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Länderberichte

Zu den Hintergründen der neuerlichen Unruhen in der West Bank und im Gaza Streifen

von Barbara Glindemann

Aufnahme der Nachricht der Truppenrückzüge aus dem Südlibanon

Montag, der 15. Mai 2000, der 52. Jahrestag der palästinensischen Nakba (Katastrophe) und der Yom Ha`Atzma´ut (Unabhängigkeitstag) der Israelis. Beide Völker begehen diesen Gedenktag, um die nationale Identität weiterleben zu lassen. Erinnerung, auch Erinnerung an eine Katastrophe, ist integraler Bestandteil des geschichtlichen Bewußtseins einer Nation. Im derzeitigen Stadium der israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen wirft solch ein Datum die Frage auf, inwieweit jede Partei auch ihre eigenen Fehler wahrzunehmen bereit ist.

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Generell gesprochen sollte man davon ausgehen, daß beide Parteien aus vergangenen Katastrophen dergestalt lernen, daß sie künftiges Leiden minimieren wollen. Doch gerade unter den Palästinensern zeigt sich eine Spaltung öffentlicher und privater Meinungsäußerungen.

Die Demonstranten in den palästinensischen Gebieten forderten die Freilassung von 1,650 politischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen. Es kam zu Gewaltausbrüchen, obwohl die palästinensischen Sicherheitsdienste klare Befehle hatten, die Demonstranten von den Straßenblockaden der Israeli Defense Forces (IDF) fernzuhalten. Während der gewaltsamen Ausschreitungen wurden Steine sowie Feuerbomben und mit Säure gefüllte Flaschen auf israelische Soldaten und Grenzbeamte geworfen. Die Israelis reagierten mit Schüssen von Stahlkugeln mit Gummimantel und Tränengas.

Die Gewalt wurde zusätzlich dadurch geschürt, daß außer den bewaffneten palästinensischen Sicherheitsdiensten, sich auch Zivilisten und Mitglieder verschiedener politischer Organisationen bewaffnet hatten und in die Kämpfe eingriffen. Die Israelis forderten die palästinensischen Sicherheitsdienste gemäß dem Wye-Abkommen auf, alle illegal von politischen Aktivistengruppen gehaltenen Waffen, zu beschlagnahmen. Für Gruppierungen, die nicht Teil der Palestinian Authority (PA) Sicherheitsdienste sind, ist dem Abkommen nach eine Bewaffnung nicht gestattet. Dennoch beteiligten sich insbesondere diejenigen Gruppen, die sich für die Freilassung der Gefangenen einsetzen, an den Schußgefechten. Lediglich die Hamas-Aktivisten griffen die IDF Straßenblockaden nicht an, sondern organisierten statt dessen Prozeßmärsche in den Städten.

Fatah-Aktivisten, die sich in der Gruppe "Tanzim" organisieren, werden keinen Friedensvertrag akzeptieren, der nicht die Freilassung der Häftlinge in israelischen Gefängnissen umfaßt, die diesen Monat in einen Hungerstreik getreten sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich die gewalttätigen Ausschreitungen als Botschaft der Frustration gegenüber Israel und der PA interpretieren.

Der Chef der palästinensischen Preventive Security, Jibril Rajoub, äußerte gegenüber der Jerusalem Post, daß es sich bei den Palästinensern, die das Feuer eröffneten, um Aktivisten der Gruppe "Tanzim" handelte, die ihre ehemaligen Kameraden in den Gefängnissen wissen. Auch als Arafat die Einstellung des Feuers angeordnet hatte, richteten sich zwar die palästinensischen Polizisten nach diesem Befehl, die Fatah-Aktivisten jedoch schossen weiter auf die Soldaten der IDF.

Während dieser Kämpfe im Gaza Streifen und in der West Bank wurden 6 oder 7 Palästinenser getötet und über 500 teilweise schwer verletzt. Ein israelischer Soldat wurde schwer verletzt und einige weitere verwundet.

Inzwischen hat die PA entschieden, die Verhandlungsgespräche mit Israel solange hinauszuschieben, bis Israel auf die Forderung der Freilassung von vorerst zumindest 230-300 Gefangenen reagiert. Das dahinterstehende Argument lautet, daß es sich bei den Gefangenen weitgehend um Fatah-Mitglieder handele, die vor dem Oslo-Abkommen Terroranschläge ausgeführt haben. Diese Häftlinge sollten als Kriegsgefangene behandelt werden und daher nun freigelassen werden.

Der israelische Kommentator für HaAretz, Danny Rubinstein, stellt in einem Artikel vom 22.05.2000 folgende Thesen auf: Da es neben der regulären palästinensischen Polizei etwa noch 17 weitere bewaffnete Gruppen im PA-Sicherheitsdienst gibt, käme es zu Machtkämpfen zwischen den verschiedenen Sicherheitsorganen, die sich auf diese Weise letztendlich gegenseitig neutralisieren würden. Vor diesem Hintergrund definiert Rubinstein die gewalttätigen Demonstrationen und Schießereien nicht als Terrorakte oder Zivilistenaufstände, wie sie während der Intifada vorkamen, sondern als von Präsident Arafat geduldete politische Aussagen, die die Verhandlungen zwischen Palästina und Israel auch in der Zukunft begleiten werden.

Derzeit ist wiederum ein Punkt stagnierender Verhandlungen erreicht, eine Situation die ursächlich für die jüngsten Ausschreitungen verantwortlich ist, deren direkter Anlaß der Nakba Tag und die Gefangenenfrage waren. Jetzt kam latent vorhandene Aggression zum Ausbruch, zu einem Zeitpunkt, an dem konkrete Verhandlungsergebnisse weiter in die Ferne rücken.

Gleichzeitig kommt ein weiterer Faktor ins Feld, der anzeigt, wie übergroß die Erwartung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung ist, ein richtungs- und zukunftsweisendes Zeichen ihrer Regierung zu erhalten.

Gefragt nach den Auswirkungen der Truppenrückzüge aus dem Libanon auf die Stimmung in den palästinensischen Gebieten, äußerte ein Mitarbeiter des Landwirtschaftsministeriums folgende Beobachtungen: Nach Verbreitung der Nachricht des israelischen Truppenrückzugs aus dem Südlibanon sei die Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung ambivalent. Es überwiege das Gefühl der Freude darüber, daß im Libanon die Resistance tatsächlich konkrete Ziele erreicht hat, denn die Palästinenser haben sich immer stark für deren Sache eingesetzt. In Gaza verteilte die Hamas Bonbons, wie nach einer Hochzeit. Gerade weil die Palästinenser sich mit den Libanesen identifizieren können, nehmen sie derzeit verstärkt die parallele Struktur der Situationen wahr. Palästinenser und Libanesen haben denselben "Feind", die täglichen Probleme des Lebens unter einer "Besatzungsmacht" ähneln einander. Aufgrund dieses Verbundenheitsgefühls wächst, insbesondere vor dem Hintergrund der neuerlichen Unruhen in den palästinensischen Gebieten, zunehmend auch die Frustration darüber, daß der bewaffnete Kampf im Libanon zur Befreiung des Landes geführt hat, während in Palästina ein derartiges Ergebnis sich auf dem Verhandlungsweg keineswegs ankündigt.

Vor allem aber benötigt die palästinensische Bevölkerung so bald wie möglich den Beweis von der Regierung Arafats, daß ein Zwischenziel erreicht werden kann. Zu hoffen ist auf eine aussagefähige offizielle Erklärung der PA. Ansonsten ist davon auszugehen, das sich die Frustration der zur Gewalt bereiten Teile der Bevölkerung weiter aufbauen und in Kürze wieder zu aggressiven Entladungen führen wird. Diejenigen Palästinenser, die gegen Oslo und eine Lösung auf dem Verhandlungsweg waren, würden weiter an Macht und Einfluß gewinnen.

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