Länderberichte
Die Blockaden weiteten sich in den letzten Tagen auf die Yungas, Täler in der Gegend von La Paz, und den Chapare, ein Kokaanbaugebiet in der Nähe von Cochabamba, aus. Der bolivianische Gewerkschaftsdachverband COB (Central Obrera Boliviana) rief in der vergangenen Woche zu Demonstrationen und einem unbefristeten Generalstreik in La Paz und El Alto auf. Wegen interner Schwierigkeiten des Gewerkschaftsverbandes, nicht alle erkennen die Führung des derzeitigen, radikalen Generalsekretärs Jaime Solares an, folgte nur ein Teil der Mitglieder diesem Aufruf.
Obwohl der Widerstand gegen den Gasexport die beherrschende Parole ist, ist dies nicht als Hauptgrund für die Proteste zu verstehen sondern als alle Gruppen verbindender Ausdruck der Unzufriedenheit.
Ein in der Bevölkerung tief verwurzeltes Mißtrauen gegen Politiker, erlernt aus den Erfahrungen mit in der Vergangenheit ausgebeuteten Bodenschätzen, deren Gewinne nahezu ausschließlich in die Taschen der Mächtigen flossen, nährt den Zweifel an der Redlichkeit der Regierung in diesem neuen Fall von gewaltigen Gasvorkommen. Zu sehr scheinen die Politiker auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein. Die Geschichte hat gelehrt, dass der Reichtum an Bodenschätzen (Gold, Silber, Erze, Zink) nie dazu genutzt wurde, die wirtschaftliche Situation des Landes nachhaltig zu verbessern. Hinzu kommt, dass die Pipelines möglicherweise zu den am nächsten liegenden Häfen in Chile führen sollen und Chile auf Grund des Krieges vor über 100 Jahren, bei dem Bolivien seinen Zugang zum Meer verlor, von Teilen der Bevölkerung noch heute gehasst wird. Ziel der Exporte soll dann auch noch die, wegen der Kokaausrottungskampagne wenig geliebte, USA sein.
Aber anzunehmen, dass das Gas den eigentlichen Grund für die Proteste liefert, wäre zu kurz gegriffen. Obwohl eben diese Parole die vielen Protestgruppen „eint“, hat doch jede ihre eigenen Forderungen an die Regierung. Lehrer, Gesundheitspersonal, Studenten, Minenarbeiter, Kleinbauern, Kokapflanzer etc., verfolgen unterschiedliche Ziele, wie Gehaltserhöhungen, mehr Unterstützung für die ländliche Entwicklung, stärkere finanzielle Unabhängigkeit der öffentlichen Universitäten und anderes mehr. Nun fühlen sich diese Gruppen unter dem Dach der „Gas-Parole“ so gestärkt, dass am Wochenende der Ruf nach dem Rücktritt des Staatspräsidenten laut wurde.
Ein Defizit der aktuellen Regierungskoalition besteht darin, dass die drei Parteien (MNR, MIR und NFR) hauptsächlich damit beschäftigt sind, Posten untereinander zu verteilen. Nachdem die NFR im August in die Koalition eingetreten war, herrschte zunächst die Hoffnung, dass auf Grund stabiler Mehrheitsverhältnisse im Parlament nun Kongress und Regierung handlungsfähiger werden würden. Das Gerangel um Ämter wurde aber nur noch schlimmer, da nun auch der neue Koalitionspartner berücksichtigt werden wollte, die anderen Parteien aber nur ungern Ämter abgeben wollten. Wegen dieser Streitigkeiten ist es bis jetzt kaum zu inhaltlicher Arbeit im Kabinett und im Parlament gekommen.
Höhepunkt der Rangelei um Machtquoten war sicherlich die tumultartige Wahl des neuen Ombudsmans sowie von fünf Verfassungsrichtern am 20. September. Die allgemein anerkannte „Defensora del Pueblo“, Ana María Romero de Campero, deren Amtszeit abgelaufen war, hatte sich zwar erneut zur Wahl aufstellen lassen, ihre Kandidatur aber im letzten Moment zurückgezogen, da sich abzeichnete, dass ihre Wahl aus parteipolitischen Gründen unmöglich wurde. Als Begründung für ihren Rückzug gab sie an, nicht Teil dieser „demokratischen Farce“ sein zu wollen. Der neue „Defensor“, Iván Zegada, wird nun von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Bewegungen abgelehnt, obwohl er aus der Menschenrechtsbewegung stammt und durchaus ein geeigneter Amtsinhaber zu sein scheint. Letztlich haben Parlament und Regierungsparteien mit dieser Wahl kein Zeichen ausgesandt, dass das Vertrauen der Bürger in die Politik stärkt.
Auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen am Wochenende in El Alto und La Paz mit zahlreichen Toten und Verletzten (genaue Zahlen liegen noch nicht vor) und der nach seiner Meinung falschen Strategie der Regierung distanzierte sich der parteilose Vizepräsident, Carlos Mesa, am Montag, 13. Oktober, öffentlich von der Regierung, sagte aber, dass er sein Amt weiterhin wahrnehme. Dies ist Ausdruck seiner persönlichen Unzufriedenheit mit einer Regierungsführung, in der nicht rechtzeitig auf die Anzeichen aus der Bevölkerung reagiert wurde und in der versucht wurde, die Ausmaße der Proteste herunterzuspielen.
Zudem hatte er vom Präsidenten den ausdrücklichen Auftrag erhalten, gegen Korruption vorzugehen, als Ausdruck der Erfüllung des wichtigsten Wahlversprechens der MNR, wurde dann aber mehrfach von seinem Auftraggeber daran gehindert, den einen oder anderen Fall weiterzuverfolgen. Carlos Mesa gilt als Ehrenmann, der sein Amt nicht so ausüben durfte, wie es ihm versprochen war, und der nun an einem Punkt ankam, an dem er sich entweder von der Regierungspolitik distanzieren oder seine Glaubwürdigkeit verlieren mußte.
In seiner Fernsehansprache am 13. Oktober verkündete Staatspräsident Sánchez de Lozada, dass es keine weiteren Gasexporte geben werde ohne vorherige Konsultationen mit der Bevölkerung, dass er auf keinen Fall von seinem Amt zurücktreten werde und dass es sich bei den Protesten um Maßnahmen handele, die aus dem Ausland unterstützt würden, um die Demokratie in Bolivien und die verfassungsmäßig eingesetzte Regierung zu destabilisieren. Dabei beschuldigte er direkt die beiden Parteivorsitzenden und Abgeordneten Evo Morales (MAS) und Felipe Quispe (MIP).
Es scheint in der Tat so zu sein, dass die politischen Parteien MAS und MIP Unterstützung von ausländischen Organisationen erhalten. Möglicherweise werden hierbei aber nicht direkt Protestmaßnahmen sondern eher die inhaltliche Arbeit und die Parteienstrukturen unterstützt. Es bleibt abzuwarten, ob die Regierung nähere Angaben zu den Quellen machen wird. Bis jetzt wurden Kokaanbaugegenden, die peruanische Terrororganisation „Sendero Luminoso“ und Antiglobalisierungsbewegungen genannt.
Für gezielte Destabilisierungsmaßnahmen spricht, dass an den Protestmaßnahmen nicht immer aus eigener Überzeugung teilgenommen wird. Bei der Mobilisierung gegen die Regierung werden viele Anwohner zur Teilnahme an Demonstrationen und Blockaden gezwungen. „Juntas vecinales“, Bürgerorganisationen, die im Rahmen der kommunalpolitischen Beteiligung der Bevölkerung geschaffen wurden, treiben mindestens 10,- Bolivianos Strafgebühren pro Tag von jenen ein, die nicht demonstrieren wollen oder können. Wer weder mitmacht noch bezahlt, wird gewaltsam bestraft.
Auch innerhalb indigener Gruppen wird Druck ausgeübt, sich an den Maßnahmen zu beteiligen. Es fällt auf, dass diese Gruppen über mafiöse, autoritäre Strukturen verfügen und teilweise selbst korrupt sind (da zuweilen ein „Wegezoll“ die Weiterfahrt ermöglicht); d.h. man findet hier dieselben Strukturen, über die stetig im Zusammenhang mit Parteien und staatlichen Stellen geklagt wird.
Wie sich der augenblickliche Konflikt lösen soll, ist fraglich. Die Regierung setzt anscheinend auf die volle Unterstützung des Militärs, das gestern den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung verkündet hat. Der Koalitionspartner MIR steht zur Koalition; allerdings ist ihr Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Jorge Torres, von seinem Amt zurückgetreten. Die Partei NFR hat ihre drei Minister zunächst abberufen, hält sich aber wohl alle politischen Optionen offen. Die Oppositionsparteien ADN, MIP und MAS fordern den Rücktritt des Präsidenten.
Im Moment herrscht angespannte Ruhe.