Länderberichte
Selten kommt es vor, dass ein die Slowakei betreffendes Thema in allen relevanten deutschsprachigen Medien für Berichte sorgt. Im Februar und März 2002 ergab sich eine in zweifacher Hinsicht erstaunliche Ausnahmesituation: Ein bilateraler ungarisch-slowakischer Streit um den Status und die Rechte der ungarischen Minderheit in der Südslowakei schlug solche internationalen Wellen, dass sich seine Auswirkungen weitgehend verselbstständigten. Als geradezu kurios kann gewertet werden, dass der eigentliche slowakisch-ungarische Ursprungsstreit in der Darstellung der meisten deutschsprachigen Medien aber gegenüber einem "Detail" der eigentlichen Auseinandersetzung in den Hintergrund geriet. Stattdessen erfolgte auf dem Weg in die deutschen (und österreichischen) Zeitungen quasi ein "Themenwechsel" zu einer Diskussion um die schon früher umstrittenen Benes-Dekrete. -
Und dabei wiederum lag eine Konzentration auf Tschechien und Deutschland (bzw. in den österreichischen Medien Österreich) nahe, während die Politiker Ungarns und der Slowakei nur mehr die Rolle von "Stichwortgebern" behielten. Zum Verständnis der Entwicklung soll daher eine chronologischere Darstellung des Streitverlaufs beitragen.
Ungarisches "Statusgesetz" als Zankapfel
Ausgegangen ist der Zwist von dem bereits im Juni 2001 von Budapest beschlossenen und seit 1. Januar 2002 wirksamen "Gesetz über die Ungarn, die in Nachbarländern leben" (vereinfacht "Statusgesetz" bzw. "Vergünstigungsgesetz"). Es gewährt den Angehörigen ungarischer Minderheiten in der Slowakei und anderen Nachbarländern Ungarns verschiedene Vergünstigungen, um sie enger an ihr "Mutterland" zu binden.
Von der slowakischen Regierung wird die exterritoriale Wirksamkeit des ungarischen Gesetzes abgelehnt. Sie sieht darin einen Eingriff in ihre Hoheitsrechte. Besonders heftig wird von slowakischen Politikern und Medien kritisiert, dass Angehörige der ungarischen Minderheit in der Slowakei aus Budapest eine finanzielle Prämie erhalten, wenn sie ihre Kinder in Schulen mit ungarischer Unterrichtssprache schicken.
Außerdem stößt in Bratislava auf Beunruhigung, dass sich das ungarische Gesetz - im Unterschied zu einem slowakischen Gesetz zur Förderung von Auslandsslowaken - ausschließlich auf jene Minderheitsangehörigen bezieht, die in unmittelbarer Nachbarschaft der Republik Ungarn leben. Vor allem nationalistisch orientierte Politiker der slowakischen Opposition, aber auch der Regierung, artikulieren historisch bedingte Ängste, dass damit ein "großungarischer Lebensraum" wiederhergestellt und der Friedensvertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg in Frage gestellt werden könnte. Sie sehen die Gefahr einer drohenden Revision der Staatsgrenzen auch durch antislowakische Demonstrationen in Budapest bestätigt.
Mit dem damaligen Friedensvertrag, in dem die Siegermächte Ungarn zugleich mit Deutschland und Österreich als einen der Kriegsverursacher einstuften und mit massiven Gebietsverlusten "bestraften", wurden große Teile der ungarischen Nation vom "Mutterland" abgetrennt und der Staatshoheit vor allem von Rumänien, Jugoslawien und der Tschechoslowakei unterstellt. Noch heute leben etwa drei Millionen Ungarn außerhalb Ungarns.
Der gegenwärtige Anteil der ungarischen Minderheit in der Slowakei beträgt laut der Volkszählung von 2001 mehr als eine halbe Million, das sind fast zehn Prozent der slowakischen Staatsbevölkerung. Ihr Siedlungsgebiet, die Südslowakei, war zuletzt auch im Rahmen der Zerschlagung der Slowakei 1938/39 von Ungarn annektiert worden. Die sonst so zerstrittenen slowakischen Parteien fürchteten in seltener Einmütigkeit, das Gesetz diene dazu, dass sich die ungarische Minderheit mehr mit dem "Mutterland" als mit ihrer offiziellen Heimat Slowakei identifizierten.
Verlagerung auf europäische Ebene
Mit ihren Protesten auf internationaler Ebene blieb die slowakische Diplomatie aber zur Jahreswende allmählich alleine übrig. Mit dem ursprünglichen Hauptkritiker Rumänien einigte sich Ungarn vor Weihnachten 2001. Indem allen rumänischen Staatsbürgern, nicht nur den ethnischen Ungarn, ein erleichterter Zugang auf den ungarischen Arbeitsmarkt versprochen wurde, überwogen für Bukarest die Vorteile gegenüber den Gefahren des ungarischen "Statusgesetzes".
Und die anderen betroffenen Länder (Bundesrepublik Jugoslawien, Kroatien, Slowenien und die Ukraine) hatten sowieso nie besonders heftig protestiert, weil ihre ungarischen Minderheiten relativ klein sind. In Bratislava entstand aus dieser Situation nach Inkrafttreten des "Statusgesetzes" eine emotionsreiche innerslowakische Diskussion darüber, wie die slowakische Politik nun adäquat auf das Gesetz reagieren solle.
Nicht nur die vorwiegend nationalistische Opposition, sondern auch Staatspräsident Rudolf Schuster kritisierten wiederholt Außenminister Eduard Kukan und Premierminister Mikulás Dzurinda: Sie hätten nicht ausreichend konsequent auf das ungarische "Statusgesetz" reagiert. Die slowakische Regierung befindet sich aber insofern in einem Dilemma, als gerade die Verbesserung des bilateralen Verhältnisses zum ungarischen Nachbarland zu ihren großen Erfolgen im Vergleich zur 1998 beendeten Ära des umstrittenen Premierministers Vladimír Meciar gehört. Dieses verbesserte Klima will sie nicht in Frage stellen.
Noch dazu gehört zur slowakischen Regierungskoalition auch die "Partei der Ungarischen Koalition" (SMK), die als Sammelpartei die gesamte ungarische Minderheit vertritt. Vertreter der SMK waren von Anfang an in die Ausarbeitung des "Statusgesetzes" involviert gewesen und verteidigen es als positive Maßnahme zur Minderheitenförderung.
Die Regierung, in dieser Frage zumeist vertreten durch den Staatssekretär Außenministerium Jaroslav Chlebo, bemühte sich daher einerseits um ein bilaterales Dokument, in dem beide Staaten schriftlich alle das "Statusgesetz" betreffenden strittigen Fragen klären sollten. Obwohl sich beide Seiten prinzipiell darauf geeinigt haben, das Dokument bis Ende Januar zu unterzeichnen, ist es auch Mitte März 2002 wegen Uneinigkeit über einzelne Formulierungen noch immer nicht unterschriftsreif.
Daneben stützt sich die slowakische Regierung aber seit Monaten aber auch auf ihr vermutlich stärkstes Argument, dass das Gesetz im Widerspruch zum Rechtsverständnis der Europäischen Union stehe (und deshalb für Österreich als einziges schon zur EU gehörendes Nachbarland Ungarns mit einer ungarischen Minderheit nicht gelten kann). Ungarn dürfe nicht ein Gesetz beschließen, das nicht für die eigenen Staatsbürger, sondern für Bürger der Nachbarländer gelte und diese zudem auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ungleich behandle.
Der Versuch, mit diesem Argument auf Ebene der Institutionen der Europäischen Union zu punkten, wurde allerdings von Anfang an mehr angedroht, als tatsächlich unternommen. Einer bilateralen Einigung sollte gegenüber diesem internationalen Druckmittel der Vorrang eingeräumt werden. Dennoch reagierte die Regierung in Budapest verärgert: Der im Wahlkampf für die Parlamentswahlen im April befindliche Premierminister Viktor Orbán wies zunächst öffentlich (gegenüber ungarischen Medien) darauf hin, dass die Slowakei für den von ihr angestrebten Nato-Beitritt auch die Zustimmung Ungarns brauche. Dies wiederum wurde in Bratislava als Drohung mit einer Blockade der slowakischen Nato-Beitrittsambitionen wegen des slowakischen Widerstands gegen das "Statusgesetz" aufgefasst und auf diplomatischem Weg empört zurückgewiesen.
Die "Benes-Dekrete" kommen ins Spiel
Während dieser Hinweis Orbáns daher relativ rasch wieder aus der öffentlichen Diskussion verschwand, ohne dass er formell zurückgenommen wurde, sorgte eine zweite Äußerung Orbáns für großen internationalen Wirbel und rückte damit die Diskussion über die EU-Verträglichkeit des "Statusgesetzes" in den Hintergrund: Ende Februar forderte er vor Vertretern des Europäischen Parlaments die Aufhebung der zum Ende des Zweiten Weltkriegs in der Tschechoslowakei gegen Deutsche und Ungarn erlassenen " Benes-Dekrete". Diese Dekrete seien nicht mit den Werten der Europäischen Union vereinbar und daher vor einem EU-Beitritt der Slowakei ebenso wie Tschechiens unbedingt aufzuheben.
Das wiederum rief neben Bratislava auch Prag auf den Plan: Die Premierminister der Tschechischen und der Slowakischen Republik, Milos Zeman und Mikulás Dzurinda sagten aus Protest ihre Teilnahme an einem für 1. März geplanten wichtigen Treffen der Regierungschefs der so genannten Visegrád-Staaten aus Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Polen am Balaton (Plattensee) ab. Unter anderem hätte dort über eine gemeinsame Politik gegenüber der Europäischen Union in Agrar- und Finanzfragen beraten werden sollen. Nach der Absage Dzurindas und Zemans teilte der polnische Premierminister Leszek Miller mit, seine Anreise sei damit auch hinfällig, das ganze Treffen habe keinen Sinn mehr. Als weiterer Schritt wurde dann auch ein für den selben Tag im westungarischen Sopron vorgesehenes Treffen der vier Kulturminister abgesagt.
Nicht unwichtig zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass Béla Bugár, der Parteichef der in der Slowakei mitregierenden ungarischen Minderheitspartei SMK die Absage des Treffens durch Dzurinda sofort kritisierte und zur Aufrechterhaltung des guten Gesprächsklimas aufrief: Gerade jetzt sei es wichtig, das Gespräch zu suchen. Starke Worte und demonstrative Schritte seien daher kontraproduktiv, kritisierte der Politiker.
Nicht gerade erleichtert wird das Zurückschrauben der Emotionen zwischen Prag und Bratislava einerseits und Budapest auf der anderen Seite allerdings dadurch, dass sich sowohl Orbán als auch Zeman und Dzurinda im Wahlkampf befinden: In Ungarn wird im April ein neues Parlament gewählt, in Tschechien im Juni und in der Slowakei im September. Mit dem Thema Benes-Dekrete hat Orbán ein für den Zusammenhalt der slowakischen Regierung heißes Eisen aufgegriffen. Die an der slowakischen Regierung beteiligte SMK hatte sich nämlich 1998 in der Koalitionsvereinbarung verpflichtet, das Thema während der laufenden Legislaturperiode nicht anzusprechen.
Das slowakische Parlament hatte sich bereits 1991, also noch vor der formellen Trennung von Tschechien, in einer eigenen Erklärung (siehe Anhang!) für die Vertreibung der Karpatendeutschen entschuldigt und zugleich jede Annahme einer Kollektivschuld verurteilt. Gegenüber der ungarischen Minderheit gab es eine solche Entschuldigung aber bis heute nicht. Ihr stehen unter anderem tief sitzende slowakische Ängste vor ungarischen Territorialansprüchen entgegen. Tatsächlich hatte Ungarn im Zweiten Weltkrieg einen Teil der Slowakei mit der zweitgrößten Stadt Kosice (Kaschau) annektiert. Die Benes-Dekrete und ein später mit Ungarn vereinbarter Bevölkerungsaustausch von Minderheitsangehörigen beider Länder werden in der Slowakei unter anderem auch als Schutz gegen eine Wiederholung einer solchen Annexion betrachtet. Ähnlich wie Tschechien betrachtet die Slowakei die Dekrete als "obsolet, aber nicht aufhebbar". Béla Bugár ist aber davon überzeugt, dass sich längerfristig nicht vermeiden lässt, über das Thema neu zu diskutieren.
Als "positive Wende in diesem Dialog" bezeichnete Bugár slowakische Regierungspläne für moderate Gegenmaßnahmen gegen das "Statusgesetz". Die ebenfalls mitregierende "Christlich-Demokratische Bewegung" (KDH) fordert jedoch ein schärferes Vorgehen gegen Ungarn und nützt damit nach Ansicht von Kritikern die Chance, ein nationalistisch motiviertes ungarisches Gesetz zum Vorwand für eigene Ambitionen zu nehmen. So brachte sie ins Parlament einen Gesetzesvorschlag über den "Schutz der slowakischen Souveränität" ein, über den aber derzeit (8. März) noch nicht abgestimmt worden ist.
Der Vorschlag enthält Sanktionen gegen ethnische Ungarn, die sich den vom "Statusgesetz" vorgesehenen "Ungarn-Ausweis" ausstellen lassen und finanzielle Förderungen aus Budapest in Anspruch nehmen. Nur so sei wieder eine "Gleichstellung" mit ethnischen Slowaken zu erreichen. Für den Fall der Annahme dieses Vorschlags im Parlament hat Béla Bugár bereits eine künftige Koalition mit der KDH nach den Wahlen im September ausgeschlossen. Unter anderem sieht der KDH-Vorschlag vor, slowakischen Bürgern ihre aus Ungarn erhaltenen Unterstützungen durch slowakische Behörden wieder entziehen zu lassen. Gegen jene Organisationen, die in der Slowakei die Bestimmungen des "Statusgesetzes" umsetzen, fordert der KDH-Vorschlag gerichtliche Schritte bis hin zu einem Verbot.
Der stellv. KDH-Vorsitzende Daniel Lipsic verteidigte diese drastischen Maßnahmen in einem Gastkommentar in der Tageszeitung "Sme" (27. 2. 2002): Dieser Gesetzesvorschlag schränke zwar bestimmte in der Verfassung garantierte Rechte wie jenes auf Bildung von Vereinigungen ein. "Aber er schränkt dieses Recht auf verfassungskonforme Weise ein" - nämlich zum Schutz des ebenfalls von der Verfassung garantierten Rechts aller Bürger, ihre Nationalität selbst und unbeeinflusst zu bestimmen. Es sei daher eine legitime Abwehr des ungarischen "Statusgesetzes", das diese freie Entscheidung beeinflusse, indem es jene bevorzugt, die sich zur ungarischen Nationalität bekennen (und die anderen daher benachteiligt).
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Anhang:
Auszug aus der Erklärung des Slowakischen Nationalrates zur Vertreibung der Karpatendeutschen
Schon kurz nach der Wende beschloss der Slowakische Nationalrat (das Parlament) 1991 eine offizielle Entschuldigung für die Vertreibung der Karpatendeutschen. Ohne allerdings ausdrücklich die Benes-Dekrete zu nennen, heißt es darin: "Nach Kriegsende (...) begann der zweite Akt der Tragödie, an dem sich, leider, auch slowakische Menschen aktiv beteiligten. (...) So wurden über 32.000 slowakische Deutsche nach ihrer gewaltsamen Konzentration in Arbeitslagern (...) zu Opfern von Deportationen in beide Teile Deutschlands. Es ist besonders zu bedauern, dass von dieser Phase der Aussiedlung größtenteils unschuldige arbeitsame Menschen betroffen waren, (...). Diese unsere deutschen Mitbürger litten für die, die im Namen der deutschen Minderheit in der Slowakei dem Nazismus gedient hatten." Nach einem halben Jahrhundert und dem Heranwachsen einer neuen Generation mit neuen Bedingungen sei aber endlich Versöhnung angebracht: "Wir, die Repräsentanten der freien, demokratischen Slowakei, wollen in die Gemeinschaft der Nationen mit sauberen Rechnungen eintreten. Wir verurteilen das Prinzip der Kollektivschuld, mit welchen Argumenten es auch immer begründet wird. Wir sind uns bewusst, dass die Slowakei mit der (...) Vertreibung der deutschen Mitbürg er eine ethnische Gruppe verloren hat, die über Jahrhunderte einen herausragenden Bestandteil unserer gemeinsamen (...) Kultur bildete."