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Wege aus der Pflegekrise

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Neben der Finanzierung ist die Personalnot eines der größten Probleme der Pflegebranche. Es wird immer schwieriger, neue Fachkräfte für Pflegeberufe zu gewinnen. Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, könnten laut Pflegereport der Bertelsmann Stiftung im Pflegesektor 2030 fast 500.000 Vollzeitkräfte fehlen. Gleichzeitig wird, bedingt durch den demografischen Wandel, der Anteil multimorbider und chronisch kranker Menschen steigen. Pflegebedürftigkeit ist überwiegend erst bei Menschen über sechzig Jahren gegeben; rund 82 Prozent der über 90-Jährigen sind pflegebedürftig, in der Gruppe der 70- bis 74-Jährigen sind es rund neun Prozent.1 Der Anteil der pflegebedürftigen Menschen wird laut Prognosen bis 2040 von derzeit rund fünf Millionen auf mehr als sechs Millionen ansteigen.2 Von den zurzeit knapp fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden rund vier Millionen zu Hause gepflegt.3

Der Pflegeberuf wird von Frauen dominiert; vier von fünf Pflegekräften sind weiblich. Zwei Drittel der Beschäftigten sind in der Krankenpflege, ein Drittel ist in der ambulanten und stationären Altenpflege tätig. Die Teilzeitquote ist insgesamt hoch und liegt bei knapp fünfzig Prozent; mit 29 Prozent ist sie auch bei männlichen Pflegekräften höher als in anderen Branchen (zwölf Prozent).4 Die hohe Teilzeitquote führt zum einen dazu, dass mehr Arbeitskräfte benötigt werden, lässt zum anderen aber auch vermuten, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege eine Teilzeitbeschäftigung erstrebenswert machen. Wenig Flexibilität, wie geringe bis gar keine Möglichkeit zur mobilen Arbeit und regelhafte Arbeit im Schichtdienst, ist meist charakteristisch für die Tätigkeit in einem Pflegeberuf.

 

Unattraktives Berufsbild, hohe Abbruchquote

 

Das Berufsbild der Pflege stellt ebenso körperlich wie psychisch hohe Anforderungen an die Pflegekräfte. Diese Feststellungen korrelieren mit einem hohen Krankenstand und einem hohen Anteil an Frühverrentungen. Laut einer Studie zum Fachkräftemangel im Gesundheitswesen aus dem Jahr 2022, die Pflegekräfte und Ärzte in leitender Position befragte, ist die Bereitschaft zum Berufswechsel im Gesundheitswesen besonders ausgeprägt: Nur knapp jeder Dritte der Befragten kann sich vorstellen, bis zum Renteneintritt im Beruf zu bleiben.5

Die Systemrelevanz der Pflege ist in der Öffentlichkeit spätestens seit der COVID-19-Pandemie deutlich geworden; dennoch hat der Pflegeberuf weiterhin ein eher schlechtes Image. Eine Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung von 2021 zeigt, dass die Bevölkerung den Beruf als körperlich und emotional belastend sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als gering bewertet. Gleichzeitig ist das Ansehen in der Bevölkerung im Vergleich zu anderen Fachkräfteberufen besonders hoch.6

Die Tariftreueregelung, die noch auf die ehemalige Bundesregierung zurückgeht, schreibt seit September 2022 vor, dass in Pflegeheimen und ambulanten Pflegeeinrichtungen die Vergütung der Pflegekräfte nach Tarif erfolgen muss. Die Höhe der Entlohnung ist ein Faktor, der die Attraktivität eines Arbeitsplatzes ausmacht, allerdings nicht allein zu einem attraktiven Berufsbild führt.

Die Abbruchquote in den Pflegeberufen ist hoch: Bundesweit liegt sie zwischen zwanzig und dreißig Prozent. Im Durchschnitt beträgt die Abbruchquote in anderen dualen Ausbildungsberufen 26 Prozent, bei den Verwaltungsfachangestellten liegt sie bei lediglich 4,1 Prozent. Ließe sich der Anteil der Ausbildungsabbrecher signifikant reduzieren, böte dies ein erhebliches Fachkräftepotenzial. Rechnet man mit einer Reduzierung auf zehn Prozent, ließen sich jährlich mehr als 7.000 Pflegefachkräfte gewinnen.7

 

Aufwertung Pflegerischer Tätigkeit

 

Das Berufsbild wird sich wandeln, die Unterstützung durch Künstliche Intelligenz und Robotik wird dazu führen, dass der Mangel an Personal für die zu Pflegenden weniger spürbar ist und für die Beschäftigten zu einer Entlastung führt. Dennoch werden Roboter die Pflegekräfte nicht ersetzen, sondern eher Routinetätigkeiten wie etwa die kontaktlose Messung von Puls und Körpertemperatur inklusive eines Eintrags in die Patientenakte übernehmen können. Aktuell ist die Robotik noch sehr kostenintensiv, sodass ihr Einsatz nur spärlich erfolgt.8

Die Entbürokratisierung durch einen höheren Digitalisierungsgrad und damit mehr reale Patientenzeit ist ein erstrebenswertes Ziel in der Pflege. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn nicht nur einzelne Prozesse digitalisiert werden, sondern es eine Gesamtstrategie zu Digitalisierung gibt.

Eine Aufwertung der pflegerischen Tätigkeit mit einem höheren Akademisierungsgrad könnte ebenfalls dazu beitragen, dass sich mehr Menschen für diesen Beruf begeistern und ihm dauerhaft erhalten bleiben. Der Wissenschaftsrat hatte bereits 2012 eine Akademisierungsrate von zehn bis zwölf Prozent empfohlen. Laut einer Studie von 2022 liegt diese Rate in Deutschland jedoch noch immer unter zwei Prozent und ist damit auch im internationalen Vergleich sehr niedrig. Länder wie Schweden, die Niederlande, Großbritannien und Kanada, die sich ebenfalls dem Problem eines Mangels an Pflegefachkräften stellen müssen, setzen auf eine höhere Akademisierungsquote: Der Akademisierungsanteil liegt zwischen 45 Prozent in den Niederlanden und bis zu 100 Prozent in Großbritannien und Schweden. Einher geht dies mit einer Erweiterung der pflegerischen Aufgaben- und Verantwortungsbereiche.9 Es bedürfte dabei auch in Deutschland einer neuen Rollenverteilung zwischen Ärzten und Pflegefachkräften. Mitzudenken sind in diesem Bereich auch Vergütungs- und Haftungsfragen. Die Erweiterung der pflegerischen Aufgaben- und Verantwortungsbereiche könnte auch eine Chance für den ländlichen Raum sein, die medizinische Versorgung trotz Ärztemangel zu sichern.

Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte ist sinnvoll, allerdings sollte noch gezielter in Sprachprogramme investiert werden, um die Integration ausländischer Kräfte zu fördern. Arbeitgeber, die gezielt in Weiterbildung investieren, könnten damit gegenüber Wettbewerbern an Attraktivität gewinnen. Die Sprachbarriere ist eines der größten Hemmnisse bei der Anwerbung und Integration ausländischer Fachkräfte.10

Im Bereich der ambulanten Pflege können regionale Zusammenschlüsse und mehr ehrenamtliches Engagement ein Lösungsansatz sein, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Ein Beispiel ist eine gemeinnützige Pflegegenossenschaft im Raum Emden, die sich zum Ziel gesetzt hat, pflegebedürftige Menschen und Pflegekräfte zusammenzubringen und mit einem hohen Grad an Selbstbestimmtheit die Erbringung pflegerischer und medizinischer Dienstleistungen sowie weitere Unterstützungsangebote auch im Wege der Nachbarschaftshilfe zu organisieren.11

Die Anziehungskraft, geprägt durch attraktive Arbeitsbedingungen und das Ansehen des Berufs in der Gesellschaft, wird maßgeblich sein, um Fachkräfte zu gewinnen und in der Pflegebranche zu halten. Die Forschung zur Berufswahl zeigt, dass Jugendliche bei der Wahl ihres Berufs auch ein Augenmerk darauf richten, ob dieser zur Stärkung ihrer sozialen Identität beiträgt und mit gesellschaftlichem Ansehen verbunden ist.12

Darüber hinaus könnte ein verpflichtendes soziales Gesellschaftsjahr auch in der Pflegebranche zu einer Entlastung der Fachkräfte führen. Mehr noch: Es könnte ein Vehikel sein, um mehr Fachkräfte für diesen Beruf zu gewinnen – immer vorausgesetzt, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern.

 

Christina Thelen, geboren 1981 in Hannover, Referentin Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

1 Destatis: Pflegequote in Deutschland nach Altersgruppen und Geschlecht im Jahr 2021, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/187686/umfrage/pflegequote-in-deutschland/ [letzter Zugriff: 30.03.2023].
2 Lewe Bahnsen: „Womit in der Zukunft zu rechnen ist: Eine Projektion der Zahl der Pflegebedürftigen“, in: WIP-Kurzanalyse, Wissenschaftliches Institut der PKV, Köln 2022.
3 Destatis / Statistisches Bundesamt: www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/_inhalt.html [letzter Zugriff: 30.03.2023].
4 Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt – Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich, Nürnberg 2022.
5 PricewaterhouseCoopers (PwC): „Fachkräftemangel im Gesundheitswesen: Wenn die Pflege selbst zum Pflegefall wird“, Frankfurt am Main 2022.
6 Anja Hall / Daniela Rohrbach-Schmidt / Timo Schnep / Christian Ebner: Ansehen und Beschäftigungsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege. Stimmen die Berufsbilder in der Bevölkerung mit der Realität überein?, Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn 2021.
7 Jennie Auffenberg: Fachkräftemangel in der Pflege? Große Potenziale wollen gehoben werden, www.arbeitnehmerkammer.de/fileadmin/user_upload/Lagebericht_-_Einzelartikel/2021/Bericht_zur_Lage_2021_Auffenberg_Fachkr%C3%A4ftemangel_in_der_Pflege.pdf [letzter Zugriff: 30.03.2023]
8 Christina Berndt: „Betreut vom Roboter?“, in: Süddeutsche Zeitung, 11.02.2023.
9 Pinal-Studie: „Pflege in anderen Ländern – vom Ausland lernen?“, Pressemitteilung, 29.01.2019, www.stiftung-muench.org/pinal-studie-pflege-in-anderen-laendern-vom-ausland-lernen/ [letzter Zugriff: 30.03.2023].
10 PwC, a. a. O., siehe En. 5.
11 Lena Böllinger: „Wenn das System versagt“, in: Süddeutsche Zeitung, 02.12.2022.
12 Stephanie Matthes: Warum werden Berufe nicht gewählt? Die Relevanz von Attraktions- und Aversionsfaktoren in der Berufsfindung. Berichte zur beruflichen Bildung, Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Bonn 2019.

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