Länderberichte
Die tschechischen Politiker, die sich für den EU-Beitritt eingesetzt hatten, zeigten sich nach Bekanntgabe des Ergebnisses sehr zufrieden. In der tschechischen Hauptstadt haben sogar vier von fünf Wählern für den Beitritt gestimmt. Mit knapp 58% Wahlbeteiligung in Prag sind dies im Vergleich zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Juni 2002 nur rund zwei Prozent weniger.
Von den Teilnehmern, die mit „Ja“ gestimmt hatten, bildeten die größte Gruppe die Studenten (84%), gefolgt von den Unternehmern (79%). Mit 92% lagen die Wähler der US-DEU vor den ODS-Anhängern mit 86%, gefolgt von KDU-ČSL (84%), ČSSD (82%) und der KSČM mit 37%. Altersmäßig repräsentierten - entgegen den Vorhersagen der Umfragen - die über 60-jährigen mit 79% die größte Gruppe der Zustimmenden. Von den 30-45-jährigen kam die geringste Zustimmung, allerdings dennoch eine deutliche Befürwortung des EU-Beitrittes mit 75%. Auch der Unterschied zwischen Stadt und Land ist nicht signifikant: In den Städten lag die Zustimmung mit 78% nur drei Prozent über der auf dem Lande. 78% der Befürworter waren weiblich, 77% männlich (Tschechische Presseagentur - čtk, 16. Juni 2003).
Im Unterschied zu Polen und der Slowakei war das Ergebnis in Tschechien nicht an eine Mindestbeteiligung gebunden, die in den beiden anderen Ländern 50% betrug. Im Vergleich mit den anderen Visegrad-Staaten lag Tschechien bei der Teilnahme am Referendum hinter Polen (58,6 %) und vor der Slowakei (52,1%) und Ungarn (45,6%). Die größte Zustimmung fand der Beitritt in der Slowakei (92,5%), gefolgt von Ungarn (83,8%). Polen lag mit 77,5% knapp vor Tschechien.
Das Endergebnis des Volksentscheids war so von vielen politischen Kommentatoren und Beobachtern nicht erwartet worden. Im Vorfeld des Referendums gab es durchaus auch kritische Stimmen in der tschechischen Presse, die ein „Nein“ zur EU nicht ausschlossen. So äußerten einige Politiker und EU-Experten die Befürchtung - wie z.B. der EU-Kommissar Verheugen -, dass der jährlich stattfindende Sudetendeutsche Tag zu Pfingsten evtl. sich negativ auf die Teilnahme und Abstimmung des Referendums auswirken könne. Diese Bedenken erwiesen sich jedoch als unbegründet. Die Berichterstattung der tschechischen Medien über das Treffen in Augsburg war im Vergleich zu den Vorjahren eher weniger.
Kritisiert wurden in der Presse hinsichtlich des Sudentendeutschen Tages vor allem die vermeidlichen Widersprüche in den Reden von Ministerpräsident Edmund Stoiber sowie von der Sozialministerin Stewens. Diese hätten einerseits die CSU-Abgeordneten im Europäischen Parlament für ihr „Nein“ zu der Aufnahme Tschechiens in die EU gelobt, plädierten aber andererseits aufrichtig für eine EU-Mitgliedschaft Tschechiens.
Auf den Stellenwert des EU-Beitritts Tschechiens für Deutschland machte der deutsche Botschafter in Prag, Dr. Michael Libal, in einem Interview für die deutschsprachige Prager Zeitung (12. Juni 2003) aufmerksam. Ein „Nein“ Tschechiens zur EU-Mitgliedschaft wäre auch eine Niederlage für Deutschland.
Teilnahme am Referendum
Die Umfragen der verschiedenen Meinungsforschungsinstitute signalisierten bereits in den vergangenen Monaten einen hohen Anteil jener Bürger, die den Beitritt befürworten. Über mehrere Monate hinweg lag, laut Umfragen der Agenturen STEM und TNS-Factum, der Anteil der Wahlberechtigten, die am Referendum teilnehmen und mit „Ja“ stimmen wollten, zwischen 80% und 85%. Gegenüber den Meinungsforschungsinstituten äußerten 70% der Befragten die Absicht, sich am Referendum beteiligen zu wollen. Beide Institute gingen aber übereinstimmend realistisch nur von einer Teilnahme von 55%-60% aus.
Die politischen Kommentatoren blieben trotz aller optimistischen Meinungsumfragen in ihren Bewertungen vorsichtig, denn die Befragungen zeigten auch, dass 60% der Befragten sich vor den Veränderungen fürchteten, die der EU-Beitritt des Landes mit sich bringen würde (STEM im Mai 2003). Hinzu kam, dass wenige Wochen vor dem Referendum einschneidende Reformpläne der tschechischen Regierung unter Ministerpräsident Vladimír Špidla (ČSSD) der Öffentlichkeit mitgeteilt wurden. Tschechien erwartet somit ab dem 1. Januar 2004 eine Teuerungswelle. Als Begründung dafür wurde nicht die notwendige Sanierung der öffentlichen Finanzen genannt, sondern die Anpassung an die EU-Vorgaben.
Staatspräsident Václav Klaus (ODS) kritisierte offen das Vorgehen der Regierung in der Tageszeitung „Mladá Fronta Dnes“ (23.Mai 2003): „Ich glaube nicht, dass das unbedingt notwendig gewesen wäre.“
Tschechische Wirtschaftsexperten wiesen aber die Befürchtungen der Regierung eindeutig zurück. Die Integrationsprozesse würden ohnehin schon einige Jahre laufen und die tschechische Wirtschaft sei schon weitgehend in die der EU eingebunden. Der ehemalige sozialdemokratische Finanzminister Pavel Mertlík verwies darauf, dass sich für die tschechische Exportwirtschaft neue Chancen ergeben werden. Letztlich würden sich auch die neuen EU-Mitglieder Polen und Ungarn der tschechischen Wirtschaft öffnen müssen.
Auch eine Preisexplosion sei nicht zu befürchten, so Mertlík. Ebenso würden die Löhne nicht über Nacht nach oben schnellen, sondern Schritt für Schritt wachsen, so der jetzige Berater der Raiffeisenbank. Heute beträgt das tschechische Durchschnittseinkommen rund 20% des deutschen. Experten gehen davon aus, dass es rund 30 Jahre dauern könnte, bis das Lohnniveau Deutschlands erreicht wird.
Stimmen der Politiker vor dem Referendum
Anfang Juni 2003 besuchte EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen Tschechien, um für den Beitritt zu werben. Verheugen traf sich mit Staatspräsident Václav Klaus, mit dem Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer des tschechischen Parlaments, Lubomír Zaorálek (ČSSD) und trat zum Abschluss seiner Reise im Tschechischen Fernsehen auf. Mit Klaus diskutierte er über die Situation im EU-Konvent sowie über die anstehende Regierungskonferenz der EU.
Nur wenige Tage später, kurz vor dem Referendum, rief Staatspräsident Václav Klaus die Bürger auf, an der Abstimmung teilzunehmen. Im Unterschied zur Regierung, die wiederholt für ein „Ja“ der Bürger im Referendum plädierte, forderte Klaus die Bürger auf, eine Entscheidung „mit Bedacht“ zu treffen.
In seiner Stellungnahme vom 9. Juni 2003 erklärte er, dass die EU gegenwärtig eine „sehr komplizierte“ Diskussion über ihre Zukunft führe. Deren Folgen können „derartig die Bedingungen unserer künftigen Mitgliedschaft verändern, dass es in ein oder zwei Jahren notwendig sein wird, neuerlich ein Referendum durchzuführen“, erklärte der Staatspräsident. Die liberale Tageszeitung „Lidové Noviny“ (10.6.2003) kommentierte: „Der Präsident hat sich frostig geäußert, einen Beitritt zur EU offen oder verdeckt nicht ausdrücklich unterstützt... Die Erklärung des Präsidenten wird allen Euroskeptikern und Kommunisten gefallen.“
Dass es keine Alternative zum EU-Beitritt gibt, bekundeten einhellig in einer Diskussion des Privatfernsehens Nova der Ministerpräsident und Vorsitzender der ČSSD, Vladimír Špidla und der Vorsitzende der ODS, Mirek Topolánek. Damit ging Topolánek konform mit 80% der Wählerschaft der ODS, die den EU-Beitritt des Landes unterstützen. Für legitim bezeichnete der ODS-Vorsitzende allerdings die kritische Einstellung einiger Parteivertreter zum EU-Beitritt Tschechiens. So hatten sich beispielsweise der stellvertretende Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, Ivan Langer (ODS), sowie der ehemalige Verkehrsminister Martin Říman (ODS) öffentlich gegen eine EU-Mitgliedschaft Tschechiens ausgesprochen.
In einem wichtigen Punkt stimmte der Ministerpräsident dem Vorschlag der Opposition zu. Auch er ist dafür, nach dem Beitritt des Landes neuerlich ein Referendum durchzuführen. Abgestimmt werden soll dann über den Verfassungsvertrag der Europäischen Union.
Auch der im Februar 2003 aus dem Amt geschiedene ehemalige Staatspräsident Václav Havel trat am 10. Juni 2003 bei einer Veranstaltung auf dem Prager Wenzelsplatz auf. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach seiner Amtsübergabe appellierte er an die tschechischen Bürger: „Ich möchte Ihnen empfehlen, dass Sie wie ich im Referendum ihr „Ja“ zum EU-Beitritt geben“, rief Havel den rund 450 Teilnehmern zu. Die Warnungen einiger Politiker, dass Tschechien mit dem Beitritt seine Souveränität verlieren werde, verurteilte er scharf. Im Gegenteil, so Havel, die Souveränität aller ehrlichen Bürger werde dadurch nur gestärkt.
Ministerpräsident Špidla bezeichnete das Ergebnis als „Sieg der tschechischen Bürger“. Für den Außenminister und Vorsitzenden der Christdemokraten Cyril Svoboda (KDU-ČSL) ist das Ergebnis eine „Bestätigung für die Regierungskoalition“. Ähnlich zufrieden äußerte sich auch der stellv. Ministerpräsident und Vorsitzende der US-DEU Petr Mareš. In der Tat hätte ein schlechteres Ergebnis die Regierungskoalition vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt, da die EU-Mitgliedschaft des Landes im Mittelpunkt ihrer Politik steht. Eine Beteiligung der Wahlberechtigten von unter 50% wäre als ein Misstrauensbeweis gegenüber der Regierung interpretiert worden.
Viele Politiker der Opposition bezeichneten die Werbekampagne des Außenministeriums für das Referendum als kontraproduktiv. Verlierer des Referendums ist auch die kommunistische Partei, die ihren Anhängern die Entscheidung zwar freistellte, erklärte aber, dass das Land noch nicht reif für einen EU-Beitritt sei. Der ODS-Vorsitzende Topolánek betonte abermals, dass „wir mit einem Beitritt niemals ein Problem hatten“.
Staatspräsident Klaus, der aus seiner euroskeptischen - bzw. nach eigner Aussage eurorealistischen - Einstellung nie einen Hehl machte, schwieg bis zum Sonntag; erst am Nachmittag ließ er dann über seinen Sprecher mitteilen, das er das Ergebnis so erwartet habe. Einzig die Teilnahme hätte höher ausfallen können, lies er wissen.
Auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft am 1. Mai 2004
Das Ergebnis des Referendums ist für das tschechische Parlament und die Regierung rechtsverbindlich. Die Parlamente der EU- Mitgliedsstaaten müssen insgesamt die EU-Erweiterung noch besiegeln. Zudem muss Tschechien noch einige Hausaufgaben für die Mitgliedschaft in der EU machen. Dazu gehört die Verabschiedung eines Gesetzes über die Vergabe öffentlicher Aufträge. Die bisherige Praxis ließ Transparenz vermissen und öffnete der Korruption Tür und Tor. Auch die staatliche sowie die kommunale Verwaltung müssen ihre Strukturen und Arbeitsfelder noch vielfältig reformieren, damit sie Empfänger europäischer Mittel werden können.
Auch bleibt zu bedenken, dass viele Tschechen mit einem „Ja - aber“ abgestimmt haben. Die Begeisterung für den EU-Beitritt hält sich in unserem Nachbarland in engen Grenzen. Einige Kommentatoren argumentierten, dass das Land in der Mitte Europas sowieso langfristig keine andere Wahl gehabt hätte, als der EU beizutreten und heute dafür die Bedingungen wohl noch die besten seien („Friedhofs-Argument“).
Dies bedeutet letztlich, dass es in Tschechien noch erhebliche Informationsdefizite hinsichtlich der EU gibt. Es gilt nun diese abzubauen, damit die Nachhaltigkeit des EU-Beitrittsprozesses vor allem in der Bevölkerung verankert wird.