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Nicht zuletzt hat Janukowytsch dies den insgesamt 89 Stimmen aus den Oppositionsfraktionen zu verdanken wovon 55 von Nascha Ukraina, 20 von der Sozialistischen Partei und 14 von dem Bündnisses von Frau Timoschenko kamen. Dass aber das Regierungsprogramm eher eine bloße Auflistung von Deklarationen und populistischen Zielen ist und keine Mechanismen und Ressourcen für ihre Umsetzung aufweist, behaupteten vorher nicht nur Oppositionsführer, sondern auch Vertreter der präsidententreuen ´Parlamentsmehrheit`.
Die zentrale Frage lautet daher: Warum unterstützte die Opposition (mit Ausnahme der Kommunisten) die Regierung, an der sie nicht beteiligt ist, sowie den Premier, an dessen Amtsbestätigung nach der Ernennung durch den Präsidenten im November gar nicht teilgenommen hatte? Die Antwort darauf ist weniger mit westlichem Politikverständnis zu finden. Sie liegt eher im Bereich des ererbten Denkens und politischen Agierens hinter den Kulissen, die für die ukrainische Politik so kennzeichnend sind.
Wie in den Medien berichtet, war die Absicht der Opposition, ihre Stimmen für die Regierungserklärung in Verbindung mit der im Gegenzug von Janukowytsch versprochenen Unterstützung des Verhältniswahlgesetzes seitens der von ihm kontrollierten Fraktion ´Regionen der Ukraine` (43 Abg.) abzugeben. Denn die Einführung eines Verhältniswahlrechts wird von der Opposition eine Schlüsselrolle bei der Durchführung der politischen Reformen beigemessen: es soll das Parlament klarer politisch strukturieren und zur Bildung einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung beitragen. Das Ergebnis der Abstimmung über dieses Gesetz, die gleich nach der triumphalen Bestätigung des Regierungsprogramms stattfand, war jedoch ein harter Schlag für die Opposition. Mit den abgegebenen 217 Stimmen wurde die benötigte Mehrheit von 226 knapp verfehlt.
Einige politische Beobachter sehen in diesem Zusammenhang einen weiteren Beweis dafür, dass Juschtschenko seine Fraktion nicht im Griff habe: es fehlten exakt neun Stimmen von bei der Abstimmung abwesenden "NU" - Abgeordneten. Für die Zukunft bedeutet dies eine Fortsetzung des "kalten Krieges" im Parlament und seine Lahmlegung für unbestimmte Zeit. Das schlechte Resultat brachte erneut die Hilflosigkeit und Schwäche der ukrainischen Opposition, aber auch zugleich den ambivalenten Charakter der durch den Präsidenten initiierten politischen Reformen zum Ausdruck. Der fehlende Konsens in den Oppositionsreihen zu diesen wichtigen Abstimmungen im Parlament - eine stärkere und treffendere Bezeichnung dafür wäre "Verrat am Wähler" - läßt Beobachter daran zweifeln, dass die Opposition als eine selbständige politische Kraft, insbesondere im beginnenden Präsidentschaftswahlkampf agieren kann.
Anhaltende Hahnenkämpfe bei der Opposition
Vergrößert werden diese Zweifel durch eine Klage von Frau Timoschenko gegen Hryniw, dem stellvertretenden Leiter des Wahlstabs von Nascha Ukraina. In einem Interview beschuldigte letzterer die Vorsitzende des Bündnisses ihres Namens darin, dass sie sich, indem ihre Fraktion für das Regierungsprogramm stimmte, einen Weg zur Zusammenarbeit mit Janukowytsch freihalte, falls Juschtschenko und Janukowytsch in der Stichwahl Gegenkandidaten sein sollten. An der Tatsache, dass 55 Abgeordnete von Nascha Ukraina für das Regierungsprogramm stimmten, trage ebenfalls Timoschenko Schuld. Laut Hryniw soll Timoschenko auch Abgeordnete von ´Nascha Ukraina` überredet haben, ihre Stimmen für das Regierungsprogramm abzugeben, um im Gegenzug die Unterstützung Janukowytschs hinsichtlich des Verhältniswahlgesetzes zu erhalten. Die ehemalige "Gasprinzessin" erwiderte darauf mit einer Gerichtsklage wegen Rufschädigung ihrer Person und der von ihr angeführten politischen Gruppierung. Ob diese Auseinandersetzung mehr eine persönliche Kontroverse darstellt oder aber auch das Verhältnis Juschtschenko-Timoschenko belasten wird, bleibt vorerst offen.
Auch das Verhältnis zwischen Juschtschenko und Moros, dem Chef der Sozialistischen Partei ist keineswegs konfliktfrei. Die Unterstützung Juschtschenkos als Spitzenkandidaten machen die Sozialisten davon abhängig, ob sie von ihm zuverlässige Garantien dafür erhalten, dass politische Reformen im Sinne einer parlamentarischen Republik wirklich durchgeführt werden. Die Argumentation von Moros ist klar: selbst ein moralisch und charakterlich gefestigter Politiker wird als Präsident kaum den weiterhin bestehenden allumfassenden Vollmachten des Staatschefs widerstehen können, solange diese nicht im Rahmen einer Verfassungsänderung modifiziert worden sind. Damit befindet sich Juschtschenko vor einem Dilemma: Präsident mit eingeschränkten Vollmachten zu werden oder auf die Wählerschaft von Moros mit seinem derzeitigen Rating von 4,8% zu verzichten.
Das Verfassungsreferendum als erprobtes Instrument des Präsidenten
Bereits im April 2000 hatte ein von Beobachtern als stark manipuliert bezeichnetes Referendum auf Initiative Kutschmas über die Einführung eines Zweikammersystems, die Reduzierung der Anzahl der Abgeordneten, das Recht des Präsidenten das Parlament aufzulösen sowie die beschränkte Aufhebung der Abgeordnetenimmunität mit überwältigender Zustimmung der Bevölkerung stattgefunden. Die Realisierung der Reformwünsche Kutschmas wurde jedoch bis heute seitens des Parlamentes nicht auf die Agenda gesetzt.
Da laut Verfassung ein Gesetzentwurfs nur einmal pro Legislaturperiode dem Parlament vorgelegt werden darf, bereitet Kutschma für August dieses Jahres einen neuen Anlauf für das Referendum vor. In Erweiterung der Reformvorschläge von 2000 möchte er nun, dass die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gemeinsam in einem Jahr stattfinden, d. h. alle fünf Jahre, was für den konkreten Fall eine Verlängerung seiner Legislaturperiode bis 2006 bedeuten würde, denn das im Frühjahr 2002 gewählte Parlament würde der Verkürzung seiner jetzigen Legislaturperiode um zwei Jahre sicher nicht zustimmen.
Laut Verfassung der Ukraine sind für entsprechende Verfassungsänderungen laut Art. 156, eine 2/3 Mehrheit (300 Stimmen) im Parlament sowie ein positives Votum des Volkes durch ein sogenanntes Allukrainisches Referendum notwendig. Kutschma scheint nun zu hoffen, dass er wie - im April 2000 - mit der Zustimmung der Bevölkerung zu den von ihm initiierten Verfassungsänderungen den Volkswillen repräsentiert und damit ein starkes Druckmittel zur Realisierung seiner Vorschläge im Parlament besitzt. Die Mehrheit der Beobachter geht davon aus, dass er für die geplante Verfassungsänderung nicht die benötigte Mehrheit in der Werchowna Rada erlangt.
Oppositionskritiker wie Moros sehen in jedem Fall die Gefahr, daß der Präsident - aber auch die ihm unterstehenden Administrationen - das Referendum mißbrauchen werden, um ihre Interessen durchzusetzen. Für den Verlauf dieses von Moros befürchteten Szenariums ist daher die Frage von entscheidender Bedeutung, inwieweit die Opposition im Parlament Zusammenhalt beweist oder sich - wie bisher - beeinflussen läßt.
Ein positiver Schritt in Richtung Geschlossenheit ist ihr Memorandum zu den Reformvorschlägen Kutschmas. Darin kritisiert die Vierer-Opposition, dass die Vorschläge ihrem Inhalt nach nicht den Interessen der Gesellschaft entsprechen, sondern zu einer Absolutierung der Präsidialmacht, zur Liquidierung des Parlamentes und der Unabhängigkeit der Gerichte sowie zur weiteren Schwächung der Selbstverwaltung führen.
Nach neuesten Umfragen des Rasumkow-Zentrums vom April 2003 haben immerhin ca. 62% der Bevölkerung von der Initiative Kutschmas zur Verfassungsänderung, gehört. Weiterhin sind ca. 81% der befragten Bürger gegen die Verlängerung der Legislaturperiode des Präsidenten von 2004 bis 2006 und würden ihm für diesen Zeitraum auch nicht ihr Vertrauen aussprechen. Anhand dieser Ergebnisse wäre also mit einer Zustimmung des ukrainischen Volkes zu der geplanten Verfassungsreform bei einem Referendum keineswegs zu rechnen. Jedoch muss auch erwähnt werden, dass ein Drittel der Befragten angab, den Inhalt der zur Abstimmung gestellten Fragen gar nicht versteht. Und genau hierauf setzt Kutschma. Er hofft, dass der Großteil des ukrainischen Volkes die Konsequenzen der Reformen gar nicht erkennt und somit für seine Reformvorschläge stimmt. Inwieweit diese Rechnung aufgeht, bleibt abzuwarten.
Die Positionierung der Präsidentschaftskandidaten
Der Grad des Zusammenwachsens der Opposition und der daraus entstehenden Fähigkeit, die Regierung und den Präsidenten stärker zu beeinflussen, ist von entscheidender Bedeutung nicht nur für das Schicksal der Kutschma-Initiative, sondern auch für den Ausgang der Präsidentschaftswahl im Herbst 2004.
Der Schulterschluß, den die Oppositionsführer Julia Timoschenko, Viktor Juschtschenko, Oleksandr Moros und Petro Simonenko auf einer Demonstration im März (siehe Kurzbericht März 2003) vollzogen, offenbart inzwischen wachsende Lücken. Ganz so einig, wie sie es der Öffentlichkeit vermitteln wollten, sind sich die Oppositionsführer eben nicht, weder in Bezug auf eine gemeinsame Agenda, noch auf einen gemeinsamen Kandidaten. Die Rating-Umfragen des Rasumkow-Zentrums zeigen, dass Juschtschenko (24,4%) als auch Kommunistenchef Simonenko (11,9%) sich an erster Stelle befinden. Damit liegen beide weit vor den möglichen präsidentennahen Kandidaten Medwedtschuk (6,5%) und Janukowytsch (6,2%).
Den aktivsten sowie integrierenden Part der vier Oppositionsparteien spielt ohne Zweifel Julia Timoschenko. Wenn sie aufgrund des gegenwärtigen Spannungsverhältnisses eine offene Konfrontation mit Juschtschenko beginnen würde, wäre dies das Ende der "geschlossenen Opposition" gegen Kutschma. Der Tatsache, dass Timoschenko die effektivste Waffe gegen Juschtschenko darstellt, ist sich natürlich auch Kutschma bewußt.
Doch auch die Stellung Juschtschenkos, der lange brauchte, um sich in die Oppositionsrolle einzufinden, ist nicht immer transparent. Er versucht sich weiterhin alle Optionen solange wie möglich offen zu halten. Damit seine Positionierungsschwäche nicht auch in den eigenen Reihen offene Kritik hervorruft, muss er sich jetzt entscheiden. Moros bemängelt bereits, daß Juschtschenko die Verfassungsreform in ihrer Gänze offenbar erst nach der Präsidentschaftswahl 2004 angehen möchte. Diese Verzögerungstaktik sei ein für ihn typisches Verhalten.
Die Perspektiven für die Opposition stellen sich also wie folgt dar: Zeigen die vier Parteien Kompromißfähigkeit, so wird der gemeinsame Kandidat Juschtschenko sein. Kommt es zu keiner gemeinsamen Plattform, wird es von seiten der Opposition zumindest einen zweiten Kandidaten geben, sprich Simonenko.
Doch auch im Umfeld Kutschmas gibt es mehrere potentielle Bewerber für das Amt des Präsidenten. Der Vorsitzende der "Vereinigten Sozialdemokraten" (SDPU) und Leiter der Präsidialverwaltung Viktor Medwedtschuk gilt als einer der möglichen Nachfolger Kutschmas. Sein Einfluß ist nicht zu unterschätzen. Sein langer Arm reicht bis in weite Bereiche der Justiz und der Medien hinein. Außerdem haben mehr als 200 Mitglieder der SDPU Spitzenpositionen in den Gebietsregierungen inne. Medwedtschuks Position in diesem Spiel ist jedoch immer noch nicht klar. Bis jetzt hat er noch keine offizielle Stellungnahme dazu abgegeben, ob er seine starke Position in Kutschmas Namen oder im eigenen Interesse mobilisieren wird.
Als ein weiterer Kandidat aus dem Präsidentenlager gilt Janukowytsch. Mit der Bestätigung des Regierungsprogramms durch das Parlament bleibt das jetzige Kabinett bis April 2004 im Sattel, was bei der für Herbst 2004 angesetzten Präsidentschaftswahl für Janukowytsch durchaus von Vorteil sein wird. Als Präsidentschaftskandidat der Regierung - und Wunschkandidat Kutschmas - hat er momentan die besten Aussichten. Hinter ihm steht unter anderem der einflussreiche Donezker Clan. Auf dem letzten Parteitag der Oligarchenpartei ´Regionen der Ukraine` mit Schwerpunkt im Donbass wurde Janukowytsch zum Vorsitzenden gewählt.
Der Einsatz von „administrativen Ressourcen“ und die Förderung Janukowytsch als Präsidentschaftskandidat von Seiten Kutschmas könnte ihm zusätzliche 20% der Stimmen einbringen. Damit befände er sich auf einer Ebene mit Juschtschenko. Experten sind der Meinung, dass bei einer solchen Konstellation eine Stichwahl zwischen Janukowytsch und Juschtschenko unvermeidlich wäre. In diesem Falle hätte Juschtschenko nur Siegeschancen, wenn sich alle Oppositionskräfte bewusst werden, dass das Volk es ihnen nicht verzeihen würde, wenn sie durch ihre Zerstrittenheit einen Vertreter der jetzigen Regierung Präsident werden lassen.