Länderberichte
Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit sind notwendige Rahmenbedingungen für eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Auch die Sozialistische Republik Vietnam hat sich zu diesen Grundsätzen bekannt und beabsichtigt, rechtsstaatliche und demokratische Strukturen aufzubauen.
Vietnam hat seit einigen Jahren, neben umfassenden Wirtschaftsreformen, auch Reformen im politischen Bereich eingeleitet, um dadurch mehr Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit zu erreichen und zu garantieren. Seit wenigen Jahren kann die grundsätzliche Bereitschaft der politischen Führung beobachtet werden, vermehrt staatliche Macht rechtsstaatlichen Ansprüchen zu unterwerfen.
Vietnam strebt an, die folgenden grundlegenden Elemente eines Rechtsstaates in seinen staatlichen Aufbau sukzessive einzuführen und hat die ersten Schritte dazu getan.
Rechtsstaatlichkeit bedeutet:
- die Achtung der Menschenrechte,
- eine Definition und Begrenzung des staatlichen Gewaltmonopols,
- eine Gewaltenteilung mit transparenten und rechtsförmigen Verfahren,
- die gesetzmäßige Bindung des Verwaltungshandelns,
- eine unabhängige und funktionierende Justiz,
- die Gleichbehandlung aller Bürger bei der Rechtssetzung und der Rechtsanwendung.
Noch ist es ein großes Manko, dass weder im wirtschaftlichen noch im politischen Bereich von den politisch Verantwortlichen in Vietnam klare Linien und Zielsetzungen vorgegeben und verfolgt bzw. implementiert werden. Da konkrete Zielvorgaben in der Öffentlichkeit nicht genannt werden oder nur vage umschrieben bleiben, ist oft der Eindruck vorherrschend, dass nach dem Schema „muddling through“ Modernisierung und Erneuerung betrieben wird. Bei vielen politischen Veränderungen scheint es so, als habe purer Pragmatismus sowie eine Politik des „Versuches und Irrtum“ Plan- und Kommandowirtschaft mit zentralistischen Zielvorgaben abgelöst.
Dieser Bericht soll einen kurzen Überblick über den bisherigen staatlichen Aufbau, die Rechtsstaatsentwicklung und mögliche Zukunftsvisionen für die Realisierung eines Rechtsstaates in Vietnam geben.
Wesentliche Akteure in der Diskussion um die Modernisierung und auch wesentliche Träger des Staatsaufbaues sind:
- die Kommunistische Partei,
- die Regierung,
- die Nationalversammlung,
- die Generalstaatsanwaltschaft,
- lokale Verwaltungen,
- der Aufbau der Justiz.
Die Kommunistische Partei Vietnams (KPV)
Vietnam ist ein Einparteienstaat. Die neue Verfassung von 2002 hält weiterhin in Artikel 4 an der Vorherrschaft der Kommunistischen Partei mit ihrer Politik des dreifachen Neins fest:
- kein ideologischer Pluralismus,
- keine formelle Opposition und
- keine Parteien außerhalb der KPV.
Bis 1988 bestand in Vietnam formal ein Mehrparteiensystem, wobei die neben der KPV stehenden Parteien, wie die Sozialistische Partei (SPV) und die Demokratische Partei (DPV), keinen nennenswerten politischen Einfluss hatten und sich deswegen, offiziellen Meldungen zufolge, im Oktober 1988 selbst auflösten. Die Wiederherstellung eines Mehrparteiensystems wird bis zum heutigen Tage abgelehnt und oppositionelle Parteien oder Gruppierungen sind strikt verboten. Trotzdem bemüht sich die KPV, dass in den Führungsorganen verschiedene „Fraktionen“ der Partei vertreten sind, deren Existenz offiziell aber nicht anerkannt wird.
Mit “Doi Moi“ wurden auf dem VI. Parteitag 1986 Signale für einen ernormen gesellschaftlichen Wandel gegeben. Geplant wurde die sukzessive Rücknahme der Kollektivierung und die Zulassung privatwirtschaftlicher Marktstrukturen mit der Zielsetzung der Verbesserung des Lebensstandards. Diese Reformen richteten sich in erster Linie auf die wirtschaftliche Öffnung, denn die Politik sollte weiterhin von der KPV bestimmt werden. Allerdings bekam die Partei den offiziellen Auftrag, die Demokratisierung im Lande voranzutreiben.
Es gehört mit zu den Grundmerkmalen des politische Systems in Vietnam, dass, trotz der zentralistischen Grundstruktur, ein bemerkenswerter Dualismus zwischen Staat und Gesellschaft sowie zwischen Zentralregierung und untergeordneten Einheiten besteht.
Modellhaft hierfür ist die Eigenständigkeit des Dorfes, das gegenüber der Bürokratie seit Jahrhunderten lediglich drei Aufgaben zu erfüllen hatte, nämlich Ruhe zu bewahren, Steuern zu zahlen und Arbeitsdienstleistungen zu erbringen. Das Dorf, als kleinste Einheit im Staat, pflegte darüber hinaus aber mit Erfolg, auf Anerkennung seiner Autonomie zu pochen. Diese selbstständige Denkweise ist bis heute erhalten geblieben und zeigt sich u.a. auch bei Fabrikbelegschaften, Nachbarschaften und Universitätsfakultäten.
Die Regierung
Der Premierminister ist der alleinige und unumstrittene Regierungschef. 1992 wurde der bis dahin bestehende kollektive Ministerrat abgeschafft und das Amt des Premierministers eingeführt. Neben dem KPV-Generalsekretär ist der Premierminister die politisch wichtigste und mächtigste Person im Lande. Ihm untersteht die Zentralregierung, der die Minister und die Vorsitzenden anderer Behörden mit Ministerialstatus angehören.
Die Zentralregierung verteilt die Kompetenzen auf die verschiedenen Ministerien und nachgeordneten Behörden. Trotz gemeinsamer Beschlüsse bei den jährlichen Arbeitsprogrammen der Regierung, den Gesetzesentwürfen und sozialökonomischen Entwicklungsplänen, hat der Premierminister noch immer weitreichende alleinige Entscheidungsgewalt, auch im Falle von Meinungsverschiedenheit und Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Ressorts. Die Mehrzahl der parlamentarischen Gesetze werden noch immer von der Regierung initiiert und es ist üblich, dass Entscheidungen (Dekrete) des Premierministers oder des Regierungsbüros, wenn es keine parlamentarischen Gesetze gibt, erlassen werden, um diese Lücken zu schließen.
Die Nationalversammlung
Die Nationalversammlung (NV) ist gemäss des Artikels 83 der Verfassung von 1992 das vietnamesische (Ein-Kammer) Parlament und formell das oberste Staatsorgan und einziges Legislativorgan des Landes (die letzte NV wurde 2002 für fünf Jahre gewählt und hat 498 Abgeordnete). Reguläre Parlamentssitzungen finden nur zweimal im Jahr statt (im Zeitraum April/Mai und Oktober/November). Dazwischen werden die Aufgaben der NV vom Ständigen Ausschuss der NV (SANV) wahrgenommen. Dieses Organ kann im von der NV gegebenen Rahmen wiederum Gesetze erlassen, sogenannte “Ausschussgesetze”.
Die Nationalversammlung ist aber bei weitem nicht mehr nur ein Organ, das Entscheidungen der Partei formal absegnet. Vielmehr hat sich die NV eine sachliche und zum Teil auch durchaus kontroverse Diskussion zu eigen gemacht, wenn Entscheidungen anstehen. So beschloss die NV zum Ende der abgelaufenen Legislaturperiode, dass die sich bisher auf zwei vierwöchige Sitzungen beschränkende Versammlung der Abgeordneten nicht mehr ausreicht, um den wachsenden Aufgaben des Parlamentes gerecht zu werden.
Die Rolle der Nationalversammlung (NV) und deren politisches Gewicht, wurde im Laufe der Verfassungen von 1959, 1980 und 1992 stetig verstärkt. Gleichzeitig wurden auch ihre Aufgaben immer wichtiger, umfangreicher und klarer festgelegt.
Die Entstehungsgeschichte der Nationalversammlung
Nach dem Ende des Vietnamkrieges bestand das Land aus der Demokratischen Republik Vietnam im Norden und der Republik Südvietnam. Für ihre Wiedervereinigung wurden Wahlen zu einer gemeinsamen Nationalversammlung abgehalten, um ein Gefühl der Einheit zu schaffen.
Die Wiedervereinigung selbst erfolgte in drei Schritten:
- Politische Beratungskonferenz zur Wiedervereinigung
- Wahlen zur Nationalversammlung
- Erste Sitzung der Nationalversammlung.
Am 23. April 1976 beteiligten sich mehr als 23 Millionen Wähler (98 % der Wahlberechtigten) an der Wahl zur NV. 492 Abgeordnete wurden gewählt, davon waren 80 Arbeiter, 100 Bauern, 54 Soldaten, 141 Politiker, 98 Intellektuelle und 13 Religionsangehörige. Die Unerfahrenheit der Abgeordneten und der durch die KPV vorgegebene geringe Spielraum für die NV verhinderten eine wirkungsvolle parlamentarische Arbeit bis 1986.
Erst durch “Doi Moi”, das 1986 verabschiedete Reformprogramm für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, wurde die Stellung des Parlamentes gestärkt. So wurde mittlerweile in den letzten Jahren ein vielfaches mehr an Gesetzen erlassen als in den vorangegangen 40 Jahren. Die Ausarbeitung, Überprüfung und der Erlass von Gesetzen erfolgte immer einheitlicher und nach einem systematischeren Verfahren. Mittlerweile wurde auch das Budgetrecht auf die Nationalversammlung übertragen, was eine weitere enorme Ausweitung der Kompetenzen bedeutet.
Die Generalstaatsanwaltschaft (Generalstaatsinspektion)
Formal und nach dem Grundgesetz, ist die Nationalversammlung das oberste Staatsorgan und einziges Legislativorgan des Landes. Ihre Gesetzgebungskompetenzen werden durch die Verfassung begrenzt, die nur auf dem Weg einer Zwei-Drittel-Mehrheit abgeändert werden kann. Eine unabhängige Judikative, die die Gesetze interpretiert, nicht verfassungsgemäße Regelungen und Entscheidungen außer Kraft setzt und die Machtausübung durch die anderen Staatsorgane überwacht, existierte bis dato nicht. Das stellt ein grundlegendes rechtsstaatliches Problem dar.
In der Praxis übernimmt die Generalstaatsanwaltschaft (Generalstaatsinspektion) diese Überwachungsrolle, die zwar formal von der NV bestellt, tatsächlich aber als Teil der Regierung operiert. Das in der Verfassung verankerte Vorrecht der NV/SANV auf Interpretation von gesetzlichen Bestimmungen und auf Überwachung der Regierungsarbeit, wurde bislang selten ausgeübt und die Rechtspraktiken der Verwaltung sind deshalb fast keiner Kontrolle ausgesetzt. Die Gesetze des Parlamentes, die meist vage gefasst sind, werden von Regierungsorganen ausgelegt, die sich wiederum einen großen Spielraum für ihre Interpretationen einräumen.
Lokalverwaltungen
Volksräte sowie Volkskomitees fungieren als Lokalparlamente auf Provinz-, Distrikt- und Gemeindeebene. Die Volksräte sind dabei das Pendant zur NV, sie werden direkt gewählt und wählen ihrerseits die Volkskomitees der entsprechend Verwaltungsebene, wobei das Volkskomitee das Pendant zur Regierung darstellt. Wie auch die NV im Vergleich zur Zentralregierung, so spielen auch die Volksräte in der Praxis eine wesentlich geringere Rolle als die Volkskomitees, die mit ihren unterstellten Ressorts die Lokalregierungen bilden. Die Volksräte sind somit mehr Bestätigungsorgan der Volkskomitees.
Drei Verwaltungsebenen sind zu unterscheiden:
- Provinzebene: Vietnam besteht aus 57 Provinzen und vier zentralverwalteten Städten (Hanoi, Ho Chi Minh, Hai Phong und Da Nang).
- Distriktebene: Die Provinzen gliedern sich wiederum in Provinzhauptstädte und provinzverwaltete Städte und ländliche Distrikte. Die Zentralverwalteten Städte unterteilt man in ihre Stadtdistrikte, die umliegenden ländlichen Distrikte und Städte.
- Gemeinde- und Stadtteilebene: Die verschiedenen Distrikte gliedern sich ihrerseits in Stadtteile, Gemeinden und distriktverwaltete Städte.
Der Aufbau der Gerichtsbarkeit
Der Oberste Gerichtshof
Vietnams Judikative setzte sich aus dem Obersten Volksgerichtsorgan (OVGH), lokalen Gerichten auf Provinz- und Distriktebene und speziellen Militärgerichten zusammen. Gerichtsfälle werden in der Regel von professionellen Richtern und Laien-Assessoren (Schöffen), meist pensionierten Richtern, behandelt. Ihre Unabhängigkeit ist in der Verfassung garantiert, in der Praxis aber nur bedingt gegeben.
Die Vietnamesische Verfassung und die gesetzlichen Bestimmungen dürfen nicht von vietnamesischen Gerichten interpretiert werden. Dieses Recht ist ausschließlich der NV und dem SANV vorbehalten, obwohl diese den OVGH mit der Vorbereitung offizieller Interpretationen beauftragen können. Der OVGH kann sogenannten Verallgemeinerungen zum Stand der Rechtsprechung treffen, obgleich diese die anderen Gerichte nicht direkt binden. Durch die Flut von Prozessen in den letzten Jahren und die gestiegene Nachfrage nach Interpretationen geht der OVGH zunehmend dazu über, Verallgemeinerungen zu verfassen.
Die Schöffen in Vietnam sind, im Gegensatz zu Deutschland, meist keine Laien, sondern ausgebildete Juristen, die als Richter gearbeitet haben und bereits pensioniert wurden. Fortbildungen bzw. Weiterbildung für Richter beziehen auch immer die Schöffen mit ein.
Das Volkskontrollorgan
Die Volkskontrollorgane spielen faktisch die Rolle einer Staatsanwaltschaft und können strafrechtlich und in bestimmten Fällen auch zivilrechtliche Verfahren einleiten. Sie besitzen darüber hinaus aber auch eine bedeutsame Kontrollfunktion, z.B. hinsichtlich der Einhaltung von Gerichtsverfahrensprozeduren (faktisch alle Gerichtsverfahren erfordern die Anwesenheit von Vertretern der Staatsanwaltschaft) und die Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Regelungen. Sofern z.B. ein Ministerium Durchführungsbestimmungen erlässt, die seine Kompetenzen übersteigt, wird es normalerweise die Generalstaatsanwaltschaft sein, die das Ministerium auffordert, diese Bestimmungen zurückzunehmen oder aber diese in Übereinstimmung mit bestehenden Gesetzen zu bringen.
Der O VGH besteht aus Richterrat, Richterkomitee, zentraler Zivil-, Straf- Wirtschafts-, Verwaltungs- und Arbeitsgerichten, sowie einem Berufungsgericht. Generell hat der OVGH eine Überwachungsfunktion in Bezug auf die unteren Gerichte. Dies schließt die Beantragung von Revisionsverfahren und Neuverhandlungen in bezug auf erstinstanzliche und Berufungsurteile ein.
In groben Umrissen kann die Funktion der einzelnen Gerichtsebenen wie folgt beschrieben werden:
- Lokale Gerichte: Die Distriktgerichte sind ausschließlich erstinstanzliche Gerichte, die Provinzgerichte dagegen behandeln sowohl Fälle in erster Instanz als auch Berufungen gegen Entscheidungen der Distriktgerichte, einschließlich Revisions- und Neuverhandlungen bei groben Rechts- oder Verfahrensfehlern. Letztere können aber nur von den Provinzgerichten oder Provinzstaatsanwälten beantragt werden.
- Zentralgerichte der OVGH: Die zentralen Zivil-, Straf- Wirtschafts-, Verwaltungsgerichte können erstinstanzlich tätig werden, wenn es formell von einem Lokalgericht verlegt wird. Ihre hauptsächliche Funktion ist, die eines Berufungsgerichts und die zentralen Wirtschafts- und Arbeitsgerichte hören und verhandeln ausschließlich Berufungen.
- Berufungsgericht, Revisionskomitee und Richterrat des OVGH: Diese drei Institutionen sind nur Berufungsinstanz. Sie hören Berufungen gegen Entscheidungen der direkt untergeordneten Gerichte. Richterkomitee und Richterrat können allerdings Revisionsverfahren und Neuverhandlungen in Bezug auf Entscheidungen aller untergeordneten Gerichte beantragen. Die Revision und die Neuverhandlung von Entscheidungen des Richterkomitees kann nur vom Vorsitzenden des Richterrates des OVGH und dem Generalstaatsanwalt beantragt werden.
Obwohl die Institution eines Verfassungsgerichts, bzw. eine Verfassungskommission zu begrüßen wäre und die Errichtung einer solchen Institution bereits der NV vorgeschlagen wurde, besteht ein solches in Vietnam bislang noch nicht. Bisher konnten und können Verwaltung und Partei sanktionslos gegen die Verfassung verstoßen. Die Verfassung dient als Orientierung und Empfehlung, nicht als Rechtssatz. Das hängt naturgemäß auch damit zusammen, dass kein Gericht die Verfassung durchsetzen kann.
Anwaltskammern/Juristenvereinigungen
Die Anwaltskammern sind juristische Personenvereinigungen, die sich für soziale und berufliche Belange der Anwälte einsetzen. Vom Aufbau her ähneln sie dem Anwaltskollegium in der früheren DDR. Jede Provinz verfügt über eine solche Anwaltsvereinigung und für die Rechtsanwälte ist es Pflicht, ihnen anzugehören.
Wo steht Vietnam beim Aufbau seines Rechtsstaates?
Die Idee eines Staates, in dem das Gesetz herrscht und der allen Bürger/innen Rechtssicherheit gewährt, entstand schon in der griechischen Antike. Die Philosophie der Aufklärung nahm die gleichfalls aus der Antike stammende Naturrechtslehre wieder auf, wonach jeder Mensch in seiner Natur begründete, angeborene Rechte besitzt.
Die Grundprinzipien für den Aufbau eines Rechtsstaates sind:
- Freiheitsrechte, Menschenrechte,
- Rechtsgleichheit (vor dem Gesetz sind alle Buerger gleich),
- Rechtssicherheit (alles staatliche Handeln ist an Gesetze gebunden),
- Rechtsschutz (unabhängige Gerichte schützen die Bürger vor willkürlichen Eingriffen des Staates),
- Gewaltenteilung.
Erfahrungen zeigen allerdings, dass die bloße Anbindung der Staatsgewalt an das Gesetz - der nur formale Gesetzesstaat - keinen Schutz vor staatlicher Willkür bietet. Beispielhaft hierfür ist wiederum die DDR, in der die „sozialistische Gesetzlichkeit“ herrschte, in der das Recht aber lediglich dazu diente, den Willen der Partei zu vollstrecken. Um einen funktionierenden Rechtsstaat zu schaffen, muss zur Anbindung der Staatsgewalt an die Gesetze eine inhaltliche Anbindung an höherrangige Wertordnungen, z.B. an das Naturrecht hinzutreten.
Freiheitsrechte
In der Verfassung müssen die Menschenrechte garantiert werden, und in den Gesetzen darf die Freiheit des Einzelnen nicht weiter eingeschränkt werden, als dies erforderlich ist, um die Freiheit anderer und das allgemeine Wohl und die Interessen des Staates als Ganzes zu sichern. Freiheitsrechte sind Abwehrrechte gegenüber dem Staat und zugleich Gestaltungsprinzipien der politischen und gesellschaftlichen Ordnung . Nach der Systematik des deutschen Grundgesetzes kann man diese wiederum in Rechte zum Schutz der Freiheit der Person, wirtschaftliche Rechte, politisch-gesellschaftliche Rechte und Gleichheitsrechte, unterscheiden.
Die vietnamesische Verfassung gewährt grundlegende „politische, zivile, ökonomische, kulturelle und soziale Menschenrechte“, wie das Recht auf Arbeit (Art. 55), das Recht auf Bildung (Art. 59), Gedanken-, Presse, Versammlungs-, Glaubens- und Religionsfreiheit (Art. 69 und 70), die Gleichheit aller Buerger vor dem Gesetz (Art. 52) sowie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau (Art. 63). Diese Rechte können jedoch von den Regierungsorganen eingeschränkt werden, da diese Garantien sich nur „im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen“ entfalten dürfen.
Ein im Juli 2002 veröffentlichtes Papier über die Lage der Menschenrechte in Vietnam, attestierte allerdings in der Praxis immer noch eine Verfolgung protestantischer Christen aus den ethnischen Minderheiten und die relativ willkürliche Inhaftierung buddhistischer Mönche der Einheitskirche.
Im Hinblick auf die Pressefreiheit wird von Seiten der Regierung von völliger Freiheit gesprochen. Im Zuge des derzeit durchgeführten Reformprozesses ist die zunehmende Vitalisierung der Medien auffallend. Nicht nur die Anzahl der Zeitschriften und Zeitungen stieg beträchtlich, auch die Berichterstattung änderte sich. Mittlerweile kann vereinzelt Kritik an verschiedenen Aspekten der Regierungspolitik, Unzulänglichkeiten in der Gesetzgebung, Missstände und Korruption in der Verwaltung aufgezeigt werden. Sowohl das Pressegesetz von 1989 als auch das Publikationsgesetz von 1993 unterstreichen die Grundrechte der Presse-, Rede- und Meinungsfreiheit .
Die Einschränkung befindet sich jedoch im Zusatz: Dass natürlich Berichterstattungen und andere Betätigungen zu unterbleiben habe, die sich für die Einheit des Staates als schädlich erweisen könnten oder die Gedanken verbreiten, die mit der Kultur und dem Lebensstil des Landes nicht vereinbar seien. Darunter fallen alle Berichte, die Einrichtungen des Staates, Entscheidungen der Regierung und einzelnen Personen „verleumden“, wobei die Definition dessen, was eine „Verleumdung“ ausmacht, bei den Behörden liegt.
Konkret bedeutet dies, dass bestimmte Grundprinzipien nicht angetastet werden dürfen, noch immer keinerlei Kritik am sozialistischen Gesellschaftssystem, am Einparteiensystem und an der Alleinherrschaft der Partei zugelassen ist. Für den systematischen Einsatz der politischen Zensur außerhalb des oben genannten Tabus gibt es jedoch wenig Anzeichen. Trotzdem dominiert die Medienlandschaft bei Zeitschriften und Zeitungen mit 66 % immer noch die Regierung und die Kommunistische Partei . Bei Radiosendern sind die Monostrukturen noch offensichtlicher: Radio und TV-Stationen sind völlig in der Hand der Regierung.
Auch wenn die „Zusätze“ bei den einzelnen Verfassungsrechten noch immer der verpflichtenden und bindenden Wirkung widersprechen, welche die Verfassungen in westlichen Ländern auszeichnen, ist in den letzten Jahren eine stetige und spürbare Verbesserung der Menschenrechtslage zu verzeichnen.
Das kann nicht von der Tatsache absehen: Noch immer können Verwaltung und Partei ohne Konsequenzen gegen die Inhalte der Verfassung verstoßen, denn sie wird noch nicht als genuiner Auftrag für ein stabiles, demokratisches, politisches System und als die rechtliche Grundlage politischer Handelns angesehen.
Obwohl es einen Verwaltungsgerichtszweig in Vietnam als Kontrollorgan gibt, ist er nur für bestimmte Bereiche zuständig. Weite Teile des Beschwerderechts sind dabei ausgenommen und einige Beschwerden von Bürgern können auch von der Generalstaatsinspektion behandelt werden, was unweigerlich zu einer Kollision der Zuständigkeiten führt.
Verfassungen werden in Vietnam noch nicht installiert, um Demokratie zu gewährleisten und um politische Freiheiten auszuweiten, sondern derzeit vor allem deswegen, um die Gesetzgebung mit der veränderten, vor allem wirtschaftlichen Wirklichkeit einigermaßen in Einklang zu bringen.
Rechtsgleichheit
Die Umsetzung der naturrechtlichen Idee der Menschenrechte scheitert in wenig demokratisierten Gesellschaften zumeist an den jeweiligen Machtstrukturen. Verletzung verfassungsgemäß garantierter Grundrechte kommen in Vietnam noch immer vor und sind aufgrund der unkontrollierten Macht der Regierungsorgane nur schwer anfechtbar. Die Praxis zeigt, dass noch keine Rechtsgleichheit besteht, zwischen hohen Funktionären und dem einfachen Volk. Die Schaffung eines Verwaltungsgerichtszweiges, das zur Zeit allerdings noch nicht unbeschränkt agieren kann, könnte die Administration einer verstärkten Kontrolle unterziehen.
Auf dem Gebiet des Strafrechts werden bisher Haftbefehle nicht von Gerichten, sondern von den Sicherheitsorganen selbst ausgestellt. Trotz der Festschreibung der Unschuldsvermutung können Grundrechte eines Beschuldigten von den Sicherheitsbehörden ignoriert werden. Der noch immer recht willkürliche Charakter des Polizei- und Justizsystems trifft weite Teile der vietnamesischen Bevölkerung und ist eine Ursache verbreiteter Unzufriedenheit mit dem Justizsystem in der Bevölkerung.
Angesichts der oft engen Verzahnung von Partei- und Staatsorganen und der Bedeutung persönlicher Beziehungen, ist z.B. die Initiierung von Strafverfolgungen gegen korrupte Verwaltungsorgane höchst problematisch, wenn nicht gar unmöglich. Korrupte Beamte sind durch ihre guten Verbindungen meist in der Lage, Druck auf Klagesteller auszuüben und so rechtliche Schritte zu verhindern. Nach vietnamesischen Presseberichten gehen Schätzungen des Obersten Volksgerichthofes (OVGH) davon aus, dass nicht mehr als 1 % der Korruptionsfälle vor Gericht gebracht werden. Selbst wenn das geschieht, ist zweifelhaft, inwieweit die oft schlecht ausgebildeten Gerichte wirklich in der Lage sind, unabhängige und gerechte Entscheidungen zu treffen.
Eine Anzahl von Schauprozessen gegen korrupte Partei- und Regierungsmitglieder (vornehmlich im Zusammenhang mit der Gewährung von Bankkrediten an zahlungsunfähige Staatsunternehmen und die Beteiligung hochrangiger Sicherheitsbeamter am Drogenhandel) verdeutlichen zwar die Entschlossenheit der zentralen Staats- und Parteiführung, drastischer gegen solche Praktiken vorzugehen. Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass diese Praxis bereits auf die unteren Verwaltungsebenen durchgedrungen wäre.
Andererseits gibt es durchaus Anzeichen für ein wachsendes Rechts- und Unrechtsbewusstsein auf Seiten der Bevölkerung und die Bereitschaft, sich gegen illegale Praktiken und Ungleichbehandlungen verstärkt zur Wehr zu setzen. Das zeigt eine Reihe von Unruhen und Demonstrationen gegen illegale Steuer-, Abgabe- und Bodenvergabepraktiken, als deren Resultat vorher versäumte Strafverfolgungen gegen eine erschreckend hohe Anzahl lokaler Beamte eingeleitet wurde. Ein anderes Anzeichen sind die in der Presse ausführlich kommentierten Beschuldigungen bei den Korruptionsprozessen aus verschiedenen Ministerien.
Rechtssicherheit
Die Bestrebungen in Vietnam, staatliches Handeln auf klare gesetzliche Grundlagen zu stellen und an Gesetze zu binden, ist dadurch begrenzt, dass traditionell die Einhaltung und Durchsetzung bestehender Gesetze und Regelungen, besonders auf lokaler Ebene, eher die Ausnahme ist. Das liegt zum einen daran, dass Gesetze und Regelungen völlig fehlen, dass die meisten Gesetze nicht sehr konkret sind und zum anderen die Regierungsorgane weite Vollmachten zur ihrer Interpretation und Durchführung haben und in der Regel Verwaltungs- und Vollzugskompetenzen unter verschiedenen Behörden aufgeteilt werden.
Noch immer hat die Verwaltung einen Drang zur Aufrechterhaltung staatlicher Kontrolle und zu einer Verzögerung von Entscheidungen. Hinzu kommen die schlechte Bezahlung der meisten Beamten und eine gering ausgeprägtes Rechts- und Gesetzesbewusstsein, das einen fruchtbaren Nährboden für Korruption und Amtsmissbrauch bildet. Persönliche Beziehungen dominieren anstelle von rechtsstaatlichem Verhalten, insbesondere auf unteren Verwaltungsebenen. Nach der Korruptionsstatistik steht Vietnam an 85. Stelle von 102 erfassten Ländern. Allein diese Tatsache, sollte weiterer Ansporn für Vietnam sein, rechtsstaatliches Handeln umfassend zu stärken.
Das allgemein und auf allen Ebenen vorherrschende legislative Vakuum durch Entscheidungen des Premierministers oder des Regierungsbüros zu beheben, bleibt rechtlich zweifelhaft, da für solche Entscheidungen noch keine klare gesetzliche (parlamentarische) Grundlage besteht. In der Praxis wurde noch keine Entscheidung des Premierministers angefochten.
Rechtsschutz
Die Ausgestaltung der Rechtsprechung und das Ausmaß individueller Rechtsschutzes, sind ein wichtiger Gradmesser der Rechtsstaatlichkeit. Aufgabe der Rechtsprechung ist es, in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechtes verbindlich und unparteiisch in einem besonderen Verfahren zu entscheiden. Unabhängige Gerichte, die über die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze wachen, kontrollieren die Verwaltung und das Parlament und sorgen dafür, dass der einzelne Buerger seine Rechte gegenüber dem Staat und seinen Mitbürgern geltend machen und durchsetzen kann.
Die Erfahrungen der vietnamesischen Gerichte, insbesondere mit zivil-, verwaltungs- und wirtschaftsrechtlichen Fragen, sind noch sehr begrenzt. Bis vor kurzem beschäftigten sie sich zumeist mit strafrechtlichen Themen und dies spiegelt sich auch in der Qualifikation von Richtern wider, von denen ein beträchtlicher Teil keine formelle oder spezialisierte juristische Ausbildung besitzt, aber auch bei Anwälten, deren Ausbildung stark auf strafrechtliche Aspekte konzentriert ist. Traditionell werden die örtlichen Richter oft aus den Rängen des Militärs und der Polizei rekrutiert. Das G esetz verlangt zwar, dass Richter entweder von der NV gewählt oder vom Präsidenten ernannt werden, aber Ernennung wurde bisher als interne Parteiangelegenheit behandelt. Trotz der verfassungsgemäß garantierten Unabhängigkeit der Gerichte, besteht verbreiteter und berechtigter Zweifel an ihrer tatsächlichen Unabhängigkeit.
Im scharfen Gegensatz hierzu steht die fachliche Kompetenz der Leitung beispielsweise der Juristischen Fakultät an der Universität in Hanoi oder in dem von der Konrad-Adenauer-Stiftung geförderten Institut for State and Law, das sozusagen Rechtsstaatsdogmatik, Know How und internationale Regelungen von Oben in den nationalen Prozess der Modernisierung des Staates versucht, einfließen und einwirken zu lassen.
Gewaltenteilung
Das Prinzip der Gewaltenteilung hat in Vietnam bis jetzt noch keine durchschlagende Anerkennung gefunden. Zwar werden die einzelnen Staatsfunktionen unterschieden, doch es besteht noch immer das Prinzip und die Idee der Einheit der Staatsmacht unter der politischen Führung der KPV. In der Praxis werden noch immer sowohl Legislative, Exekutive und Judikative mehr oder weniger von der Partei kontrolliert. Die Mehrzahl der Mitglieder der Nationalversammlung sind Parteimitglieder (90 %), wobei das gute Ergebnis auch auf einen großen Zuspruch der Partei in der Bevölkerung schließen lässt. Trotzdem ist in den letzten Jahren ein Trend zu einer deutlicheren Trennung zwischen Partei und Staatsorganen zu verzeichnen. Die Nationalversammlung hat eine sichtbare Aufwertung erfahren und verabschiedet nunmehr nicht nur von der Partei vorgegebene Gesetze.
Noch sind große Aufgaben zu bewältigen:
Vietnam bemüht sich, grundlegende Elemente eines Rechtsstaates in seinen staatlichen Aufbau und in das Verwaltungshandeln einzuführen. Das ist eine kompliziertes, zeitlich aufwendiges und mühevolles Verfahren.
Die Verwirklichung der offiziellen Bekenntnisse zur Rechtsstaatlichkeit stößt in der geschichtlich vorgegebenen politischen Ordnung von Vietnam weiterhin auf scheinbar unüberwindbare Schranken, insbesondere deshalb, weil solche Bekenntnisse in einem ungelösten Konflikt mit der noch immer unanfechtbaren Führungsrolle der Kommunistischen Partei stehen.
Der von Vietnam eingeschlagene Weg bezüglich des Aufbaues eines Rechtsstaates zeigt in die richtige Richtung. Es ist offensichtlich, dass erst die ersten mühsamen Schritte auf diesem Weg zurückgelegt werden.
Trotz der stärkeren Einbeziehung des Parlaments (NV), einer Erneuerung der Verfassung, der begonnenen Modernisierung der Verwaltung, einer eingeleiteten Dezentralisierung der Macht und ersten Überlegungen zur Neustrukturierung des Gerichtswesens, bleiben noch wichtige Problemstellungen ungelöst. Im rechtsstaatlichen Bereich müssen in den kommenden Jahren noch gewaltige Aufgaben bewältigt werden.