Länderberichte
Die Stimmung am Wahlabend war elektrisiert. Die Ergebnisse wurden zunächst vom Präsidenten des Obersten Wahlgerichtshof TSE, Minister Alexandre de Moraes, veröffentlicht und anschließend von der neuen Präsidentin des Obersten Verfassungsgerichts STF, Rosa Weber, bestätigt. Unmittelbar danach beglückwünschten der Bolsonaro-nahe Präsident des Abgeordnetenhauses, Arthur Lira, sowie der Vorsitzende des Senats, Rodrigo Pacheco, das neugewählte Staatsoberhaupt zu seinem Sieg. Die Vertreter der verschiedenen staatlichen Gewalten betonten die Bedeutung des friedlichen und transparenten Verlaufs der Wahlen für die Demokratie sowie die Notwendigkeit der Einheit der Brasilianer und einer geordneten Amtsübergabe. US-Präsident Joe Biden war einer der ersten Regierungschefs, der Lula zu seinem Sieg gratulierte. Er bezeichnete die Wahlen als fair und vertrauenswürdig. Dies wird als Appell an den scheidenden Präsidenten Jair Bolsonaro gewertet, die Niederlage anzuerkennen. Dieser hatte im Vorfeld der Wahlen die Integrität der elektronischen Wahlurnen immer wieder in Frage gestellt und dadurch das Gefühl vermittelt, er würde eine Niederlage möglicherweise anzweifeln. Bei der Fernsehdebatte unmittelbar vor dem Urnengang hatte Bolsonaro allerdings dann beteuert, dass Ergebnis jeglicher Natur anzuerkennen. Doch auch 20 Stunden nach der Wahl hat er sich noch nicht öffentlich dazu geäußert. Medienberichten zufolge berät er zunächst mit seinen Ministern, bevor er an die Öffentlichkeit tritt. Es wird jetzt gemunkelt, dass er das Ergebnis zwar anerkennen, jedoch die Fairness des Wahlprozesses anzweifeln wird. Lediglich Bolsonaros Sohn, Senator Flávio Bolsonaro, bedankte sich via Twitter bei den zahlreichen Wahlhelfern und Anhängern und betonte, man werde erhobenen Hauptes nicht von Brasilien ablassen.
Krawalle blieben am Wahlabend aus, allerdings kam es am Tag nach der Wahl zu Straßenblockaden von Lastwagenfahrern, die Bolsonaro nahestehen. Neben Biden gratulierten zahlreiche Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika und Europa zu Lulas Sieg. Auch der russische Präsident Wladimir Putin und der Chef der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping, äußerten sich positiv über seinen Triumph. Am ersten Tag nach der Wahl stattete der argentinische Präsident Alberto Fernández Lula sogar einen Besuch in São Paulo ab, um die bilateralen Beziehungen zu stärken.
Der Wahlkampf
Beim ersten Wahlgang am 2. Oktober hatte Lula 57,2 Millionen Stimmen (48,4 %) gegenüber 51 Millionen (43,2 %) erhalten, die Bolsonaro für sich verbuchen konnte. Es lagen somit also ca. 6 Millionen Stimmen zwischen den beiden Kandidaten und in den letzten 4 Wochen des Wahlkampfes galt es für die Kandidaten, die Wähler, die sich beim ersten Wahlgang enthalten hatten oder sich für einen der anderen ursprünglich 12 Präsidentschaftskandidaten entschieden hatten, für sich zu gewinnen. Dies gelang nur teilweise, denn auch wenn es im zweiten Wahlgang weniger Enthaltungen gab, enthielten sich immer noch 20 Prozent der Brasilianer trotz Wahlpflicht.
Zwischen den beiden Wahlgängen erlebte das Land einen aufgeheizten, polarisierenden, schmutzigen Wahlkampf bei dem es um Religion, Korruption und Wirtschaft ging. Im Mittelpunkt standen Angriffe, Beschuldigungen und Verleumdungen, verbunden mit Warnungen vor dem Kurs, den das Land einschlagen wird, falls der Kontrahent gewinnt. Dabei standen sich Bolsonaro und Lula in nichts nach. Der amtierende Präsident beschimpfte seinen Herausforderer, ein Dieb zu sein, der Kirchen und Religionsgemeinschaften abschaffen wolle und Lulas Wahlkampfteam antwortete darauf, indem es Bolsonaro vorwarf, ein Kannibale und Pädophiler zu sein. In den Sozialen Medien, die in Brasilien eine wichtige Rolle spielen und aus denen viele Menschen ihre Informationen beziehen, kochte die Wahlkampfstimmung fast über. Dabei ging es aber nicht um programmatische Debatten oder Informationen darüber, sondern um Attacken und Verschwörungstheorien, vor allem rund um die Themen Religion und Moral. Insgesamt ist zu beobachten, dass dabei die Reichweite von Fake News viel größer ist als die von gesicherten Informationen. Lügen scheinen mehr Interaktion zu generieren als Fakten.
Auch die Fernsehdebatten, die zwischen den Kandidaten geführt wurden, gaben ein trauriges und erschreckendes Bild ab, in denen sich die Kontrahenten mit Vorwürfen und Polemik gegenseitig überboten.
Wahlen in den Bundesstaaten
Neben der Entscheidung um das Präsidentenamt gab es auch in 12 der 27 Bundesstaaten Stichwahlen. Hier gab es eine Entscheidung darüber, ob eher der von Bolsonaro oder von Lula unterstützte Kandidat als Sieger hervorging. Betrachtet man die Landkarte, so behielten die konservativen Parteien, ähnlich wie im Abgeordnetenhaus und im Senat die Überhand.
In Brasilien heißt es, der Kandidat, der in Minas Gerais gewinnt, wird auch Präsident. Dies war auch diesmal der Fall: Lula erreichte in einem der wichtigsten Wahldistrikte des Landes mehr als 50 % der Stimmen.
Bei den Gouverneurswahlen im Bundesstaat São Paulo kam es zu einer Sensation, denn nach 28 Jahren steht zum ersten Mal kein Gouverneur aus der PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira) an der Spitze des Staates. Vielmehr konnte sich der frühere Infrastrukturminister aus dem Kabinett Bolsonaro, Tarcísio de Freitas (Republicanos), durchsetzen. Er hatte nach dem 1. Wahlgang noch vor dem Kandidaten der Arbeiterpartei Fernando Haddad gelegen und konnte schließlich das Rennen mit 55 % der Stimmen für sich entscheiden. Freitas wird gerade nach dem Abgang des unterlegenen Präsidenten als wichtiger Vertreter des Bolsonarismus im bedeutendsten Wirtschaftszentrum zu beobachten sein.
In Rio Grande do Sul, einem der wichtigsten Bundesstaaten im Süden des Landes, kämpften der ehemalige Gouverneur Eduardo Leite (PSDB) und der ehemalige Bundesabgeordnete und Minister im Kabinett Bolsonaro, Onyx Lorenzoni (PL) um die Gunst der Wählerstimmen. Leite ging mit 57 % der Stimmen als Sieger aus dem Rennen hervor. Das Abschneiden von Eduardo Leite, einem Hoffnungsträger der PSDB dürfte auch in seiner Partei mit Erleichterung beobachtet worden sein, denn so droht der Partei nicht die völlige Bedeutungslosigkeit. Stattdessen lässt das Ergebnis Hoffnung aufkommen, dass die Partei doch wieder Fuß fassen kann. Dazu trägt auch bei, dass in Pernambuco die Kandidatin der PSDB, Raquel Lyra, mit 59 % gegenüber ihrer Kontrahentin Marília Arraes (Solidariedade) gewann. Im Bundesstaat Mato Grosso do Sul setzte sich Eduardo Riedel (PSDB), der offen Bolsonaro unterstützte, überraschend mit 57 % gegen den Abgeordneten Kapitän Contar (Partido Renovador Trabalhista Brasileiro, PRTB) durch.
Insgesamt ist festzustellen, dass von den 27 Bundesstaaten 14 an das Bolsonaro-Lager gingen und 13 an Lulas.
Kann Brasilien „wieder glücklich werden“?
Lula ist angetreten mit dem Wahlmotto „Brasilien wieder glücklich“ (O Brasil de novo feliz), aber was er genau damit meinte oder welche Programme er dafür hat, blieb bisher eher im Unklaren. Im Wahlkampf erinnerte er gerne an die Errungenschaften seiner ersten beiden Amtszeiten in der Zeit von 2003 bis Ende 2010, doch vermisste man einen proaktiven Umgang mit dem Thema Korruption, das seine Amtszeiten durch zahlreiche Skandale durchzog oder aber auch wirklich klare Aussagen, wie er sich das zukünftige Regieren vorstellt oder seine Vorhaben zu finanzieren beabsichtigt. Nichtsdestotrotz ist es ihm gelungen, in den letzten Wochen des Wahlkampfes prominente Vertreter aus Politik, Gesellschaft, Showbusiness, Sport, Geschäftswelt und Wähler der ehemaligen Gegner auf seine Seite zu ziehen und vor allem durch die Unterstützung von Simone Tebet, der unterlegenen Präsidentschaftskandidatin, die in der Endphase des Wahlkampfs aktiv unterstützte und für ihn Stimmen im Lager der Frauen und vor allem im Südosten holte. Aber auch die Auswahl von Geraldo Alkmin als seinen Vizepräsidenten trug dazu bei, das Lager der Unternehmer und Wirtschaftsvertreter nicht völlig gegenüber einem linken Präsidenten abzuschrecken. Darüber hinaus gelang Lula die Darstellung, dass nur mit ihm die brasilianische Demokratie gegenüber einem Gegner mit autoritären Tendenzen überlebt. Somit schien vielen die Option Lula die vermeintlich bessere Wahl, um die Demokratie Brasilien zu schützen.
Beziehung des neuen Präsidenten zum Kongress
Für Lula dürfte das Regieren nicht einfach werden, denn er muss sich um die Unterstützung von drei Fünfteln der Abgeordneten und Senatoren bemühen, um die Zustimmung zu Gesetzesvorhaben zu erhalten. Dies wird als Koalitionspräsidentialismus bezeichnet, ein System, in dem der Chef der Exekutiven die Unterstützung der Mehrheit beider Häuser des Nationalkongresses benötigt, um effektiv regieren zu können. Bolsonaros Partei, die PL, erhielt mit 99 Abgeordneten und 13 Senatoren die meisten Sitze in der Abgeordnetenkammer und Senat und ist somit die Partei mit der stärksten Fraktion in beiden Kammern gegen die Lula regieren muss. Das bedeutet aber nicht, dass es ihm nicht gelingen könnte, einen Dialog, vor allem mit den ideologiefreien Parteien des sogenannten Centrão herzustellen. Dabei könnte vor allem eine Unterstützung von den Parteien kommen, die sich auf die Seite Lulas vor der Stichwahl geschlagen haben, wie z. B. die Parteien seines Vizepräsidentschaftskandidaten Geraldo Alckmin, die PSB (Partido Socialista Brasileiro), oder Simone Tebets Partei MDB (Movimento Democrático Brasileiro), die stets als Mehrheitsbeschaffer im Kongress galt.
Was ist von Lulas Regierung zu erwarten?
In einer ersten Rede nach Bekanntgabe des Ergebnisses bezeichnete Lula seinen Triumph als den Sieg der Demokratie in Brasilien und verpflichtete sich dazu, die Nation zu einen. Es gebe keine zwei Brasilien, betonte er. Darüber hinaus bedankte er sich bei der Presse für die Berichterstattung. Damit grenzt er sich von seinem Kontrahenten Bolsonaro ab, der in der Vergangenheit mehrmals durch seine journalistenfeindlichen Äußerungen und Aktionen für Polemik gesorgt hatte. Hinsichtlich der christlichen Wählerschaft berief sich Lula auch auf das Gebot der Nächstenliebe und den Aufruf von Papst Franziskus, Hass und Gewalt zu überwinden, um das brasilianische Volk wieder zu versöhnen.
Mit Blick auf die Wirtschaftspolitik erneuerte er am Wahltag sein Versprechen, den Mindestlohn über die Inflation hinaus anzupassen und die Armut und den Hunger bekämpfen zu wollen. Von einer Regierung Lula wird erwartet, dass er sich gerade dieser sozialen Themen besonders annehmen wird, da er in seinen ersten Amtszeiten mit Sozialprogrammen wie Fome Zero und Bolsa Família schon einmal für die Armuts- und Hungerbekämpfung angetreten ist. Darüber hinaus wird er, anders als Bolsonaro, Privatisierungen von Staatsunternehmen wohl nicht vorantreiben. Im Gegenteil: Lula vertritt die Ansicht, dass staatliche Unternehmen für die Entwicklung von grundlegender Bedeutung sind und so sprach er sich auch gegen die Privatisierung von Petrobras, Eletrobrás und der Post aus.
Darüber hinaus kündigte er im Wahlkampf die Wiederaufnahme von Investitionen in die Infrastruktur, die Abwasserentsorgung und den Wohnungsbau auf der Grundlage von modernen Umwelttechnologien an. Dazu sollen auch wieder verstärkt Investitionen aus dem Ausland angezogen werden, was man sich durch die Imageverbesserung durch die neue Regierung erhofft. Allerdings stellt sich die Frage, wie der neue Präsident seine Wirtschaftsvorhaben, angesichts der bereits hohen Staatsverschuldung, finanzieren möchte.
Umweltpoltik
Brasilien ist der sechstgrößte Emittent von Treibhausgasen auf dem Planeten, hat aber wie kein anderes Land die Chance, den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu beschleunigen und davon zu profitieren (vor allem durch die Produktion von sauberer Energie). Dabei kommt dem Amazonas-Regenwald, der das brasilianische Territorium beherrscht, bei der Regulierung des globalen Klimas eine wesentliche Bedeutung zu. In den ersten Regierungsjahren Lulas wurde versucht, der Entwaldung entgegenzutreten, während sie unter der Regierung Bolsonaro extrem zunahm. Dieser Anstieg ist zu einem großen Teil auf das Versäumnis zurückzuführen, eine kohärente und wirksame Umweltpolitik umzusetzen, auf die Schwächung der Durchsetzungsbehörden und auf die zunehmende Missachtung von Umweltgesetzen.
Von Lula wird erwartet, dass er die Tendenz der Regierung Bolsonaro wieder umkehrt und sich wieder stärker für die Aufforstung und den Schutz des Regenwaldes, nachhaltige Entwicklung im Einklang mit der lokalen Bevölkerung und Indigenen und auch für die Nutzung erneuerbarer Energien einsetzt. Dies bestätigte er auch in seiner Rede am Wahlabend. Lula hat Vorschläge von Marina Silva, ehemalige Umweltministerin in seiner Regierung zwischen 2003 und 2008 und kürzlich gewählte Bundesabgeordnete, aufgegriffen, die u. a. die Einrichtung einer nationalen Behörde für Klimarisiken vorsieht, um zu überwachen und zu prüfen, wie das Land seine Verpflichtungen in diesem Bereich erfüllt.
Es wird jedoch nicht ausreichen umweltfeindliche Projekte zu unterbinden und die Kontroll- und Steuerungsinstrumente wieder zu stärken. Lula wird vor allem die mächtige brasilianische Agrarlobby und Landwirte davon überzeugen müssen, sich auf ein Projekt für eine kohlenstoffarme brasilianische Wirtschaft einzulassen, damit ehrgeizigere Maßnahmen genehmigt werden können. Ein Faktor, der Zweifel aufkommen lässt, ist die Frage, ob diese Gruppe, die bereits vor Bolsonaro sehr konservativ war, sich darauf einlässt, einen anderen Kurs mitzutragen. Andererseits gehören viele Vertreter der Agrarlobby der Gruppe des Centrão an, der historisch gesehen immer auf die Seite wechselte, die mehr Einfluss zur eignen Machterhaltung versprach. Sollte dies auch in Zukunft so sein, sind Überraschungen nicht ausgeschlossen. Allerdings muss man bei allen Erwartungen in diesem Bereich auch im Blick haben, dass auch Lula auf der brasilianischen Souveränität in der Amazonaspolitik stets beharrte und diese auch bei seiner Rede am Wahlabend betonte.
Außenpolitik
In der Außenpolitik erhofft man sich durch Lula wieder eine stärkere Hinwendung zum Multilateralismus. Vor allem in der letzten Fernsehdebatte griff Lula das Thema Außenpolitik auf und betonte, dass er die Isolation Brasiliens aufgrund des schlechten Rufes der Regierung Bolsonaro wieder aufbrechen wolle. Auch in seiner Rede am Wahlabend hob er seine Absicht hervor, Brasiliens Glaubwürdigkeit in der internationalen Politik wiederherzustellen. Dabei erwähnte er explizit die Beziehungen zu den USA und Europa. Zu dieser Strategie gehört sicherlich auch der Plan einer erheblichen Aufstockung des brasilianischen diplomatischen Korps mit der Ausweitung der freien Stellen am Institut Rio Branco, einer Aufstockung des Budgets für das brasilianische Außenministerium Itamaraty (MRE) und der Eröffnung von Botschaften in neuen Ländern, insbesondere in Afrika und Asien. Aber auch diese Ankündigungen dürfen nicht darüber wegtäuschen, dass es unter Lula in den internationalen Beziehungen nicht ohne weiteres einfacher werden wird. So beabsichtigt er z. B. das EU-Mercosul-Abkommen nachzuverhandeln, was die Verabschiedung auf unbestimmte Zeit hinauszögern würde. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg wird auch Lula an Brasiliens Neutralität festhalten, weswegen die Europäer in diesem Fall keinen Verbündeten in ihm in den Vereinten Nationen haben. Vor allem den Sanktionen stehen Lula und seine Partei kritisch gegenüber und betrachten sie als Instrumente reicher und zentraler Länder, die sich negativ auf die Zivilgesellschaft und die schwächsten Bevölkerungsgruppen der sanktionierten Länder auswirken. Auch die Beziehungen zu China und Russland werden unter Lula aufgrund wirtschaftlicher Interessen eher von pragmatischer Natur geprägt sein.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass bei Lula eher die Sichtweise eines internationalen Systems vorherrscht, das in Zentrum und Peripherie geteilt ist, mit einem gewissen Maß an Misstrauen gegenüber konsolidierten Mächten wie den Vereinigten Staaten und Europa, aber einer Identitätsaffinität mit aufstrebenden Mächten und aufstrebenden Ländern. Daher wird die Stärkung der Beziehungen zu den BRICS-Staaten eines der Hauptaugenmerke der neuen Regierung sein. Darüber hinaus kann die zentrale Bedeutung der Beziehungen Brasiliens zu Südamerika hervorgehoben werden, insbesondere im Hinblick auf die guten Beziehungen zu linken Regierungen, ein politisches Phänomen, das als "rosa Flut" bekannt ist, die in den 2000er Jahren, während der Präsidentschaft Lulas, auftrat und als aktuelles Phänomen in der Region wiederkehrt.
Bedeutung der Wahlen für Deutschland und Europa
Unabhängig, wie genau die neue Regierung jetzt zusammengesetzt ist, gilt es für Deutschland und Europa, mit Brasilien auf Augenhöhe als wichtigem Partner in der Welt zu agieren, denn das Land ist die größte Demokratie in Südamerika und ein wichtiger Handelspartner. Zudem hat das Land aufgrund seiner Größe und Beschaffenheit Potential, sich zu einem der wichtigsten Exporteure grüner Energie zu entwickeln, insbesondere im Bereich der Stromerzeugung mithilfe von Solar-, Wind- und Wasserkraft sowie bei der Gewinnung von grünem Wasserstoff. Daneben ist Brasilien ebenso ein bedeutender Partner im Bereich Sicherheit, Verteidigung, Wissenschaft und Technologietransfer. Für die internationale Zusammenarbeit ist die Ebene der Vereinten Nationen wichtig, denn Brasilien und Deutschland treiben gemeinsam eine Reform der Vereinten Nationen voran. Außerdem gehört das Land zur Gruppe der G20, ein Forum der wichtigsten Weltwirtschaftsmächte. Vielleicht hat man nun mit dem neuen/alten Präsidenten weniger Scheu, wieder mit dem Land in einen aktiveren Austausch zu treten.
Ausblick
Die Wahl hat Brasilien elektrisiert, die Polarisierung durchzieht Familien und Freundschaften tiefgreifend und es wird schwierig sein, dass Lula eine Befriedung gelingt und er Brücken schlägt. Es bleibt zu hoffen, dass der jetzt gewählte Präsident die Interessen des Landes im Blick hat und die Amtsübergabe in geordneten Bahnen verläuft.
Auch Stunden nach Verkündigung des Wahlergebnisses ist Bolsonaro stumm geblieben. Er hat sich weder bei seinen Anhängern gemeldet, noch in der Öffentlichkeit ein Wort zum Ausgang der Wahl verloren. Daher bleibt es offen, wie er mit der Niederlage umgehen wird und vor allem der radikale Teil seiner Anhänger. Ebenso ist es auch nicht ausgeschlossen, dass ein Amtsenthebungsverfahren gegen den neuen Präsidenten bei nächster Gelegenheit angestrebt wird. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im neugewählten Kongress wird diese Gefahr immer weiter über Lula schweben und so verheißt die jetzige Wahl sicherlich nicht, dass Brasilien wieder völlig glücklich wird.