölverbrauchs in Folge der Pandemie und der damit einhergehende Fall des Ölpreises trafen Russland als Rohstoffexporteur hart. Der Preisverfall beschleunigte sich, als zwischen Russland und Saudi-Arabien ein manifester Konflikt in Bezug auf unterschiedliche Ölpolitiken ausbrach.
Im März 2020 kam es bei einem Treffen der OPEC+ in Wien zu unüberbrückbaren Interessensdivergenzen. Russland weigerte sich, eine neue Vereinbarung über die Drosselung der Produktion von Erdöl mitzutragen. Daraufhin steigerte Saudi-Arabien die Fördermenge in einem erheblichen Maß und führte so einen Ölpreissturz aufgrund eines Überangebots in der ohnehin in der Corona-Zeit reduziert Rohstoff in Anspruch nehmenden Weltwirtschaft herbei. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Golfkrieg 1991 fiel der Preis der Nordsee-Rohölsorte Brent um mehr als 30% auf zwischenzeitlich unter 20 USD. Die Folge des Ölpreissturzes war ein Wertverlust des Rubels um 30 Prozent. Die Aktien der russischen Energiekonzerne Rostneft und Lukoil sanken rapide um bis zu 13,6 Prozent ab. Das wenig umsichtige Agieren Saudi-Arabiens war ein gezielter Versuch, die russische Wirtschaft in ihrem Kern zu treffen.
Aus der Rückschau scheint es jedoch so, dass sich dieses Vorgehen ebenfalls zu Lasten Saudi-Arabiens auswirkt. Wenn Russland seinen Staatshaushalt bereits bei einem Ölpreis von 42 USD je Barrel ausgleichen kann, benötigt Saudi-Arabien das Doppelte. Russland verfügt über umfangreiche Ressourcen an Öl, Erdgas und wertvollen Erden, die prinzipiell selbst in Krisenzeiten beleihungsfähig sind. Zum anderen verfügt Russland über einen Nationalen Wohlstandsfond, der Preisschwankungen auf dem Ölmarkt zeitweise kompensieren kann.
Wirtschaftspolitisch hat Russland seine Goldreserven in den vergangenen Jahren ausgeweitet. Um den Rubel zu stützen, musste die russische Notenbank in den Währungsmarkt eingreifen, während der Währungsfond aufgrund des steigenden Goldpreises erhalten blieb. Durch das Intervenieren der Notenbank konnte ein Preissturz des Rubels im April im Zuge des fallenden Ölpreises abgefedert und die Kosten der Intervention durch den hohen Goldpreis kompensiert werden. Anfang April fanden Saudi-Arabien und Russland zudem zu einer Einigung und konnten den Preiskampf beenden.
Beide Länder haben sich auf eine weitreichende Kürzung der Ölproduktion verständigt. Ab dem 1. Mai gilt das OPEC+-Abkommen; um etwa zehn Millionen Barrel und damit etwa zehn Prozent des Weltbedarfs wurde der Förderumfang reduziert. Der Ölpreis konnte sich so bereits Mitte Mai zusammen mit dem Rubel stabilisieren. Zudem wächst durch die Lockerungen der Corona-Beschränkungen im In- und Ausland wieder die Nachfrage nach Rohöl. Gerade das Hochfahren der chinesischen Industrie ist dafür exemplarisch. Russland ist noch vor Saudi-Arabien der Hauptlieferant an Rohöl für China und profitiert enorm von der sich sukzessiv wieder stabilisierenden chinesischen Ölindustrie.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krisenbewältigung sind dagegen weitreichender einzuordnen. Während der von der Regierung verordneten arbeitsfreien Zeit im April fiel das Bruttoinlandsprodukt um zwölf Prozent. Gerade im Dienstleistungssektor sanken die angebotenen Leistungen um ein Drittel, zugleich ging der Einzelhandel um fast ein Viertel zurück. Trotz der Nichtschließung des essenziellen Sektors wie dem Lebensmittelhandel reduzierte sich auch in diesem Bereich der Umsatz um fast zehn Prozent. Der russische Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow ging davon aus, dass der Stillstand in der Corona-Krise das Land etwa 100 Milliarden Rubel (etwa 1,2 Milliarden Euro) koste. Die Belastungen der COVID-19-Maßnahmen führten dazu, dass Wladimir Putin eine Erhöhung des einheitlichen Steuersatzes von 13 Prozent ab Januar 2021 auf 15 Prozent verkündete. Der neue Steuersatz gilt ab einem Einkommen von umgerechnet 60.000 Euro. Ferner senkte die Zentralbank den Leitzins um ein Viertel auf 4,25 Prozent, dem niedrigsten Stand dieses Jahrtausends, um dadurch Investitionen zu motivieren. Die Arbeitslosigkeit stieg auf den höchsten Stand seit acht Jahren. Berücksichtigt werden sollte allerdings, dass die ökonomische Situation Russlands vor der Krise eine positive Entwicklung annahm. Im vierten Quartal 2019 und im ersten Monat 2020 hatte sich die Wirtschaftsentwicklung Russlands verbessert. Aus der ökonomischen Perspektive trafen Russland die Krisen in einem verhältnismäßig günstigen Moment.
Russland und internationale Konflikte in den Monaten der Corona-Krise
Der Krieg im Osten der Ukraine geht weiter. Es gelang bisher nicht, zu einer umfassenden Waffenruhe in der Ostukraine zu gelangen. Am 30. April hat eine Videokonferenz der vier Außenminister des Normandie-Formats stattgefunden. Die Corona-Krise verschont die
Ostukraine nicht und steigert den humanitären Handlungsdruck. Die von der Kiewer Regierung kontrollierten und die nichtregierungskontrollierten Gebiete in der Ostukraine sind voneinander getrennt wie noch nie seit Beginn des Ukrainekonfliktes. In dem virtuellen Normandie-Gipfel wurde über Möglichkeiten beraten, lebensnotwendige Güter und den Zugang zu medizinischer Versorgung sicherzustellen. Einigkeit herrschte darüber, dass das Rote Kreuz Zugang zu den Konfliktzentren erhalten soll. Einer der Gründe sei, dass sich die Regierung in Kiew weigere, einen direkten Dialog mit Vertreten der so genannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk aufzunehmen; ein Sonderstatus der Regionen im Rahmen der ukrainischen Verfassungen wird kategorisch ausgeschlossen. Insgesamt kann allerdings nach einem Jahr unter dem neuen ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski festgestellt werden, dass die Kommunikation besser geworden ist und kleine Bewegungen sichtbar werden.
Auch in Syrien konnte der Konflikt nicht beendet werden. Vor allem die unterschiedlichen Interessen der am Konflikt beteiligten Akteure erschweren eine dauerhafte Lösung. Die syrische Armee hat sich durch russische Militärunterstützung wieder hegemonial positioniert. Die Provinz Idlib befindet sich nach wie vor außerhalb der Kontrolle der syrischen Armee. Für die Türkei ist Idlib von strategischem Interesse. Nachdem Ende Februar 2020 die Interessensdifferenzen zwischen der Türkei und Russland eskalierten, konnte Anfang März ein bisher haltendes Abkommen zwischen Russland und der Türkei geschlossen werden. So wurde ein Sicherheitskorridor eröffnet, in dem russisch-türkische Truppen gemeinsam durch das Zentrum der Rebellengebiete patrouillieren. Zuletzt hatten Terrorgruppen in der Region Idlib die prekäre Covid-Lage genutzt, um die eigenen Aktivitäten in Nordsyrien zu intensivieren.
Nicht zu leugnen ist, dass die Corona-Krise einen erheblichen Einfluss auf das Agieren Russlands im Syrienkonflikt ausübt. Hinsichtlich der Pandemie gibt es Hinweise darauf, dass auf russische Initiative beschlossen wurde, die iranischen Truppen und andere pro-iranische Freiwilligenverbände aus Pakistan, dem Irak und Afghanistan von den syrischen Regierungstruppen zu trennen. Russland befürchtet eine Infektion der eigenen Truppen, die sich im ständigen Kontakt mit den Regierungstruppen befinden. Die Pandemie trifft das vom Bürgerkrieg gezeichnete Land sowohl medizinisch als auch ökonomisch hart. Neben den anhaltenden Konflikten wird die ohnehin in Mitleidenschaft gezogene syrische Wirtschaft durch die Pandemie zunehmend geschwächt. Die Lebensmittelpreise steigen in einem ungekannten Ausmaß und führen zu einer Hungersnot bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung. Durch medizinische Hilfslieferungen wie bspw. COVID-19-Testsets versucht die Russische Föderation – auch aus einem eigenen Interesse – der prekären medizinischen Situation im Bürgerkriegsland entgegenzuwirken.
In Libyen gestalten sich mögliche Friedenslösungen derzeit aufgrund der involvierten Staaten und Interessen weitaus schwieriger als auf dem syrischen Schauplatz; die sich auch in Libyen intensivierende COVID-19-Pandemie erschwert zudem jegliche Friedensbemühungen aufgrund deutlich eingeengter diplomatischer Handlungsmöglichkeiten. Ein italienisch-französischer Gegensatz wird in Russland genauso zur Kenntnis genommen wie Recep Tayyip Erdogans Bestreben, der libyschen Muslimbruderschaft militärisch zur Macht zu verhelfen. Vorsichtig lassen jüngere Annäherungen zwischen Russland und der Türkei – dabei dem Agieren in Syrien durchaus ähnelnd – leise Hoffnungen aufkommen. Obwohl Moskau und Ankara unterschiedliche Seiten im Bürgerkrieg unterstützen, gaben beide Staaten nach bilateralen Gesprächen eine Erklärung bekannt, langfristige und nachhaltige Waffenruhen in Libyen umsetzen und Kommunikationskanäle offenhalten zu wollen. Die humanitäre Notlage des Bürgerkrieges wird durch die Herausforderungen der COVID-19-Pandemie und einer mangelhaften medizinischen Infrastruktur in Libyen potenziert.
Hilfsaktionen
Die Beziehung zwischen Russland und den USA ist gerade in der Zeit der Corona-Krise ambivalent und oszilliert zwischen vorsichtigen Annäherungen und geopolitischen Spannungen. Sichtbar sind zum einen Versuche gegenseitiger Unterstützung der beiden stark vom Virus betroffenen Staaten und zum anderen geostrategisches Misstrauen, das durch das Erstarken Chinas zunehmend intensiviert wird. Anfang April hatte Russland der
USA materielle Hilfe mit medizinischen Gütern angeboten. Die russische Regierung ließ ein Schiff mit Beatmungsgeräten und weiteren Hilfsgütern wie Schutzmasken und Desinfektionsmittel in die Vereinigten Staaten senden, nicht zuletzt, um damit auch einen politischen Imagegewinn zu erzielen. Zu diesem Zeitpunkt war die Russische Föderation erst leicht von der Pandemie betroffen. Angesichts der Spannungen zwischen dem Westen und Russland und insbesondere zwischen den USA und Russland war die Hilfsaktion dennoch eher erstaunlich, da Russland – bspw. aufgrund des Nord Stream 2-Projektes – mit diversen Sanktionen der USA umgehen muss. Nachdem es im Mai in Russland zu technischen Problemen mit Beatmungsgeräten kam und Apparate aus dem Verkehr gezogen wurden, ließ der US-amerikanische Präsident seinerseits Ausrüstungen und Beatmungsgeräte im Wert von 5 Millionen Dollar als Hilfe zur Bewältigung der Krise nach Russland senden. Diese Aktion wurde in der Trump-Administration nicht einhellig begrüßt. Dass die US-amerikanische Regierung dennoch den Schritt in Richtung Russland ging, kann als vorsichtige Annäherungen in globalen Krisenzeiten interpretiert werden.
Früh hatte Russland auch der EU personelle wie materielle Hilfen in der EU angeboten. Die Lieferung von Beatmungsgeräten von Russland an Italien sowie die Präsenz von Militärkonvois hatten ein sehr unterschiedliches Echo in der EU hervorgerufen. In den deutsch-russischen Beziehungen sind im Sommer Vorschläge des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer auf Beachtung und Dankbarkeit in Russland gestoßen. "Es wäre ein starkes Zeichen der Europäischen Union, wenn wir auch Patienten aus Russland bei uns behandeln würden", sagte Kretschmer, und fügte hinzu: "Wir versuchen insgesamt in Europa zu helfen. Und ich finde, wir sollten auch solidarisch sein mit Russland". Kretschmar verweist somit darauf, dass Europa größer ist als die Europäischen Union. Ganz in diesem Sinne hob Dimitri Medwedjew, Vorsitzender der Regierungspartei „Einiges Russland“ und Stellvertretender Chef des Nationalen Sicherheitsrates Russlands, in einer von ihm im Juli organisierten internationalen Videokonferenz zur Corona-Krise die Bedeutung der Pandemie als globale Zäsur in den internationalen Beziehungen hervor, die nur universal mit institutionell abgesichertem gemeinsamem Handeln und einer globalen Sicherheitskooperation "im weitesten Sinn des Wortes" bewältigt werden könne. Die Dominanz der Corona-Krise ermögliche es zumindest aufgrund ihrer Außeralltäglichkeit, Spannungen und Institutionen in einem neuen Licht zu betrachten und kulturelle Gemeinsamkeiten und Verbindungen trotz krisenhafter Momente zu diskutieren und gegebenenfalls neu zu organisieren.