Länderberichte
Der Kosovo-Konflikt
Der erste Test für die Parteien und die wohl größte Prüfung für die bulgarische Öffentlichkeit war der Konflikt im Kosovo, von dem Bulgarien als unmittelbarer Nachbar Jugoslawiens stark in Mitleidenschaft gezogen zu werden drohte. In dieser angespannten Situation war es die Regierungsmehrheit der Vereinigten Demokratischen Kräfte (VDK), die sich von Anfang an entschlossen auf die Seite des Nordatlantischen Bündnisses stellte. Teil dieser Haltung war die Erklärung des Parlaments zum Kosovo, die in der von der - vorwiegend türkischen - Union für Nationale Rettung (UNR) mitgetragenen Entscheidung zur Öffnung des bulgarischen Luftraumes für NATO-Kampfflugzeuge am 4. Mai gipfelte.
Demgegenüber hielt sich die oppositionelle Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) zunächst zurück, besann sich dann anders und organisierte proserbische Kundgebungen gegen die Intervention der NATO, bestand auf einem Referendum zur Überlassung des Luftraumes und erklärte sich am Ende mit der Operation "Joint Guardian" im Kosovo einverstanden, gegen die sie lange angekämpft hatte. Die vermeintlich prowestlichen Eurolinken ihrerseits setzten der Öffentlichkeit lang und breit auseinander, wie sehr sie doch eine bulgarische NATO-Mitgliedschaft wünschen, um dann zusammen mit der BSP gegen die Gewährung des Luftkorridors zu stimmen.
Die unbeirrbare Position der Regierung zugunsten des Westens wog um so schwerer, als sie nicht allein gegen die wütende oppositionelle Propaganda, sondern auch gegen das vorherrschende öffentliche Meinungsklima und zudem im Vorfeld der Kommunalwahlen beibehalten wurde. Negative Auswirkungen auf das Ansehen der Regierungsparteien sowie bis zu einem gewissen Grade auf ihr Abschneiden bei der kommunalen Abstimmung waren damit zwar vorprogrammiert, doch wurde dies durch die Anerkennung der westlichen Staatengemeinschaft, die letztlich durch die Einladung zu Beitrittsverhandlungen auf dem EU-Gipfel im Dezember gekrönt wurde, mehr als wettgemacht.
Die Kommunalwahlen
Im Oktober 1999 standen die dritten freien Kommunalwahlen seit der Wende 1989 auf der Tagesordnung. Der letzte Urnengang 1995 hatte der BSP eine erdrückende Übermacht auf der lokalen Ebene verschafft. Triumphierend hatten die Sozialisten in der Wahlnacht eine nahezu ausschließlich in roter Farbe gehaltene Karte des Landes präsentiert, auf der die wenigen von der Union Demokratischer Kräfte (UDK) gehaltenen Ortschaften - darunter die Hauptstadt Sofia - als kleine blaue Punkte eingesprenkelt waren.
Doch nach dem Scheitern des sozialistischen Kabinetts war es der UDK innerhalb des Bündnisses VDK gelungen, 1997 einen erdrutschartigen Sieg bei den vorgezogenen Parlamentswahlen zu erringen. Nun hoffte sie, ihre Machtbasis endlich auch auf die "rote" kommunale Ebene ausdehnen zu können. Die Abstimmung Mitte Oktober verlief für die VDK jedoch eher enttäuschend und hinterließ einen etwas bitteren Beigeschmack. Wohl gingen die Regierungsparteien nach der Zahl der abgegeben Stimmen als knapper Sieger hervor, es gelangen auch Einbrüche in als uneinnehmbar geltende rote Festungen, ebenso konnten sich ihre Ergebnisse in kleineren und kleinen Ortschaften, die bis dahin als Machtbasis der Sozialisten galten, durchaus sehen lassen, doch büßten sie gegenüber den Parlamentswahlen 1997 über die Hälfte ihrer Stimmen ein und an sich "tiefblaue" Hochburgen wie die Großstädte Varna und Stara Sagora ergaben fast kampflos der BSP.
Die Gründe dafür mögen komplexer Natur sein, sind aber gewiß zum einen in dem seit 1997 eingeschlagenen Regierungskurs konsequenter wirtschaftlicher Transformationen und den damit einhergehenden sozialökonomischen Einschnitten zu suchen. Die Kommunalwahlen fielen genau in die Mitte der Legislaturperiode, da viele der eingeleiteten Reformschritte noch nicht gegriffen haben und die Bevölkerung lediglich ihre negativen Konsequenzen zu spüren bekommt. Ministerpräsident Iwan Kostov (UDK) hatte ohnehin angekündigt, die Reformvorhaben "ohne Rücksicht auf Verluste" durchziehen zu wollen. Zusätzliche ökonomische Nachteile für das Land sind durch die Kosovo-Krise entstanden.
Vermutlich ausschlaggebender für das wenig überzeugende Abschneiden der VDK jedoch dürften regionale Faktoren und eine Reihe von subjektiven Fehlern und Unzulänglichkeiten gewesen sein. So hatte man bei der Selektion der Kandidaten trotz der durchgeführten Vorwahlen - "Primaries" nach amerikanischem Muster - offenbar nicht immer eine glückliche Hand. Die besonders große Rolle der regionalen Parteistrukturen bei Kommunalwahlen ist bekannt, doch waren diese vielerorts infolge interner Probleme und Reibereien nicht auf der Höhe der Situation. Schließlich müssen auch Defizite in der Wahlkampfführung insgesamt in Betracht gezogen werden.
Die BSP hat allerdings von der gesunkenen Popularität der Regierung denkbar wenig profitieren können. Sie verzeichnete auch eine Abwanderung von Wählern gegenüber 1997, ihr Einfluß in der Gesellschaft wurde damit insgesamt weiter zurückgedrängt.
Die Einladung der EU
Bevor Bulgarien auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 11. Dezember zu Beitrittsverhandlungen mit der Union eingeladen werden konnte, galt es jedoch, eine weitere Hürde zu nehmen: Das einzige bulgarische Atomkraftwerk in Kosloduj, das den Löwenanteil an der bulgarischen Stromerzeugung beisteuert und damit volkswirtschaftlich von strategischer Bedeutung ist, fand sich plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nach Einschätzung westlicher Fachleute können die ersten vier (kleinen) Reaktorblöcke des AKW ungeachtet ihrer grundlegenden Modernisierung seit 1989 aufgrund konstruktiver Mängel prinzipiell nicht auf das Niveau westlicher Sicherheitsstandards gehoben werden.
Die 1992 mit dem Mandat der türkischen Partei Bewegung für Rechte und Freiheiten (BRF) gebildete, von der BSP getragene "überparteiliche" Regierung des Ljuben Berov hatte 1993 aus Gründen, die teilweise im Dunkeln liegen, in einem offiziellen Dokument in ihre Abschaltung bis 1997/98 eingewilligt, obwohl bereits damals abzusehen war, daß diese Frist ökonomisch unvertretbar und unrealistisch ist. In der vom Parlament im März 1999 angenommenen Strategie für die Energiewirtschaft wurde die sukzessive Stillegung der ersten vier Blöcke bis 2010 ins Auge gefaßt. Hingegen drängte die EU auf einen möglichst frühen Abschalttermin.
Nach heftigen Debatten erteilte das Parlament der Regierung ein erweitertes Mandat zur Verhandlungsführung mit der Europäischen Union, um einen gegenseitig akzeptablen Zeitraum für ihre Schließung zu vereinbaren. Diesmal votierten die BSP und UNR gegen den Parlamentsbeschluß. In der Tat stößt die Stillegung des AKW in der bulgarischen Bevölkerung auf wenig Sympathie, befürchtet man doch dadurch ökonomische Engpässe. Die Regierungsparteien mußten damit zum zweiten Mal nach der Kosovo-Krise gegen den Strom anschwimmen und eine unpopuläre Entscheidung treffen. Aber sie hatten damit erneut unter Beweis gestellt, daß sie unter keinen Umständen Kompromisse mit ihrer proeuropäischen Einstellung einzugehen gewillt sind.
Den darauffolgenden Unterredungen mit der Europäischen Union war Erfolg beschieden, man erzielte eine gegenseitig annehmbare Lösung, und der EU-Gipfel in Helsinki brachte die ersehnte bedingungslose Einladung zu Beitrittsverhandlungen. Hier nun endlich demonstrierten alle parlamentarisch vertretenen politischen Kräfte Einigkeit und begrüßten die Entscheidung einhellig. In Meinungsumfragen wurde die Einladung als eines der bedeutsamsten oder gar als Top-Ereignis für Bulgarien im 20. Jahrhundert ermittelt.
Und es war nicht allein wegen der insbesondere seit 1997 eingeleiteten folgerichtigen wirtschaftlichen und politischen Transformationen möglich geworden, sondern auch und vor allem wegen der unzweideutig prowestlichen Haltung der Regierung im Kosovo-Konflikt sowie ihrer flexiblen Position in bezug auf das Kernkraftwerk Kosloduj. Die Haltung der fundamentaloppositionellen BSP in diesen Fragen hätte das Land in jedem Falle in eine Sackgasse geführt. So nimmt es nicht wunder, daß Staatspräsident Petar Stojanov in einer offiziellen Ansprache darauf verwies, daß die Einladung der EU den alten bulgarischen Komplex zerstört habe, ein Spielball der Großmächte zu sein. Von nun an hänge alles von der Arbeit, Intelligenz und Beharrlichkeit der bulgarischen Bevölkerung ab.
Die Kabinettsumbildung
Das letzte große politische Ereignis 1999 war die Kabinettsumbildung Ende Dezember. Ministerpräsident Kostov hatte sie geraume Zeit zuvor angekündigt und führte sie trotz aller Angriffe der Medien und der Opposition durch. Dabei hatte er als Hauptursachen für die Kabinettsumbildung die Einladung der EU, die eine strukturelle Anpassung der Regierung an europäische Gepflogenheiten erforderlich mache, sowie das für viele Parteistrategen unerwartet schlechte Ergebnis der UDK bei den Kommunalwahlen angegeben. Andererseits hing die Neustrukturierung der Exekutive mit den daraus resultierenden Umbesetzungen in den Ministerien seit geraumer Zeit in der Luft, und die EU-Einladung sowie der kommunale Urnengang lieferten nur einen mehr oder weniger willkommenen Anlaß dazu.
In der Rückschau muß man sagen, daß die meisten Minister von ihrem Posten nicht so sehr wegen mangelnder fachlicher Qualifizierung entbunden wurden, sondern vielmehr wegen ihrer Unfähigkeit, der breiten Öffentlichkeit die Reformschritte zu erläutern sowie aufgrund der gesellschaftlichen Einstellungen ihnen gegenüber. Denn ein Großteil der freien Presse hat - aus welchen Gründen auch immer - nichts unversucht gelassen, um bestimmte Mitglieder des Kabinetts zu verunglimpfen.
In dieser Situation blieb dem Premier kaum eine Wahl als sie abzuberufen. Dennoch fielen die Personalentscheidungen drastischer aus als erwartet: Es wurden zehn Minister - d.h. zwei Drittel des Ministerrates - entlassen und neun neue berufen. Die Umbesetzungen wurden von 149 Abgeordneten gebilligt, 59 stimmten dagegen, 10 enthielten sich der Stimme. Dafür votierten die VDK und die UNR, dagegen die BSP, während die Eurolinke nicht an der Abstimmung teil nahm.
Ohne über die Korrektheit der strukturellen und personellen Veränderungen zu spekulieren: der Inhalt der vom Kabinett betriebenen Politik dürfte aber auch angesichts der neuen Realitäten in seinem Wesensgehalt unangetastet bleiben. Innenpolitisch haben der weitere Auf- und Ausbau einer funktionierenden Demokratie und konsequente Wirtschaftsreformen höchste Priorität. In außenpolitischer Hinsicht bleibt die EU- und NATO-Integration nach wie vor oberstes Ziel.
Bulgarien betritt das neue Jahrtausend als Aufnahmekandidat in die EU (mit der Aussicht, bald Vollmitglied der NATO zu werden) und mit einer weiterhin stabilen Regierung, die dem Reformkurs verpflichtet ist. Die nächste große Herausforderung für das Land sind die Parlamentswahlen 2001, von denen in hohem Maße abhängen wird, ob die Umgestaltungen eine Fortsetzung erfahren werden oder wieder - analog 1992-97 - ein Zickzackkurs eingeschlagen wird, der dem Land nichts Gutes gebracht hat.
In Anbetracht der Haltung, die die Opposition im Verlaufe des Jahres 1999 an den Tag gelegt hat, gibt es guten Grund für die Behauptung, daß die sicherste Garantie für die Fortführung der demokratischen und marktwirtschaftlichen Transformationen ein erneuter Wahlsieg der Vereinigten Demokratischen Kräfte wäre. Bleibt zu hoffen, daß die bulgarische Bevölkerung das auch eingesehen hat.