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Länderberichte

Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Tschechien

von Frank Spengler, Anneke Müller

Zusammenfassung der Ergebnisse und erste Reaktionen

Die tschechischen Wähler haben sich am 14. und 15. Juni 2002 für eine neue Zusammensetzung der 200 Mandate des Abgeordnetenhauses entschieden. Die Mitte-Rechts-Parteien (Bürgerlich Demokratische Partei/ODS und die "Koalition aus Freiheitsunion/ US - Demokratische Union/ DEU und Christdemokraten/ KDU-CSL haben insgesamt Einbußen hinnehmen müssen.

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Sieger der Parlamentswahlen sind die Parteien des linken politischen Spektrums. Die Sozialdemokratische Partei (CSSD) verliert zwar ebenfalls, bleibt aber stärkste Kraft. Gewinner sind eindeutig die Kommunisten (KSCM). Die Wahlbeteiligung betrug nur 58%.

Parteien mit mehr als 5% Stimmenanteil

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Die Sozialdemokraten haben den Wahlsieg von vor vier Jahren wiederholen können. Allerdings haben sie im Parlament mit 70 Sitzen nun vier Stimmen weniger. Die konservative ODS von Vaclav Klaus wird mit 58 Mandaten sogar fünf Sitze weniger haben als in der letzten Legislaturperiode.

Die "Koalition" musste den größten Rückschlag hinnehmen. Mit 31 Sitzen im Abgeordnetenhaus hat das Parteienbündnis acht Sitze weniger als in den Jahren 1998 - 2002, wobei die Christdemokraten aber auf Grund der Präferenzstimmen im Vergleich zu 1998 zwei Mandate zusätzlich erringen konnten.

Die Kommunisten konnten dagegen deutlich zulegen und werden mit 41 Abgeordneten die drittstärkste Fraktion stellen. Sie haben 17 Sitze hinzugewonnen.

Zwei Parteien - die Vereinigung der Unabhängigen mit 2,78% und mit 2,36% die Partei der Grünen - schafften noch den Sprung über die 1,5-Prozent-Hürde, die hinsichtlich der Wahlkampfkostenerstattung von Bedeutung ist. 12,55% erhielten die 24 Parteien insgesamt, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht schafften.

Ergebnisse in den 14 Wahlbezirken

In 12 von 14 Wahlbezirken schnitt die CSSD als beste Partei ab. Im Mährisch-schlesischen Bezirk erreichte sie mit 36,13% ihr bestes Ergebnis. Die ODS konnte nur in Prag (33,83%) und im nordböhmischen Bezirk Liberec die CSSD schlagen und den ersten Platz belegen. In acht Bezirken lag die ODS auf Platz zwei. Die Koalition wurde in 12 von 14 Wahlbezirken auf den letzten Platz verwiesen.

Die größten Einbußen verbuchte die ODS in Prag (8,62% weniger als 1998). Die Koalition verlor am deutlichsten im Bezirk Hradec Kralove (7,71% weniger als 1998). Die CSSD verlor im Bezirk Usti am drastischsten (6,42% weniger als 1998), hier verzeichneten die Kommunisten den größten Stimmenzuwachs mit 11%. Die Kommunisten belegten in mehreren Wahlbezirken den zweiten Platz.

Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung war Besorgnis erregend niedrig. Nur 58% der acht Millionen Stimmberechtigten - also lediglich 4,7 Millionen Bürger - traten an die Wahlurnen. Das waren 16% weniger als bei den Parlamentswahlen im Jahr 1998, als 74,03% ihre Stimme abgaben. Bei den Parlamenstwahlen 1996 waren es noch 76,4%. Die niedrige Wahlbeteiligung hat der ODS und der Koalition aber auch den Sozialdemokraten Stimmen gekostet. Beobachter gehen von je einem Prozent weniger Stimmen für diese Parteien aus. Die Kommunisten mit ihrer stabilen und treuen Wählerschaft haben dagegen von der niedrigen Wahlbeteiligung profitieren und so etwa um ein Prozent zulegen können.

"Zwischen 350 000 bis 380 000 weniger Stimmen haben CSSD, ODS und Koalition bekommen, das sind genau jene, die nicht wählen gegangen sind", erklärte der Politologe Tomas Lebeda im tschechischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Die Kommunisten hätten sich dagegen auf ihren "harten Wählerkern" verlassen und zudem noch etwa 60 000 neue Wähler hinzu gewinnen können.

Erste Stimmen aus den Parteien

Vladimir Spidla, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, hatte vor den Wahlen deutlich erklärt, im Falle eines Wahlsieges mit der Koalition eine Regierungskoalition bilden zu wollen. Die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der ODS hatte Spidla eindeutig ausgeschlossen. Entsprechend waren seine erste Reaktion am Samstagabend: "Wir haben gesagt, dass der erste Partner für uns die Koalition ist und daran hat sich nichts geändert." In einem Interview für die Sonderausgabe der linken Tageszeitung "Pravo" ließ er jedoch auch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung anklingen.

Cyril Svoboda, Vorsitzender der KDU-CSL, sieht in einer Koalition mit der CSSD, die sich auf 101 Sitze im Abgeordnetenhaus stützen könnte, durchaus eine ausreichend stabile Regierung. "Entscheidend für eine solche Koalition ist doch auch, wie stark die Opposition sein wird", betonte Svoboda. Hana Marvanova, die Vorsitzende US - DEU, räumte in einer ersten Reaktion offen ein, dass die Koalition eine Niederlage habe hinnehmen müssen. Aber auch sie sei grundsätzlich bereit, mit den Sozialdemokraten in Koalitionsgespräche zu treten.

Vaclav Klaus, Vorsitzender der ODS, räumte die Wahlniederlage seiner Partei unumwunden ein: "Es ist offensichtlich, dass diese Wahl für die ODS ein Misserfolg ist", betonte der Politiker gegenüber der tschechischen Nachrichtenagentur ctk. Die Wähler hätten mit ihrer Entscheidung einen Linksruck gewollt. Insgesamt seien die Parlamentswahlen ein Misserfolg für alle konservativen Parteien. "Einige Parteien wollten, dass die ODS verliert und haben sich darauf konzentriert. Dabei haben sie allerdings selbst verloren", erläuterte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Klaus die Ursachen für den Misserfolg der konservativen Parteien. Er selbst werde über seinen persönlichen Anteil an der Niederlage seiner Partei nachdenken, ergänzte der Politiker. Der renommierte Politologe Jacques Rupnik unterstrich in diesem Zusammenhang, dass er sich schwerlich einen Vaclav Klaus vorstellen könne, der "geduldig in der Opposition auf die nächste Chance" warten könne.

Miroslav Grebenicek, Vorsitzender der KSCM, lehnte in einer ersten Reaktion gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine "stille Unterstützung" für die Sozialdemokraten ab. "Für uns kommt einzig eine offene Kooperation in Frage", unterstrich der Politiker.

Konsultationen beim Staatspräsidenten

Staatspräsident Vaclav Havel hatte für den 16. Juni 2002 die Vorsitzenden der CSSD, ODS, der US und der KDU-CSL zu sondierenden Gesprächen eingeladen. "Ziel der Konsultationen ist es, deren Meinungen über die Situation einzuholen sowie zu erfahren, welche Vorstellungen die Politiker über die künftigen Verhandlungen haben, die sie miteinander führen wollen", erläuterte Sinn und Zweck der Gespräche der Pressesprecher des Präsidenten. Das Staatsoberhaupt wird voraussichtlich erst nach dem Treffen einen Politiker mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragen.

Als einzige parlamentarische Partei hat Staatspräsident Havel die Kommunisten nicht zu diesen Konsultationen eingeladen. Der Vorsitzende der CSSD, Vladimir Spidla, hat den Präsidenten dafür in einem Interview für den Tschechischen Rundfunk kritisiert: "Alle Parteien, die über Mandate verfügen, insbesondere dann, wenn sie bedeutend sind, sollten konsultiert werden", meinte Spidla.

Reaktionen und Kommentare

Die großen Tageszeitungen gehen in Sonderausgaben auf die Ergebnisse der Parlamentswahlen ausführlich ein.

Die liberale Tageszeitung "MFDnes" schrieb über den Erfolg der Kommunisten: "In dieser Prüfung der Kommunikation hat die Rechte versagt. Klaus hat nach vier Jahren einer Scheinopposition fast alles verloren. Gewählt haben ihn nur die Treuesten unter den Treuen. Die Koalition hat gleich doppelt versagt. Sie wollte den Bürgern weismachen, dass sie anders sei als jene Politiker, die das Vertrauen verloren haben. Mit ihren innerparteilichen Konflikten verspielte die Koalition aber dann selbst das Vertrauen der Bürger". Gleichzeitig warnt die Zeitung: "Die Kommunisten haben noch nicht völlig gewinnen können. Aber beim nächsten Mal ist das gut möglich."

Die linke Tageszeitung "Pravo" meint, dass es auf den ersten Blick scheinen könnte, dass die Wähler eine Koalition aus CSSD und KSCM wollen. Dem sei aber nicht so. Denn dann würden die Bürger die Kommunisten direkt wählen. "Die Bürger wollen vielmehr eine Regierung, die aktiv ist und den allgemeinen Wohlstand verfolgt (deshalb verlor die egoistische ODS), und die Bürger schätzen es, frei wählen zu dürfen (deshalb misstrauen sie der KSCM)", urteilt der Kommentator. Gleichzeitig räumt der Kommentator ein, dass eine Koalition aus CSSD und Koalition keine stabile Zukunft habe. Programmatisch gebe es zu wenig Gemeinsames. Für die kommenden achtzehn Monate könnte der anstehende Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union ausreichend Bindemittel für eine Koalitionsregierung aus CSSD und Koalition geben. Danach schließt der Kommentator vorgezogene Neuwahlen nicht aus.

Die Wirtschaftszeitung "Hospodarske Noviny" führt den Erfolg der Kommunisten darauf zurück, dass diese von den demokratischen Parteien "öffentlich legalisiert" wurde. Unterstützt wurde dieser Prozess von den Medien, die die Kommunisten zu verschiedenen Debatten einluden. Aber einen starken Impuls habe dieser Prozess erhalten, als die demokratischen Parteien die Kommunisten in die Debatte um die Bene-Dekrete als gleichberechtigten Partner einbezogen und mit diesen gemeinsam eine Deklaration verabschiedet hätten. Letztlich habe die ODS mit einer scharfen Kritik an sozialistischen Ideen immer auf die CSSD - teilweise auch auf die Koalition - gezielt, nie oder selten aber auf die KSCM.

Die liberale Tageszeitung "Lidove Noviny" meint wiederum, dass der erstarkende linke Extremismus die Kehrseite einer weit verbreiteten Gleichgültigkeit sei. Die niedrige Wahlbeteiligung spiegele dies wider. Die hohen Stimmgewinne der Kommunisten führt die Zeitung darauf zurück, dass es den anderen Parteien nicht gelungen sei, die Wähler zu gewinnen. Hinzu käme, so "Lidove Noviny", dass zahlreiche kleine Parteien den großen Stimmen geraubt hätten. Und nicht zuletzt sei es die nationalistische Kampagne um die Bene-Dekrete gewesen, in der das "alte Gespenst des deutschen Feíndes" wieder belebt worden sei, dass Wähler den Kommunisten zugetrieben habe.

Die Wirkung der Präferenzstimmen

Eine Novelle des Wahlgesetzes hinsichtlich der "Präferenzstimmen" zu Ende des Jahres 2001 bewirkte eine zunächst wenig beachtete Änderung des tschechischen Wahlrechts. Während die Wähler vor der Novelle die Möglichkeit hatten, bis zu vier Kandidaten auf der Wahlliste der von ihnen gewählten Partei anzukreuzen und ihnen somit ihre Präferenzstimme zu erteilen, reduzierte die Novelle die Anzahl der Präferenzstimmen auf zwei. Mussten aber bisher die Kandidaten mehr als zehn Prozent der Präferenzstimmen erhalten, um auf den ersten Platz der Kandidatenliste vorzurücken, so reichen nun bereits sieben Prozent. Sollten mehrere Kadidaten über sieben Prozent der Stimmen bekommen, so reihen sie sich nacheinander im Verhältnis der Anzahl der erhaltenen Stimmen auf. Erst nachdem alle Präferenzstimmen berücksichtigt sind, werden die Sitze wieder entsprechend den Wahllisten zugeteilt. Darüber hinaus wurden die Wahlkreise von acht auf 14 verkleinert.

Auf Grund der unterschiedlichen Unterstützung der beiden Parteien der Koalition in den Regionen führte die Gesetzesänderung zu erheblichen Verschiebungen auf den Wahllisten. Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen den beiden Koalitionspartnern kam klarer denn je zu Vorschein. Die Mandate der beiden Parteien verteilen sich also nicht wie erwartet gleichmäßig, sondern die KDU-CSL bekam 22 Mandate und die US-DEU nur neun. Ferner zeigte sich, dass von den sieben Spitzenkandidaten der US-DEU nur zwei überhaupt in das Abgeordnetenhaus gewählt wurden. So wurden die drei stellv. Parteivorsitzenden der US-DEU nicht wieder gewählt, darunter auch der 1. Stellv. Parteivorsitzende und Finanzminister a.D. Ivan Pilip. Für die US-DEU wird es durch den Verlust von zehn Mandaten im Vergleich zu den Wahlen von 1998 nicht mehr möglich sein, eine eigene Fraktion im Abgeordnetenhaus zu bilden. Dazu fehlen ihr die vorgeschriebenen zehn Mandate. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass die Freiheitsunion mit den besonders in Mähren stark verwurzelten Christdemokraten nicht Schritt halten konnte. In vielen Regionen wurden deshalb die Kandidaten der Freiheitsunion von den Christdemokraten dank der Präferenzstimmen übersprungen. Somit haben die Christdemokraten im neuen Abgeordnetenhaus sogar zwei Mandate mehr. Inwieweit dies nicht zu erheblichen Spannungen mit der US-DEU führen wird, bleibt aber abzuwarten. Bei den anderen Parteien hat sich das Präferenzsystem kaum ausgewirkt.

Einige Aspekte zum Ergebnis der Parteien

Die Vertreter der Koalition sind bereit, mit den Sozialdemokraten eine Regierung einzugehen. Als ministrabel gelten der Parteivositzende der KDU-CSL Svoboda (Außenministerium) und der stellv. Vorsitzende der US-DEU Ivan Pilip (Finanzen).

Svobodas Bestrebungen mit der CSSD eine Regierung zu bilden sind seit langem bekannt. In den letzten Tagen des Wahlkampfes sprachen sich aber auch viele Vertreter der US-DEU für eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten aus. Diese Regierung würde zwar nicht gerade ein Ausweis für stabile politische Verhältnisse sein, aber sie könnte den schwierigen Prozess des EU-Beitrittes des Landes am ehesten bewerkstelligen.

Der Wahlkampf der ODS zeigte sich als wenig erfolgreich. Er war zu sehr auf eine Person, Vaclav Klaus, zugeschnitten und sprach vordergründig zu oft die Ängste und Emotionen der Wähler an. Das schlechte Abschneiden der ODS in Prag ist sicherlich zu einem Großteil auf den Rücktritt ihres Prager Oberbürgermeisters, Jan Kasl, kurz vor den Wahlen zurückzuführen. Kasl verlies die ODS, da er sich nicht gegen die Korruption in seiner eigenen Partei im Stadtparlament habe durchsetzen können.

Die Sozialdemokraten konnten gegenüber dem größten Konkurrenten ODS in den letzten Monaten erheblich Boden gut machen. Die beachtliche wirtschaftliche Erholung des Landes war sicherlich einer der Gründe dafür. Darüber hinaus konnte ihr Vorsitzender Spidla nach Meinung der Presse die wichtigen direkten Fernsehduelle mit Vaclav Klaus für sich entscheiden. Seine Stellung dürfte sich nun in seiner Partei gegenüber seinem Vorgänger Milos Zeman wesentlich gefestigt haben. Zeman hatte bereits vor den Wahlen angekündigt, dass er sich aus der Politik zurückziehen werde.

Die Tatsache, dass alle demokratischen Parteien Verluste zu verzeichnen haben, ist vor allem auch Ausdruck der großen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den etablierten Parteien. Den vielen kleinen Parteien gelang es ebenfalls nicht, diese Unzufriedenheit für sich nutzbar zu machen. Die frustrieten Wähler reagierten mit einem Wahlboykott oder gaben gleich den Kommunisten ihre Stimme.

Die KSCM, eine der letzten nicht reformierten kommunistischen Parteien dieser Welt, wurde durch die Einbeziehung in die Resolution des Abgeordnetenhauses zu den Benes-Dekreten politisch erheblich aufgewertet und konnte diesen großen Erfolg direkt in zusätzliche Stimmen ummünzen.

Die Frage nach der Nachfolge von Staatspräsident Havel bleibt auch nach dem Urnengang offen.

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Matthias Barner

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Leiter des Auslandsbüros Vereinigtes Königreich und Irland

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