Länderberichte
1. Amtliches Endergebnis vs. Betrugsvorwürfe ohne Ende
Die Oberste Wahlbehörde (CNE) hat das amtliche Endergebnis des Abberufungsreferendums vom 15. August d.J. gegen Präsiden Chávez festgestellt und in einem feierlichen Akt die Daten an Präsident Chávez übergeben. Zuvor hatten Carterzentrum und OAS nach nochmaligen Prüfungen, von der Opposition als unzureichend qualifiziert, den Sieg von Präsident Chávez bestätigt, aber zum einen die Anerkennung der politischen Minderheit eingefordert und erhebliche Verbesserungen sowie mehr Transparenz im Wahlverfahren und in der Arbeit der Obersten Wahlbehörde angemahnt.
14 Millionen Stimmberechtigte waren ins Wahlregister eingetragen. 4 Millionen, dies sind ca. 30%, blieben dem Referendum fern. 60% (6 Millionen) haben für seinen Verbleib im Amt gestimmt. 40% (4 Millionen) wollten seine sofortige Abberufung.
Der überwiegende Teil der Opposition erkennt dieses Ergebnis nicht an. Man ist noch immer vom „Betrug“ überzeugt und ist sich sicher, dass Präsident Chávez sein Amt verloren hat und nur durch die Manipulation der elektronischen Wahlmaschinen Erfolg hatte. Die Opposition will in den nächsten Tagen Indizien für den Betrug vorlegen. Die Beweise verweigert sie so lange, bis nicht gesichert ist, dass eine Beweisvernichtung nicht möglich ist. Sie befürchtet, dass unmittelbar nachdem sie ihre These beweiskräftig der Öffentlichkeit präsentiert, Spuren verwischt werden, so dass eine Aufklärung nie mehr möglich wird.
Erste Stimmen in der Opposition rufen dazu auf, das Ergebnis als politischen Fakt anzuerkennen, auch wenn große Zweifel bestehen bleiben. Teodoro Pettkoff, Herausgeber der Nachmittagszeitung „Tal Qual“, die bestimmt nicht im Ruf steht Cháveztreu zu sein, erinnert die Opposition an seriöse Meinungsumfragen, die unmittelbar vor dem Referendum Chávez einen knappen bis guten Vorsprung attestiert hatten. Die Opposition hält die Wahlnachfragen dagegen, die bis tief in die Nacht ein 60 : 40 zu Gunsten der Opposition vorhergesagt hätten. Vergleicht man diese Einschätzung mit dem CNE-Ergebnis, müssten glatt 2 Millionen Voten in ihr Gegenteil verkehrt worden sein. Die Opposition sieht sich zudem „auf dem Alter der Ölinteressen geopfert“. Dies geht so weit, dass Rafael Poleo, Inhaber mehrerer Presseorgane, soweit geht, dass Expräsident Carter den Deal zwischen den Interessen der Bushfamilie und von Chávez vermittelt habe. Aber man schätzt auch realistisch ein, dass kaum eine Regierung Interesse an einer Ablösung von Präsident Chávez via Abberufungsreferendum hatte. Zu sehr wird die Gefahr gesehen, dass sich eines Tages ähnliche Szenarien in anderen Ländern entwickeln können.
Verfassungsreformdebatten mit dem Ziel verstärkter Partizipation werden auch anderswo geführt, nicht nur in der Verfassung Venezuelas von 1999 vollzogen. So rücken erste Oppositionelle von der Relation 60:40 für die Opposition ab und äußern, dass der Sieg des „SI“ (JA für die Abberufung) knapp ausgefallen wäre, bleiben aber im Ergebnis bei der Feststellung des „geraubten Erfolges“. Die Nichtregierungsorganisation SUMATE, wegen Entgegennahme von Fördermitteln des NED (USA) mit einem Strafverfahren überzogen, hat den gesamten Referendumsprozess –von der ersten Unterschriftenaktion bis hin zum Wahltag- für die Opposition organisatorisch vorbereitet, begleitet und überwacht. SUMATE hat bislang keinen Betrugsvorwurf erhoben. Die Organisation ist dabei alle Ergebnisse und die wachsenden Unregelmäßigkeiten/Zweifel mit ihren Daten abzugleichen. Erst nach sorgfältiger Prüfung will sie Stellung beziehen.
Unabhängig von amtlichem Ergebnis oder Meinung der Opposition, sind drei Punkte bedenkenswert:
- Egal welches Stimmenverhältnis man zu Grunde legt, in absolute Prozente umgerechnet, hat keine der beiden Seiten eine absolute Mehrheit. 30 % Wahlverweigerung Nichtteilnahme) bedeuten, dass trotz der extrem hohen Emotionalisierung und Politisierung, 4 Millionen Menschen weder den Präsidenten, noch die Opposition wollen. Keine Seite kann sich seriöserweise diese Klientel zurechnen. 30 % sind entschieden gegen/für den Präsidenten und 40% entschieden für/gegen die Opposition. Die Frage bleibt, kann man mit 40% absoluter Zustimmung (60% relativer) einen tiefgreifenden Systemwandel verstärken?
- Beide Seiten sind derzeit „Opfer“ ihrer vor dem Referendum ungelösten Grundsatzfragen. Sicherlich die Opposition als derzeitiger Verlierer in erheblich größerem Umfang, aber auch Chávez hat etliche interne Probleme. Zum einen sieht er sich der Forderung der radikalen Flügel ausgesetzt, die Revolution ohne die bisherigen Kompromisse durchzuführen. Zum anderen gährt es an der Parteibasis, die mit vielen seiner Kandidatenentscheidungen für die Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen nicht einverstanden sind und daher Gegenkandidaten aus dem Revolutionslager aufgestellt haben. In aller Schärfe hat Präsident Chávez gefordert, dass die Minderheiten in seinem Lager sich einzugliedern hätten, oder verschwinden müssten. Es dürfe keinen Gegenkandidaturen geben. Die Opposition wollte die Führungsfrage erst nach dem Erfolg beim Referendum entscheiden. Die programmatische Aussage publizierte sie erst Tage vor dem Wahltag. Beides zu spät, um sich mit einem „geborenen Wahlkämpfer“ wie Chávez zu messen. Venezuela liebt „Caudillos“. Das Land will wissen, wer es wohin und womit führt. Der Opposition fehlte die Kraft, Programm und Personal, so langfristig zu entscheiden, dass beides, „Botschaft und Botschafter“ Vertrauen auch über die eigene Anhängerschaft hinaus gefunden hätte. Für viele der Wählerschichten von Chávez fehlt zudem eine verständliche Ansprache. Chávez spricht die „Stimme des Volkes“, dass war und ist seine Stärke, auch wenn „Cadenas“ oder „Aló Presidente“ ätzend lang sind. Um wesentlich mehr Wähler zu erreichen, braucht die Opposition nur einen „kurzen Weg“, nämlich vom Kopf zum Herz., ca. 35 cm. Intellektuell, sachlich waren und sind ihre Argumente überzeugend, wie z. B. der Anstieg der Arbeitslosigkeit um 50% oder die Zunahme der Armut in der Amtszeit von Präsident Chávez. Aber zwischen analytisch korrekter Feststellung und emotionaler Wahrnehmung ist eben „nur ein kurzer Weg von 35 cm“.
- Angenommen, der Sieg von Präsident Chávez war korrekt, warum dann die Weigerung, die Furcht vor einer umfassenden Prüfung der Software und einer totalen manuellen Überprüfung der Ergebnisse? Würde das amtliche Endergebnis dieser von der Opposition geforderten Prüfung standhalten, hätte der Präsident die Opposition national und international für lange Zeit „ins Abseits gestellt“. Angenommen die Opposition hat mit ihren Behauptungen Recht, dann kommen schwierige Zeiten auf den Kreis der Mitwisser und Mittäter zu. Ein Betrug diesen Ausmaßes, es soll angeblich immerhin um 2 Millionen Stimmen oder 1/3 der erzielten Stimmen der Opposition gehen, kann nicht auf ewig vertuscht werden. Wahlbetrüge waren schon oft das Initial für einen Regierungssturz, wie am Beispiel Perus in relativ friedlicher Art und Weise geschehen.
Venezuela bleibt in 3 Lager geteilt. aus 30% (Chávez), 30% (Opposition) und 40% „Ni Ni“ (weder/noch, Wahlverweigerer, sind jetzt 40 : 30 : 30 geworden. Auch wenn die Wahlbeteiligung vom historischen Tiefstand der letzten Wahlen um gut 10%-Punkte anstieg, sind 30% Verweigerung angesichts der politischen Bedeutung des Referendums auch kein demokratisches Ruhmesblatt. So bleibt Venezuela in seinen Schützengräben, wie es der politische Analyst Alfredo Keller schon vor Jahresfrist vorhersagte. „Dialog“ und „Versöhnung“ werden von allen Seiten zitiert, gefordert und mit Konditionen versehen. Die Regierung hat jetzt mit einer regionalen Versöhnungsoffensive begonnen. Vieles erinnert an die reuigen Bekenntnisse vom April 2002, als nach seiner Rückkehr zur Macht Präsident Chávez Versöhnung und Dialog versprach. Die tatsächliche Politik dagegen zeigte, dass die Attacken auf die Opposition härter denn je gefahren wurden und auch die Opposition mit Härte reagierte, verbal und mit dem erfolglosen Generalausstand. Über die Konditionen einer wirklichen Verständigung, einer wahrhaftigen Konsenssuche wird wenig gesprochen, als da wären u.a. Akzeptanz der politischen Gegenposition, Kultur der Toleranz und die Fähigkeit zurückzustecken. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn ein Systemwandel, besonders bei Justiz und Wirtschaft, verstärkt werden soll – und dies ist erklärte Absicht von Präsident Chávez- , wie soll es dann Verständigung und Versöhnung mit denen geben, die zwar eine andere politische Mehrheit noch akzeptieren würden, aber keineswegs den damit verbundenen Systemwandel. Und welche Angebote hat die Opposition für diejenigen aus dem Chávezlager, die wenn sie wollten und könnten wechseln würden? Venezuela scheint weit entfernt von einer inneren Verständigung zu sein. Präsident Chávez erkennt die politische Führung des Oppositionsbündnisses nicht an. Er sucht sich „seine Opposition“, die in seinem Sinne „konstruktiv“ ist. Die Opposition wird mit dem „Betrugstrauma“ keine Kraft entwickeln können, um Schritte auf die andere Seite zu machen. Es wird ihr schwer genug fallen, politische Fakten nicht anzuerkennen (im Sinne einer Legitimierung), sondern wenigstens zu akzeptieren und darauf eigene Gegenvorstellungen zu entwickeln. Zudem versucht Präsident Chávez geschickt die Opposition durch Angebote zu teilen. Nichtanerkennung der bislang erfolglosen und mit schweren inneren Krisen beschäftigten Oppositionsführung verbunden mit Angeboten an Wirtschaftssektoren an der Verteilung des Ölzins (und der wird absehbar hoch bleiben) zu partizipieren, beflügeln Flügelkämpfe und Schwächung der Opposition. Die Opposition zweifelt zudem am Willen des Präsidenten zu Versöhnung und innerem Frieden. Wenn dieser Wille tatsächlich vorhanden sei, so müssten für sie die „politischen Gefangenen“, vor allem Bürgermeister Capriles, frei gelassen werden, müsste die Verfolgung politisch Andersdenkender aktiver und pensionierter Militärs beendet werden, dürfte das neue Mediengesetz (was die Opposition als „Maulkorbgesetz“ bezeichnet) nicht auf die Tagesordnung des Parlamentes, müssten tatsächliche Signale zu einer Verständigung ausgehen, und nicht die Verschärfung des Revolutionskurses Ziel der Politik sein.
3. 31 Oktober: Wahl der Gouverneure und Bürgermeister – einfarbig rote politische Landkarte oder Chance unterschiedlicher Farbsprenkel?
Die Oberste Wahlbehörde hat den Termin für die Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen vom 26. September auf den 31. Oktober verschoben. Der Opposition schwant Böses, weil die offizielle Begründung die Erhöhung der Wahlmaschinen und die Erweiterung der Wählerverzeichnisse ist. Die Revolutionsseite will am ursprünglichen Termin der Wahl festhalten und droht sogar mit rechtlichen Schritten. Ihr käme zu Gute, dass bei einem so kurzfristigen Termin nach dem Referendum der traditionelle „Triumphalismus“ (Unterstützung des Wahlsiegers bei nachfolgenden Wahlen) Erfolge verspricht und die Opposition kaum Zeit hat ihre These vom Wahlbetrug zu beweisen und in internen Schwierigkeiten stecken bleibt. Es geht um die Frage, Wahlteilnahme oder Wahlverweigerung. Entscheidend sind die Bedingungen der Wahl. Grundlegende Transparenz, Reformen und Sicherheiten fordert die Opposition, bis hin zur Ablösung des Direktoriums der Obersten Wahlbehörde. Sie sieht sich durch einen Teil des OAS-Berichtes zum Referendum bestätigt. Zwar erkennt die OAS den Wahlsieg von Chávez an. Der Wahlbehörde wird aber „Unerfreuliches ins Stammbuch geschrieben“. Fehlende Transparenz, mangelnde Aufklärung, komplizierte Verfahren und schließlich, von OAS-Generalsekretär Gaviria persönlich vorgetragen, die Parteilichkeit der Mehrheit des Direktoriums, welches immer zugunsten der Interessen der Revolutionsseite entschied. Darauf gab es natürlich eine heftige Reaktion von Präsident Chávez, die nicht nur im diplomatischen Niveau, den Charakter einer Beleidigung hatte. Präsident Chávez verbat sich jegliche Einmischung und sprach Expräsident Gaviria wegen seiner Parteilichkeit die Qualifikation zur objektiven Wahlauswertung ab.
Doch was tun, wenn weder Wahlbehörde noch Regierungsseite auf substantielle Forderungen der Opposition nach Objektivität im Wahlverfahren nicht eingehen und die internationale Wahlbeobachtung nichts ausrichten kann. Noch sind die Meinungen in der Opposition extrem weit auseinander. Lässt man mal Androhungen von Nichtteilnahme an den Wahlen von Parteien mit gering(st)en Chancen außen vor –eine politische Waffe, vor der Präsident Chávez sicherlich zittert- , so wollen Amtsinhaber der Opposition antreten, die selbst unter der schwierigen Perspektive der offiziellen Ergebnisse des 15. August, sich gute Chancen der (Wieder)Wahl ausrechnen. Primero Justicia und Proyecto Venezuela wollen erst entscheiden, wenn alle Möglichkeiten der Reform der Wahlverfahren ausgeschöpft sind. COPEI und AD fordern Änderungen der Wahlbehörde, haben aber schon erklärt, dass Nichtteilnahme ein politischer Fehler wäre und sich damit indirekt für eine Wahlbeteiligung ausgesprochen. So sieht sich die Opposition folgendem Szenarium gegenüber, unter der Voraussetzung, dass alle Forderungen nach Verbesserungen nichts fruchten und die Opposition weiter der Revolutionsseite Betrugsabsicht auch für die Wahlen im Oktober unterstellt:
Entweder „politisch rote Landkarte“ durch Nichtbeteiligung der Opposition, oder eine gleich eingefärbte Karte, mit eventuell marginalen andersfarbigen Farbtupfern, durch manipulierte Wahlen. In dieser Situation gewinnen nach und nach Stimmen an Gewicht, die die „Preisgabe“ von 40% beim Referendum (Basis offizielles Wahlergebnis) ablehnen und stattdessen fordern, mit diesem Pfund zu wuchern. Wenigstens haben OAS und Carterzentrum dazu aufgefordert, diesen Bevölkerungsanteil zu respektieren und seine politischen Rechte zu garantieren.
Präsident Chávez lässt keinen Zweifel an seinem politischen Ziel. Er will am 31. Oktober alle 24 Gouverneursposten und die übergroße Mehrheit der 300 Bürgermeisterämter erobern und die Opposition von der politischen Landkarte wegwischen. Die Opposition beginnt zu begreifen, dass Kurzzeitperspektiven und –lösungen nicht ausreichen und dass frühestens bei den Präsidentschaftswahlen 2006 sich die nächste Chance auf einen demokratischen Machtwechsel bietet. Sie befürchtet aber, dass ihr die Revolution bis dahin keine Chance lässt und keinen Raum gibt, um einigermaßen gleichberechtigt in den politischen Wettbewerb einzutreten. Sie fürchtet zudem, dass durch Verfassungsänderungen, die Präsident Chávez jetzt avisiert, ihre Möglichkeiten weiter eingeengt werden können und der Systemwandel, wo er, wie z.B. beim umstrittenen Landgesetz durch das Oberste Gericht korrigiert, jetzt per Verfassungsänderung auch für Gerichte b indend gemacht werden soll.