Länderberichte
Heute bestimmen die parteipolitischen Machtpositionen die Willensbildung nicht nur im Parlament, sondern auch im Rechtssystem des Landes mit allen negativen Implikationen für die Regierungsfähigkeit. Weiterhin beherrschen sie den Nationalen Wahlrat als Oberstes Kontrollgremium der Wahlprozesse sowie den Nationalen Rechnungshof. Über eine Verfassungsreform schränkten sie die Macht- und Regierungsbefugnisse der Exekutive ein – hier fehlt zur Umsetzung lediglich noch die Zustimmung des im November neu zu wählenden Parlaments.
Unter tatkräftiger Unterstützung der Medien, der einflußreichen internationalen Gebergemeinschaft sowie des Schutzes der Demokratie-Charta der OEA konnte die amtierende Regierung unter Präsident Bolaños bislang das „demokratische Fenster“ für pluralistische Entwicklungen offenhalten.
Die von den Pakt-Parteien und ihren Leitfiguren rüksichtslos praktizierte Machtpolitik ging an den entwicklungspolitischen Erfordernissen des Landes vorbei und führte - vor allem in dem zunehmenden politisch aktiven Mittelstand - zu einem wachsenden Protestpotential in der Bevölkerung und der Suche nach einer „dritten Kraft“. Diese scheiterte jedoch in den zurückliegenden Jahren letztendlich stets an der fehlenden Unterstützung in der Wählerbasis, so auch die von Präsident Bolaños ins Leben gerufene Gruppierung APRE bestehend aus liberalen Dissidenten, Konservativen und Christdemokraten etc.. Sie konnte sich bei den Kommunalwahlen 2005 nicht durchsetzen und ist heute nahezu bedeutungslos.
Dies änderte sich durch das Aufkommen von Abspaltungen innerhalb der Führungselite der beiden Paktparteien, wodurch im Wesentlichen 4 politische Optionen liberaler und sandinistischer Ausprägung entstanden.
Pluralistische Polarisierung?
Im liberalen Lager, das traditionell die anti-sandinistische Mehrheit der Wähler vereint, spaltete sich aufgrund der Korruptionsvorwürfe gegen den Caudillo Alemán und der Ablehnung des Paktes mit den Sandinisten die Bewegung um die Führungsfigur Eduardo Montealegre ab, der innerhalb der Regierungen der Präsidenten Alemán und Bolaños verschiedene politische Ämter innehatte.
Aufgrund der erneuten Kandidatur des „Verlierers“ (er verlor bereits die drei vorangegangen Präsidentschaftswahlen) und ewigen Generalsekretärs der Partei FSLN, Ortega, spaltete sich eine „reformistische“ Fraktion unter dem ehemaligen Bürgermeister von Managua, Herty Lewites, ab. Diese Reformbewegung sieht in der Figur Ortegas vor allem die Gefahr, daß die politische Option der „Linken“ bei den anstehenden Wahlen eine Niederlage erleidet und will einen erneuten Erfolg der Liberalen verhindern.
Die zu beobachtende Polarisierung ist jedoch keineswegs ideologischer Natur. Im Mittelpunkt steht eher die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Vernachlässigung der sozialpolitischen Flanke durch die drei vergangenen Regierungen. In einer ähnlichen Situation zu Beginn der 90er Jahre verloren die Sandinisten die Regierungsgewalt und könnten sie aus den gleichen Gründen bei den nächsten Wahlen zurückgewinnen. Hinzukommt, daß es vor allem die Sandinisten bislang darauf anlegten, u.a. durch Streiks, studentische Gewalt, Landbesetzungen und Protestmärschen die soziale Unzufriedenheit zu schüren und sich als „sozialer Ordnungsfaktor“ zu empfehlen.
Ein weiterer wahlrelevanter Faktor ist das Verwischen des Gegensatzes von sandinistischer Vergangenheit und demokratischer Zukunft. Die Zunahme des Anteils jugendlicher Wähler (in Nikaragua kann man ab 16 Jahren wählen), die über keine persönliche Erfahrung mit dem Sandinismus verfügen, der Einfluß katholischer Würdenträger, die ihre neutrale politische Haltung gegenüber dem Sandinismus aufgeben, demokratische Allierte, wie auch die Modernisierung wirtschaftlicher Programmatik und der konziliantere politische Diskurs der FSLN tragen zu einer weitgehenden Akzeptanz der pluralistischen Polarisierung in der Bevölkerung bei.
Die politischen Optionen und ihre Perspektiven
Gesamtpolitisch zeichnen sich die anstehenden Wahlen durch verschiedene Optionen aus, die eine pluralistische Zusammensetzung des zukünftigen Parlaments und damit das mögliche Ende der Hegemonie der beiden Pakt-Parteien bedeuten. Ein weiteres Element zur Wiedererlangung der Regierungsfähigkeit und der Legitimierung der legislativen Gewalt stellt die Möglichkeit der Stimmenkreuzung zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen dar. Auf der anderen Seite ist allerdings festzustellen, daß keine der Erfolg versprechenden Wahloptionen Urwahlen für seine Kandidaten durchgeführt hat.
Alianza Partido Liberal Constitucionalista - PLC
Ihr gehören an PLC, Partido Unionista Centroamericano (PUCA), Partido Neo-Liberal (PALI), Partido Liberal Nacionalista (PLN), Camino Cristiano Nicaragüense (CCN) und Partido Indígena Multiétnico.
Die weiterhin von Ex-Präsident Alemán beherrschte PLC bestimmte mit José Rizo als Präsidentschaftskandidat und José Antonio Alvarado als Vizepräsidentschaftskandidat für diese Allianz ein Gespann, das vor allem die Glaubwürdigkeit der Partei stärken und die Tür zur internationalen Gemeinschaft – besonders zu den USA – öffnen soll. José Rizo war Vizepräsident unter Präsident Bolaños und José António Alvarado verfügt über gute Beziehungen in die USA, wo er mehrere Jahre als erfolgreicher Unternehmer arbeitete. Allerdings schwebt über beiden der Schatten von Arnoldo Alemán.
Das Kandidatenduo konnte sich bei der Zusammenstellung der Listen für die Parlamentswahlen nicht gegen Alemán mit eigenenen Vorschlägen durchsetzen. Politische Beobachter gehen davon aus, daß sowohl José Rizo als auch José Antonio Alvarado ihre Kandidatur mit Blick auf die Auseinandersetzung um die Führung der PLC nach den Wahlen akzeptiert haben. Für den weiterhin unter Korruptionsverdacht stehenden Alemán stellen allerdings die zukünftigen Abgeordneten als Faustpfand für politische Verhandlungen eine Art politische Lebensversicherung dar und wurden von ihm „handverlesen“.
Die Wahl-Chancen der PLC sind durch das Image ihrer Führungsfigur Alemán, Verlust von Einfluß in ihren ehemaligen ländlichen Bastionen und den Entzug der internationalen Unterstützung im liberalen Lager entscheidend gesunken.
Alianza Liberal Nicaragüense – ALN
Diese Allianz besteht aus der ALC, Partido Conservador (PC), Partido Liberal Independiente (PLI), Partido Resistencia Nicaragüense (PRN), Alianza por la República (APRE), Partido Movimiento de Unidad Cristiana (PAMUC) sowie Partido Social Cristiano (PSC).
Bei den Wahlen wird diese Allianz mit der Konservativen Partei durch Eduardo Montealegre als Präsidentschaftskandidat und Fabricio Cajina als Vize repräsentiert. Der Wählerzuspruch basiert im Wesentlichen auf dem Image von Eduardo Montealegre als erfolgreichem Unternehmer und einer optimistischen Erwartungshaltung bezüglich einer erfolgreichen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Seine Alliierten u.a. aus dem Unternehmerlager vermitteln in der Bevölkerung den Eindruck von Stärke und Einfluß.
Die Allianz verfügt über die aktive Unterstützung der internationalen Gebergemeinschaft mit den USA an der Spitze. Die ALN profiliert sich als Empfänger der anti-sandinistischen Stimmen, aber auch der Anti-PLC-Stimmen und somit als Gegenpol des politischen Paktes. Auch Herty Lewites bleibt Montealegres politischer Gegner, mit dem er um die Stimmen konkurriert, er braucht ihn aber im zukünftigen Parlament.
Unter strategischen Gesichtspunkten wählte er seinen Vize-Präsidentschaftskandidaten aus, der als erfolgreicher Agrarunternehmer vor allem große Anerkennung im ländlichen Bereich findet.
Überschattet werden die Wahlchancen von traditionellen Führungspraktiken, die sich u.a. in der Zusammenstellung der Kandidatenlisten für die Parlamentswahlen zeigen, bei denen er die groß angekündigten Urwahlen einfach vom Tisch wischte.
Alianza Frente Sandinista de Liberación Nacional – FSLN
Diese Allianz besteht aus der FSLN, der indianischen Regionalpartei YATAMA, Movimiento de Unidad Cristiana (MUC) sowie der Unión Demócrata Cristiana (UDC).
Der “ewige” Kandidat Daniel Ortega und sein Vize, der Unternehmer Jaime Morales Carazo, stützen sich im Wesentlichen auf die monolithisch und gut organisierte Partei. Eine konziliante und nicht-konfrontative Politik – außer gegenüber den USA – sowie eine intelligente Bündnisstrategie zur Einbeziehung ehemaliger politischer Gegner geben ihm das Image eines Konsenspolitikers und halfen, seinen Einfluß auszubauen. Allerdings führte die vertikale interne Parteiführung zum Austritt wichtiger intellektueller Leistungsträger des Sandinismus.
Seine Wahlchancen erhöhen sich weiterhin durch die – auch materielle – Unterstützung der sandinistischen Bürgermeister. Bei den Kommunalwahlen 2005 konnte die FSLN sämtliche wichtige Städte erobern und stellt mehr als die Hälfte der kommunalen Mandatsträger.
Der „Chávez-Effekt“ durch die bisherige Wahlkampfunterstützung (u.a. Bereitstellung von drei Hubschraubern), aber auch durch die Lieferung von landwirtschaftlichen Düngemitteln und subventioniertem Erdöl sowie die Hilfe für medizinische Kampagnen und bei der Alfabetisierung seitens der venezolanischen Regierung und Präsident Chávez bedeuten eine stimmenrelevante Direkthilfe im sozialpolitischen Bereich, ohne daß konkrete Politikvorschläge gemacht werden müssen, die eine zukünftige sandinistische Regierung binden würden.
Die Wahlkampagne weist ein hohes Maß an Kohärenz und Struktur auf. Dagegen sprechen die negative historische Rolle Ortegas und die verbale Konfrontation mit den USA, die viele Bürger erschreckt. Auch könnte sich der „Chávez-Effekt“ als Bumerang erweisen.
Alianza Partido Movimiento Renovador Sandinista - MRS
Ihr gehören neben dem MRS noch die Partido Acción Ciudadana (PAC) an.
Ausgangspunkt des Präsidentschaftskandidaten Herty Lewites war sein frustrierter Anspruch, Daniel Ortega als Vize-Präsidentschaftskandidat zu begleiten. Die anschließende Abspaltung fand ein großes Echo in den Medien und man spekulierte über eine tiefe Spaltung innerhalb des Sandinismus.
Zunächst konnte er zu einem verfrühten Zeitpunkt einen hohen Anteil der Wählersympathien auf sich vereinigen, was seine ehemaligen Genossen in Alarmzustand versetzte.
Er definiert sich selbst als die politische Option der neuen demokratischen Linken Nikaraguas und vereinigt hinter sich die sandinistische Intellektualität sowie eine Reihe hochrangiger Partei-Kader aus den 8oer Jahren, darunter viele Mitglieder der nationalen Parteiführung.
Die Finanzmittel seiner Bewegung sind sehr beschränkt und es fehlt eine Organisationsstruktur. Ein negativer Wahlkampf versucht anderen Gruppierungen Stimmen abzujagen, ohne jedoch sicherzustellen, daß sie ihm selbst zugute kommen. Innerhalb des Sandinismus profiliert sich die MRS als eine Sieger-Option gegenüber der vermutlichen Verlierer-Option Daniel Ortega. Vorstellbar ist eine Aufteilung der sandinistischen Stimmen auf den Präsidentschaftskandidaten Ortega und die Abgeordnetenliste von Lewites. Herty Lewites verfügt noch immer über große Sympathien im Bereich der unentschiedenen Wähler, in dem er mit Eduardo Montealegre konkurriert, dem er sogar liberale Stimmen abjagen kann.
Die MRS hat sich gespalten und es entstand eine fünfte Option (Alianza para el Cambio – APC) mit dem legendären Guerrillaführer Eden Pastora als Präsidentschaftskandidat an der Spitze, dem allerdings keine reellen Chancen eingeräumt werden. Die APC versucht, dem Wählerpotential von Herty Lewites Stimmen zu entziehen.
Entscheidung durch Stichwahl?
Die Bewertung der bisherigen Analyse läßt für die Kandidaten Herty Lewites, Eduardo Montealegre und Daniel Ortega bei den Präsidentschaftswahlen ein Wahlergebnis erwarten, das jeweils über 20 % liegen wird, wobei die bisherigen Wahl-Projektionen den beiden Letztgenannten die höchsten Stimmenanteile zubilligen. Trotzdem wird es aller Voraussicht nach nicht für eine Wahl im ersten Wahlgang reichen.
Ein zweiter Wahlgang (Stichwahl) ist verfassungsmäßig vorgesehen, wenn keiner der Kandidaten 40 % der gültigen Stimmen erreicht oder wenn einer der Kandidaten zwischen 35 und 40 % erreicht, aber keine 5 %-ige Mehrheit gegenüber dem Zweitplatzierten (sogenannte Ortega-Klausel).
Ein solches Panorama läßt die FSLN als voraussichtlichen Verlierer einer Stichwahl ohne Erfolg versprechende politische Option. Es besteht die Gefahr, daß sie somit alle Karten auf den ersten Wahlgang setzt und eine Strategie der sozialen Unruhen intensivert, um sich den Wählern als stabilisierender Ordnungsfaktor zu präsentieren.