Länderberichte
Der Mangel an politischem Willen seitens der bolivianischen Regierung, den Dialog II überhaupt in Gang zu setzen, schlug nach den politischen Unruhen in Cochabamba, La Paz und Achacachi im April dieses Jahres sowie dem gescheiterten Ausnahmezustand und der damit verbundenen Schwächung der Koalition im Parlament um und führte dazu, daß Präsident Banzer am 12. Mai 2000 öffentlich im Regierungspalast zum Nationalen Dialog II aufrief. Er begann am 22. Mai in den 314 Munizipien des Landes, um dort die wichtigsten Strategien zur Armutsbekämpfung zu entwerfen. Dies vor dem Hintergrund der Verwendung der durch den Schuldenerlaß freiwerdenden HIPC2-Mitteln.
Inzwischen liegen auch schriftlich die Beschlüsse der Katholischen Kirche zu den Veranstaltungsreihen "Jubileo 2000" vor, die erheblich zur Bewusstseinsbildung in weiten Teilen der bolivianischen Bevölkerung hinsichtlich der Bedeutung der Armutsproblematik im Lande beigetragen haben, die jedoch kaum von den klassischen Ansätzen im Sinne einer Ausweitung der Sozialausgaben abweichen.
Als Präsident Banzer, kaum an die Regierung gelangt, im Jahr 1997 zum Dialog I aufrief, löste er damit eine geradezu enthusiastische Reaktion bei allen Sektoren aus. Alle waren begeistert, ohne über Inhalte, Ziele oder Ergebnisse nachzudenken. Inzwischen sind mehr als zwei Jahre verstrichen und der Dialog I - eine riesige Menge an Studien und Publikationen - ist in Vergessenheit geraten. Dies ist nicht nur auf ein Programm-Vakuum oder gar auf Mangel an Ideen zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Erkrankung des politischen Systems in Bolivien. Dies verdeutlicht die Agenda des Dialogs II, die Verfassungsreformen und punktuelle Wirtschaftsreformen, die mit der Verwaltung der freiwerdenden HIPC-Mittel zu tun haben, vorsieht und den eigentlichen Diskussionspunkt - Armutsbekämpfung - verwässert.
Doch nun ist das Szenarium ein anderes geworden. Die Mega existiert in diesem Sinne nicht mehr und die Regierung muß stets um ihre Mehrheit im Parlament bangen. Regionale und nationale Konflikte mit Toten und Verletzten lassen die Frage aufkommen, ob die derzeitige Situation nur die Ruhe vor dem Sturm ist?
Der soziale Unmut hat am 30.5. in der Stadt El Alto das Fass überlaufen lassen. In den frühen Morgenstunden blockierten Studenten, die von einer autonomen Universität El Alto träumen, zusammen mit Gewerkschaftern, die für ihre Strassenstände höhere Abgaben an die Stadtverwaltung zahlen sollen, sämtliche Zufahrtsstraßen der Stadt. Ca. 15.000 Kleinhändler denen sich sehr schnell an die 200 Basisorganisationen anschlossen, um gegen die ständig sich erhöhenden Benzin-, Wasser- und Müllabfuhrpreise zu protestieren, marschierten in Richtung Stadtverwaltung, um hier mit Transparenten und Parolen ihren Frust und ihre Wut zu artikulieren. Gegen Mittag trafen sich die drei bis dahin unabhängig agierenden Demonstrantengruppen vor der Stadtverwaltung. Es flogen Steine und kleine Sprengkörper. Kaum setzten die knapp 20 Polizeibeamten, die die Stadtverwaltung bewachten, Tränengas ein, als die aufgebrachte Menschenmenge die Absperrungen zu Boden trampelte und gewaltsam in die Stadtverwaltung von El Alto eindrang. In knapp einer Stunde wurde das Gebäude samt Inventar und einigen wichtigen Archiven verwüstet. Schreibtische, PC´s und Unterlagen landeten auf der Straße und wurden angezündet, auch in der Stadtverwaltung selbst wurde Feuer gelegt. Die Spezialeinheit GES griff nach einer Stunde ein und vertrieb die Menge, der materielle Schaden beläuft bislang auf ca. 50.000 US-Dollar.
Doch nicht der materielle Schaden steht hier im Vordergrund des Geschehens, sondern vielmehr die gesellschaftspolitische Stimmung, die den Dialog II begleitet: Skepsis und Mangel an Vertrauen gegenüber dem politischen System. Eine der Schlagzeilen in der größten Tageszeitung von La Paz lautet: "Wie lange noch, bis der Pöbel von El Alto der Stadt La Paz die Luft abschneidet?"
Eine soziale Explosion kann - sofern der politische Wille da ist - evtl. noch kontrolliert werden. War die seinerzeit so populäre Volkspartei Condepa nicht ein Ventil für die Armut und den Frust der stets diskriminierten Aymaras aus El Alto? Wenngleich strukturelle Maßnahmen in El Alto dringend erforderlich sind, steht eine Strategie zur Bekämpfung der Armut im Rahmen einer Staatspolitik - egal welcher Couleur - im Vordergrund, anderenfalls können sich auch in Bolivien sehr schnell Situationen ergeben, wie wir sie in Venezuela und in Ecuador haben. Die politische Elite ist gefordert, anderenfalls kann es sein, daß sie einen sehr hohen Preis zahlen muß.
Vor diesem Hintergrund erscheint das für nächste Woche in Aussicht gestellte Gespräch zwischen Banzer und Sánchez de Lozada, der sich bislang als Oppositionsführer geweigert hat, am Dialog teilzunehmen, "da auch dieser Dialog nur eine Frustration für das bolivianische Volk bedeuten wird", wie ein vager Hoffnungsschimmer am dunklen politischen Horizont des Landes.