Länderberichte
Zum historischen Kontext
Nach den chaotischen Jahren der UDP-Regierung zwischen 1982 und 1985 war der Refombedarf in Bolivien hoch und zeigte vor allem wirtschaftliche Reformen, die ab Ende 1985 eingeleitet und erfolgreich durchgeführt wurden. In den Folgejahren wurde jedoch klar, daß die auseinanderdriftende Entwicklung zwischen Gesellschaft und staatlichem Institutionengefüge die Konsolidierung der jungen demokratischen Demokratie gefährden würde.
Aufgrund dieser Erkenntnis kam es zu zwei politischen Abkommen zwischen den größten der im Nationalkongreß vertretenen Parteien, die neben einigen kurzfristig vorgenommenen Reformen (wie beispielsweise die Neustrukturierung und Neu-Besetzung der Wahlgerichtshöfe) auch andere Massnahmen vereinbarten, darunter eine Verfassungsreform. Diese wurde im Mai 1993 in der ersten Stufe vom Parlament verabschiedet, im August 1994 endgültig beschlossen (Die bolivianische Verfassung bedarf zu ihrer Reform zweier Wahlperioden. In der ersten muß das sogenante "Ley de Necesidad de la Reforma" beschlossen werden, in dem die Reformen exakt zu beschreiben sind. In den ersten Sitzungen des Nationalkongresses der darauffolgenden Wahlperiode muß dann endgültig beschlossen werden, wobei verfassungsrechtlich nicht ganz klar ist, welche Kompetenzen der neugewählte Nationalkongress mit Blick auf die Änderung des vorliegenden Gesetzes hat. In der Verfassungspraxis wird dieses Recht recht extensiv ausgelegt.).
Der Schwerpunkt dieser Verfassungsreform lag im institutionellen Bereich. Davon betroffen waren vor allem die Neustrukturierung der Dritten Gewalt durch die Einführung eines vom Obersten Gerichtshofes unabhängigen Verfassungsgerichtes, die Schaffung eines Justizrates als Verwaltungs- und Disziplinarorgan der Justiz sowie die Einführung eines Defensor del Pueblo (Ombudsmann).
Geändert wurde auch das Wahlrecht zur Abgeordnetenkammer, das nunmehr dem deutschen Bundestagswahlrecht entsprechend die Aufteilung in Wahlkreis- und Listenman-date vorsieht.
Fragen des Regierungssystems wurden nicht thematisiert. Ein Verfassungsentwurf des KAS-Partners Fundación Milenio, der einen Wechsel des Regierungssystems bedeutet hätte, wurde zwar von der Verfassunnskommission der Abgeordnetenkammer als offizielle Beratungsgrundlage herangezogen und konnte in einer Reihe von Reformbereichen erheblichen Einfluß nehmen; hinsichtlich einer Änderung des präsidentialistische Regierungssystems wurde jedoch schnell erkennbar, wo die konstitutionelle Schmerzgrenze lag.
Zur Vorbereitung und Inhalt der Verfassungsreform
Vorbereitung
Bereits 1993/94 war klar, daß dieser ersten Verfassungsreform seit 1967 weitere Änderungen folgen müßten.
Seitens der Parteien kam es zwar im Präsidentschaftswahlkampf zu einer Reihe von Vorschlägen, die selbst eine Änderung des Regierungssystems bedeutet hätten, die jedoch nach der Wahl nicht wieder aufgegriffen wurden.
Die Verfassungskommission des Abgeordnetenhauses übernahm daher die Initiative und führte im Jahre 1998 eine landesweite Befragung von Institutionen und Einzelpersönlichkeiten durch, auf deren Grundlage eine Themenpalette der für notwendig erachteten Reformen erarbeitet werden sollte. Damit sollte auch eine künftige Verfassungsreform von Beginn einen partizipativeren Ansatz verfolgen. Bezeichnenderweise wurden die Parteien in diese Umfrage nicht einbezogen.
Die Beratungen sollten bereits Anfang 1999 aufgenommen werden. In der Folgezeit haben Probleme in der Regierungskoalition die Fortführung dieser Prozesses blockierten. Die Vorbereitungsphase der Kommunalwahlen vom Dezember 1999 boten ebenfalls keinen adäquaten Kontext zu einer parteiübergreifenden Einigung boten.
Inhalt
Nachfolgend sollen die wesentlichen Themenschwerpunkte kurz dargestellt werden.
Politisches System
- Erweiterung und Aktualisierung der Staatszielbeschreibung, z.B. Aufnahme des "sozialen Rechtsstaates"
- Gesetzgebungsinitiative für Staatsbürger
- Einführung einer konsultativen und verpflichtenden Volksbefragung
- Erweiterung des Grundrechtskataloges beispielsweise hinsichtlich des Rechts auf eine saubere Umwelt, Gesundheit, angemessene Information
- Recht auf Wehrdienstverweigerung
- Aufhebung der Monopolstellung für Parteien bei Kandidatenvorschlägen und damit die Ermöglichung parteiunabhängiger Kandidaturen
- Normierung innerparteilicher Demokratie und finanzieller Transparenz
- Vereinfachung und Beschleunigung des Gesetzgebungsprozesses; damit verbunden ist eine Rückführung von Einspruchs- bzw. Ablehnungsrechten der jeweiligen Revisionskammer sowie die Übertragung legislativer Kompetenzen vom Plenum auf die Ausschüsse
- Neuformulierung der Kompetenzen des Senats im Sinne einer tatsächlichen Repräsentationsfunktion für die Departments (Regionen). Sollte dies scheitern und kein System der regionalen Autonomie wie in Spanien oder Italien zustande kommen, sei Abzuschaffung des Senats vorzuziehen. *Ermöglichung einer einmaligen unmittelbaren Wiederwahl des Staatspräsidenten; bislang ist nur eine erneute Wahl nach Ablauf einer Amtsperiode erlaubt
- Schaffung eines "Primer Ministro" oder eines Kabinettschefs, die gegenüber dem Parlament politisch verantwortlich sind, d.h. durch ein Mißtrauensvotum abgesetzt werden können. Sollte es nicht gelingen, das präsidentialistische Regierungsystem in ein parlamentarisches zu verwandeln, so müsse zumindest die Machtstellung des Staatspräsidenten abgeschwächt werden
- Ermöglichung von Notfalldekreten durch die Regierung in den Fällen, in denen das reguläre Gesetzgebungsverfahren nicht greifen kann: die Dekretrechte des bolivianischen Staatspräsidenten sind im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Verfassungen sehr begrenzt
- Ermöglichung einer teilweisen Inkraftsetzung von Gesetzen;
- Reform der durch die Verfassungsänderung 1994 eingeführten konstruktiven Misstrauensvotums auf kommunaler Ebene
- Änderung der zeitaufwendigen und nicht ganz klaren Normen zur Verfassungsreform
- Klarstellung einer Reihe von verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Nationalkongresses, beispielsweise hinsichtlich der Möglichkeit, verfassungsinterpretierende Gesetze zu erlassen
- Eine Klarstellung und bessere Abgrenzung der Kompetenzen der drei Staatsgewalten
- Verfassungsrechtliche Öffnung für regionale Integrationsprozesse im Sinne einer zumindest partiellen Übertragung von staatlicher Souveränität und eine Anerkenung von Gemeinschaftsrecht, dem interne Regelungen nicht entgegenstehen dürften
- Streichung der Fixzahl der Mitglieder der Abgeordnetenkammer, einer Regelung die bei der Umsetzung der letzten Verfassungsreform in Gestalt des neuen Wahlrechtes erhebliche Schwierigkeiten mit sich brachte
- Detailliertere Ausformulierung von Prozessrechtsgarantien
- Einführung eines "Habeas data", d.h. Datenschutz
- Neuabstimmung der Kompetenzen zwischen dem Obersten Gerichtshof und dem Verfassungsgericht
- Massnahmen zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der Justiz
- Anerkennung völkerrechtlicher Verträge im Sinne von übergesetzlichen Regelungen
- Ablösung der jetzigen Wirtschaftsverfassung durch den Einbau des "Subsidiaritätsprinzip des Staates"
Zum weiteren Verfahren
Es handelt sich dabei ohne Frage um einen sehr umfangreichen Katalog von Reformvorstellungen, der es fraglich macht, ob die Zeit reicht, alle diese Fragen in der erforderlichen Gründlichkeit zu diskutieren. Es bleibt zu hoffen, daß sich die bolivianische Politik gerade vor dem Hintergrund der teilweise problematischen, teilweise im sprichwörtlichen Sinne in letzter Minute vereinbarten Redaktion der Verfassungsreform von 1994 dessen bewusst ist.
Der Beratungsbedarf des bolivianischen Nationalkongresses ist vor diesem thematischen Hintergrund, aber auch wegen der technisch und finanziell limitierten Ressourcen als sehr hoch zu bezeichnen. Es wird in diesem Zusammenhang auch überlegt, die Reformen in zwei Teile zu splitten, einen, der die unproblematisch zu vereinbarenden Änderungen enthält, einen zweiten, der die strittigen Fragen behandeln soll.
Bei dem politischen Parteien ist nicht erkennbar, auf welche Reformen sie sich focussieren wollen und wie stark die Bereitschaft zu grundlegenden Veränderungen ist.
Die nächsten Wochen werden zeigen, wie stark nicht nur der politische Wille, sondern auch die politische Kraft ist, einen neuen Reformprozess zu initiieren. Erkennbar ist, daß der Präsident der Abgeordnetenkammer sowie der Vize-Präsident Boliviens die Verfassungsreform zu ihrer Sache machen wollen.
Entscheidend ist, dass dieser Prozess in den nächsten Wochen die offiziellen Weihen, sprich das Placet des Staatspräsidenten erhält. Da in der ersten Jahreshälfte 2002 die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden, kommt es darauf an, die nötigen Vereinbarungen bis spätestens Ende des nächsten Jahres zu treffen, da ansonsten der Wahlkampf eine Einigung unwahrscheinlich machen dürfte. Der Präsident der Abgeordnetenkammer hat das Rechtsstaatsprogramm der KAS offiziell um Unterstützung dieser Verfassungsreform gebeten.